Urteil des LSG Bayern vom 21.12.2010

LSG Bayern: planwidrige unvollständigkeit, rechtskraft, erwerbsfähigkeit, vertretung, hauptsache, bedürfnis, rechtsschutz, rechtssicherheit, wiederholung, anpassung

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 21.12.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 55 SO 313/09 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 8 SO 249/10 B ER
I. Der gegen den Beschluss des Bayer. Landessozialgerichts vom 18. November 2009 (L 8 SO 164/09 B ER)
gerichtete Antrag auf Abänderung wird zurückgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Der
Antrag, dem Antragsteller Prozesskostenhilfe zur Durchführung des Antragsverfahrens zu gewähren, wird abgelehnt.
Gründe:
I. Im Beschwerdeverfahren L 8 SO 164/09 B ER ging es um die Frage, ob der Antragsgegner (Ag.) im Wege der
einstweiligen Anordnung zu verpflichten war, dem Antragsteller (Ast.) Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch - SGB - XII zu gewähren. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG)
gab der Beschwerde des Ast. und Beschwerdeführers statt und verpflichtet den Ag. mit Beschluss vom 18.11.2009,
für den Zeitraum ab dem 01.12.2009 bis 28.02.2010 Leistungen der Grundsicherung nach § 41 SGB XII in Höhe der
Leistungen des Bescheides der Arbeitslosenintegration Mühldorf a. Inn vom 13.05.2009 zu gewähren. Mit zahlreichen
Anträgen (Anhörungsrügen und Wiederaufnahmeklagen, L 8 SO 213/09 B ER RG, L 8 SO 23/10 B ER WA, L 8 SO
92/10 B ER RG, L 8 SO 124/10 B ER WA, L 8 SO 92/10 B ER RG) begehrte der Ast beim LSG eine Änderung des
Beschlusses vom 18.11.2009. Alle Anträge wurden abgelehnt. Beginnend mit Schreiben vom 06.10.2010 wandte sich
der Ast. erneut gegen den Beschluss vom 18.11.2009 und konkretisierte sein Vorbringen nach zahlreichen
unleserlichen Schriftsätzen zuletzt mit beim LSG am 13.12.2010 eingegangenen Schriftsatz dahingehend, dass er
eine Abänderung des Eilbeschlusses unter Berücksichtigung eines (nicht vorgelegten) Gutachtens vom 26.10.2010,
das im Rahmen eines Rentenverfahrens (S 12 R 979/06) eingeholt worden war, begehrt mit dem Ziel höherer
Leistungen für einen nicht näher konkretisierten Zeitraum. In diesem Gutachten sei ihm ein Reha-Bedarf sowie
Erwerbsfähigkeit bescheinigt worden. II. Das LSG ist als Gericht der Hauptsache (L 8 SO 259/10) zur Entscheidung
über den statthaften Abänderungsantrag zuständig. Denn das Abänderungsverfahren ist ein selbständiges
Eilverfahren und keine bloße Fortsetzung des Anordnungsverfahrens. Das Abänderungsverfahren ist statthaft, da das
Eilverfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen ist. Der Antrag ist nicht an eine Frist gebunden (Keller in Meyer-
Ladewig u.a., SGG, 9. Aufl., § 86b Rdnr. 20a). Der Antrag auf Abänderung der in der Beschwerdeinstanz
zusprechenden einstweiligen Anordnung ist grundsätzlich zulässig. Eine derartige Abänderungsmöglichkeit von
Eilentscheidungen ist im SGG ausdrücklich zwar nur in § 86b Abs. 1 Satz 4 SGG für Anfechtungssachen
vorgesehen; in § 86b Abs. 2 SGG, der den einstweiligen Rechtsschutz in Vornahmesachen regelt und insoweit § 123
Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 und 5 der Verwaltungsgerichtsordnung nachgebildet ist (vgl. auch BT-Drucks. 14/5943
