Urteil des LSG Bayern vom 23.02.2010
LSG Bayern: stationäre behandlung, befangenheit, ablauf der frist, diagnose, voreingenommenheit, sorgfalt, zivilprozessordnung, zustellung, kritik, form
Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 23.02.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Würzburg S 3 KR 340/07
Bayerisches Landessozialgericht L 2 KR 201/09 B
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 17.04.2009 wird zurückgewiesen. II. Die
Beschwerdeführerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gründe:
I. Im Verfahren vor dem Sozialgericht Würzburg zum Aktenzeichen S 3 KR 340/07 verlangt die Beschwerdeführerin,
eine Psychosomatische Klinik, von der beklagten Krankenkasse 1.945,30 EUR für die der Versicherten der Beklagten
erbrachte stationäre Krankenhausbehandlung in der Zeit vom 27.01.2005 bis 12.02.2005. Die Beklagte verweigerte die
Bezahlung mit der Begründung, ambulante Maßnahmen hätten ausgereicht. Die von der behandelnden Allgemeinärztin
verordnete Krankenhausbehandlung nach akuter psychischer Dekompensation sei nicht notwendig gewesen. Die
Beklagte berief sich auf Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Hessen vom 04.02.2005,
19.05.2005 und 16.01.2006. Danach habe die Versicherte mehrfach nach stationären Behandlungen anschließend
ambulante Maßnahmen verweigert. Neuerliche stationäre Behandlungen seien nicht erfolgversprechend.
Demgegenüber vertrat die Beschwerdeführerin die Auffassung, bei ihr habe eine schwere depressive Episode
bestanden, die eine stationäre Behandlung notwendig gemacht habe. Mit Beweisanordnung vom 15.10.2008
beauftragte das Sozialgericht die Neurologin und Psychiaterin Dr. S. mit der Erstattung eines Gutachtens zur Frage,
welche Erkrankung bei der Versicherten vorgelegen habe und ob diese Gesundheitsstörungen der vollstationären
Behandlung bedurft hätten oder ob ambulante oder stationäre Rehabilitationsmaßnahmen ausgereicht hätten. Im
Gutachten vom 27.10.2008 führte die Sachverständige aus, bei der Versicherten habe keine schwere depressive
Episode sondern eine Dysthymie vorgelegen, die keiner stationären Behandlung bedurft hätte. Das Gutachten wurde
den Beteiligten am 03.11.2008 zur Kenntnis gegeben. Im Schriftsatz vom 12.02.2009 ließ die Klägerin vortragen, dass
keine schwere depressive Episode sondern nur eine Dysthymie vorgelegen habe, sei nicht nachvollziehbar. Die von
der Sachverständigen angeführten Gegenargumente seien schlicht falsch. Dabei wurde Dr. S. durchgehend als der
Sachverständige bezeichnet. Das Sozialgericht bat die Sachverständige um ergänzende Stellungnahme zum
Vorbringen der Beschwerdeführerin. Dr. S. setzte sich in einer Stellungnahme vom 13.03.2009 mit den Argumenten
der Beschwerdeführerin auseinander. Sie rügte, dass sie von der Beschwerdeführerin stets in der männlichen Form,
nämlich als Sachverständiger bezeichnet worden war. Sie hielt diese und andere Zitate aus ihrem Gutachten als
Ausdruck mangelnder Sorgfalt. Sie verwahrte sich gegen die Behauptung der Beschwerdeführerin, sie habe objektiv
falsche Aussagen bezüglich der Vorgeschichte und Aufnahmeanamnese der Versicherten gemacht. Vielmehr habe
sie die Aktenlage korrekt wiedergegeben. Darüber hinaus äußerte sie, es wäre wünschenswert, dass sich der
Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin trotz der schwierigen und für ihn natürlich fachfremden Materie mit ihren
Ausführungen zu den affektiven Psychosen beschäftigt hätte, statt diese polemisch als Ausführungen zur
Behandlung von affektiven Psychosen in der Antike abzutun. Im Übrigen legte sie dar, aus welchen Gründen sie an
der Diagnose der Dysthymie festhalten müsse. Die ergänzende Stellungnahme gab das Sozialgericht der
Beschwerdeführerin am 19.03.2009 zur Kenntnis, ohne eine Frist zur Stellungnahme gesetzt zu haben. Im Schreiben
vom 14.04.2009, beim Sozialgericht am 16.04.2009 eingegangen, beantragte die Beschwerdeführerin ihrem Gesuch,
die Sachverständige Dr. S. wegen Befangenheit abzulehnen, stattzugeben. Ganz offensichtlich habe sich die
Sachverständige durch den klägerischen Schriftsatz vom 12.02.2009 betroffen gefühlt. Es sei zwar richtig, dass die
Sachverständige stets mit der männlichen Form "der" Sachverständige bezeichnet worden sei. Dies sei aber nicht
Ausdruck mangelnder Sorgfalt mit der Auseinandersetzung des Gutachtens. Das Ergänzungsgutachten enthalte keine
sachverständig gutachtlichen Feststellungen, sondern offenbare, dass sich die Sachverständige in einer
Verteidigungshaltung gegenüber der Beschwerdeführerin befunden habe. Allein dies rechtfertige schon ihre Ablehnung
wegen der Besorgnis der Befangenheit. Wenn die Sachverständige behaupte, ihr Bevollmächtigter habe sich nicht mit
der notwendigen Sorgfalt mit dem Inhalt des Gutachtens auseinandergesetzt und es fehle ihm an medizinischem
Sachverstand, so versuche die Sachverständige bei Gericht den Eindruck zu erwecken, als lägen seine Ausführungen
neben der Sache. Im Übrigen sei die Beschwerdeführerin nach wie vor der Auffassung, es habe eine schwere
depressive Episode vorgelegen, die der stationären Behandlung bedurft hatte. Mit Beschluss vom 17.04.2009 wies
das Sozialgericht das Gesuch auf Ablehnung der Sachverständigen Dr. S. wegen Besorgnis der Befangenheit zurück.