S. 25 ), fehlt dagegen eine entsprechende Bestimmung. Dennoch besteht in Rechtsprechung und Schrifttum
weitgehend Einigkeit darüber, dass auch bei zusprechenden einstweiligen Anordnungen, die der formellen und
materiellen Rechtskraft fähig sind (vgl. hierzu LSG Baden-Württemberg vom 08.09.2010 - L 7 SO 3038/10 ER-B -),
dem im Einzelfall bestehenden Bedürfnis nach Aufhebung oder Abänderung aus Gründen der Effektivität des
Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes) Rechnung zu tragen ist (vgl. Bundesverfassungsgericht
BVerfGE 92, 245, 260; Landessozialgericht Berlin, Beschlüsse vom 10.07.2002 - L 15 B 39/02 KR ER - NZS 202, 670
und vom 26.10.2004 - L 15 B 88/04 KR ER -; Bay.LSG, Beschluss vom 16.07.2009 - L 8 SO 85/09 B ER - ; Keller in
Meyer-Ladewig u.a., SGG, 9. Aufl., § 86b Rdnr. 45). Die mit dem Fehlen eines Abänderungsverfahrens im Bereich der
einstweiligen Anordnung bestehende planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes ist über eine analoge Anwendung
des § 86 b Abs. 1 Satz 4 SGG zu lösen (vgl. Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. Auflage, Rdnr. 335).
Zweck des Abänderungsverfahrens ist es, dem Gericht die Möglichkeit zu geben, Veränderungen, die nach Eintritt der
Rechtskraft der Eilentscheidung und vor rechtskräftigem Abschluss des Hauptsacheverfahrens eintreten, Rechnung
zu tragen (Krodel, BeckOK SGG § 86 Rdnr. 147.2, LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 11.10.2010, L 7 SO
3392/10). Im Rahmen des Abänderungsverfahrens kann indessen die Rechtskraft der zuvor ergangenen Entscheidung
nach Auffassung des Senats nicht völlig außer Acht gelassen werden. Eine Abänderung nach § 86b Abs. 1 Satz 4
SGG ist deshalb, obgleich sie möglich ist, nicht völlig in das Belieben des Gerichts gestellt. Eine
Abänderungsbefugnis entsprechend § 86b Abs. 1 Satz 4 SGG ist sonach zu bejahen, wenn nachträglich eingetretene
oder bekannt gewordene Gegebenheiten den Fall in tatsächlicher Hinsicht in einem neuen Licht erscheinen lassen
oder eine Gesetzesänderung oder eine zwischenzeitlich ergangene höchstrichterliche Entscheidung zu einer
veränderten Beurteilung der Rechtlage führt (vgl. Bundesfinanzhof , Beschlüsse vom 26.09.2008 - VIII B 37/08 - und
vom 28.11.2008 - VIII S 27/07 (PKH) - ; ferner Krodel, a.a.O, Rdnr. 185). Darüber hinaus kann die Korrektur einer
Eilentscheidung entsprechend § 86b Abs. 1 Satz 4 SGG aber auch schon dann erfolgen, wenn auf der Grundlage
besserer Rechtserkenntnis und der darauf folgenden neuen Prozesslage für die Anpassung an die Entwicklung in der
Hauptsache ein Bedürfnis besteht (vgl. BVerwG Buchholz 310 § 80 VwGO Nr. 45; BVerwGE 80, 16, 18; ferner
BVerfG, Kammerbeschluss vom 19.04.1994 - 1 BvR 87/94 - ; BFH, Beschluss vom 15.09.2010 - I B 27/10 - ). Ein
bloßer Wandel in der Meinungsbildung - etwa infolge eines Wechsels in der Besetzung des Spruchkörpers oder in der
Zuständigkeit des Gerichts - rechtfertigt für sich allein jedoch noch nicht eine Änderung der bisher getroffenen
Entscheidung (vgl. BVerwG Buchholz 310 § 80 VwGO Nr. 45; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04.02.1999
a.a.O.; ferner Adolf in Hennig, a.a.O., Rdnr. 58; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, a.a.O., Rdnr. 1179); dem stünden
schon die mit der Rechtskraft einer Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz verbundenen Gesichtspunkte der
Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens sowie der Grundsatz der Selbstbindung des Gerichts (§ 202 SGG i.V.m. §
318 ZPO) entgegen. Die Voraussetzungen für die Abänderung einer einstweiligen Anordnung sind deshalb nur bei ihrer
Korrekturbedürftigkeit entsprechend den oben genannten Maßstäben gegeben; zu denken ist etwa an schwere
Tatsachen- und Rechtsirrtümer des Gerichts oder ihm unterlaufene schwere Verfahrensfehler (vgl. auch
Finkelnburg/Dombert/ Külpmann, a.a.O.). Erschöpft sich ein Abänderungsantrag dagegen im Wesentlichen in der
Wiederholung früheren Vorbringens, so steht einem derartigen Antrag regelmäßig die Rechtskraft der früheren
Entscheidung entgegen (BVerwG Buchholz a.a.O.). Unter Beachtung dieser Grundsätze sind die Voraussetzungen für
die Abänderung des Beschlusses des LSG vom 18.11.2009 (L 8 SO 164/09 B ER) unter analoger Anwendung des §
86 b Abs. 1 Satz 4 SGG nicht erfüllt. Vorliegend trägt der Ast. zur Begründung seines Abänderungsantrages vor, er
sei - bestätigt durch das Gutachten vom 26.10.2010 -, entgegen den Ausführungen im amtsärztlichen Gutachten vom
02.04.2009, als erwerbsfähig einzustufen. Dieser Vortrag ist nicht geeignet, einen Abänderungsantrag auf höhere
Leistungen zu begründen. Unabhängig davon, ob ein rentenrechtliches Gutachten zur Erwerbsfähigkeit des Ast. ab
dem Jahr 1995 für den hier maßgeblichen Zeitraum ab 01.11.2009 überhaupt eine Änderung der Sach- und Rechtslage
darstellen kann, hätte eine Feststellung der Erwerbsfähigkeit des Ast für die Zeit ab 01.11.2009 zur Folge, dass der
Ag. nicht mehr für eine Leistungsgewährung nach dem SGB XII zuständig wäre. Der Ast wäre dann als erwerbsfähig
einzustufen und auf die Zuständigkeit der AIM nach dem SGB II zu verweisen. Daher kann der Ast - selbst unter
Berücksichtigung des rentenrechtlichen Gutachtens vom 26.10.2010 - das von ihm begehrte Ziel, vom Ag. höhere
Leistungen zu erlangen, unter keinem denkbaren Gesichtspunkt erreichen. Für einen gleichwohl gestellten
Abänderungsantrag auf höhere Leistungen fehlt dem Ast daher bereits ein Rechtsschutzbedürfnis.
III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war abzulehnen.
Nach § 73a Abs. 1 SGG i.V.m. § 114 ZPO erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag
Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht
mutwillig erscheint. Ist eine Vertretung durch Anwälte nicht vorgeschrieben, wird der Partei auf ihren Antrag ein zur
Vertretung bereiter Rechtsanwalt seiner Wahl beigeordnet, wenn die Vertretung erforderlich erscheint oder der Gegner
durch einen Rechtsanwalt vertreten ist (§ 121 Abs. 2 Satz 1 ZPO).
Zur Beurteilung der Erfolgsaussichten kommt es auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag an (vgl.
Leitherer in: Meyer-Ladewig, Komm. zum SGG, 9. Aufl. 2008, Rn. 7d zu § 73 a). Hinreichende Erfolgsaussichten
lagen zu diesem Zeitpunkt bei der gebotenen summarischen Prüfung nicht vor. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung
bietet vorliegend - wie unter II. ausgeführt - keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. IV. Die Kostentscheidung beruht
auf § 193 SGG analog und trägt dem Umstand Rechnung, dass der Eilantrag in beiden Instanzen erfolglos blieb.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.