Das Gesuch sei verspätet. Die zweiwöchige Frist des § 406 Abs. 2 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO), die ab Zugang
des Gutachtens zu laufen beginne, sei durch den Befangenheitsantrag vom 17.04.2009 nicht eingehalten worden. Im
Übrigen sei der Antrag auch unbegründet, weil die von der Sachverständigen gewählten Formulierungen keineswegs
beleidigend und/oder unsachlich und voreingenommen seien. Ihre Ausführungen, dass der Bevollmächtigte der
Beschwerdeführerin auf dem medizinischen Fachgebiet nicht über die erforderliche Fachkompetenz verfüge,
entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung und sei ebenfalls nicht geeignet, eine Voreingenommenheit zu
begründen. Der Beschluss wurde der Beschwerdeführerin am 23.04.2009 zugestellt. Dagegen legte sie mit Schriftsatz
vom 15.05.2009, eingegangen beim Bayer. Landessozialgericht am 18.05.2009, Beschwerde ein. Sie wiederholte im
Wesentlichen ihr Vorbringen aus dem Schriftsatz vom 14.04.2009. Das Ablehnungsgesuch sei darüber hinaus
fristgemäß angebracht worden. Die voreingenommene Haltung der Sachverständigen sei erst ihrem
Ergänzungsgutachten vom 13.03.2009 zu entnehmen gewesen. Eine Frist zur Stellungnahme sei der
Beschwerdeführerin nicht gesetzt worden. Es müsse in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
eine ausreichende Überlegungsfrist zugebilligt werden, die in der Regel einen Monat nach Zustellung des Gutachtens
betrage. Das Gesuch sei auch begründet. Entgegen der Meinung des Sozialgerichts drücke sich in der Stellungnahme
der Sachverständigen vom 13.03.2009 aus, dass sie sich in einer Verteidigungshaltung befunden habe, die allein ihre
Voreingenommenheit gegenüber der Beschwerdeführerin ausdrücke und ihre Ablehnung wegen Befangenheit
rechtfertige. Die Sachverständige sei es, die Tatsachen falsch zitiert habe, so dass die Beschwerdeführerin das
Recht gehabt habe, dies zu beanstanden. Alle von der Sachverständigen vorgebrachten Argumente seien nicht
geeignet, die Diagnose der schweren depressiven Episode und die damit verbundene Notwendigkeit einer stationären
Behandlung in Frage zu stellen. Das Sozialgericht verkenne, dass der Sachverständige schon dann abgelehnt werden
könne, wenn nur die Besorgnis der Befangenheit bestehe. Nicht erforderlich sei es, dass die objektive Befangenheit
des Sachverständigen tatsächlich nachgewiesen sein müsse. Die Beschwerdeführerin beantragt, den Beschluss des
Sozialgerichts Würzburg vom 17.04.2009 aufzuheben und dem Gesuch, die Sachverständige Dr. S. wegen Besorgnis
der Befangenheit abzulehnen, stattzugeben. Die Beklagte beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen. Zur Ergänzung
des Sachverhalts wird gemäß § 136 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf den Inhalt der beigezogenen Akten Bezug
genommen.
II. Die statthafte und zulässige Beschwerde (§§ 172, 173 SGG) ist unbegründet. Nach § 118 Abs. 1 SGG sind im
sozialgerichtlichen Verfahren über die Ablehnung eines Sachverständigen die Vorschriften der Zivilprozessordnung
(ZPO) anzuwenden. Nach §§ 406 Abs. 2 Satz 1, 411 Abs. 1 ZPO ist der Ablehnungsantrag bei dem Gericht oder
Richter, von dem der Sachverständige ernannt ist, zwei Wochen nach Verkündung oder Zustellung des Beschlusses
über die Ernennung zu stellen und zu einem späteren Zeitpunkt nach § 406 Abs. 2 Satz 2 ZPO nur dann, wenn der
Antragsteller nachweisen kann, dass er die Befangenheit ohne sein Verschulden erst zu einem späteren Zeitpunkt
geltend machen konnte. Dies ist in der Regel dann der Fall, wenn erst aus dem schriftlich abgefassten Gutachten der
Ablehnungsgrund ersichtlich wird. In diesem Fall endet die Frist für den Ablehnungsantrag mit dem Ablauf der Frist,
die das Gericht den Beteiligten zur Stellungnahme zum Gutachten eingeräumt hat. War keine ausdrückliche Frist zur
Stellungnahme gesetzt, so genügt es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Beschluss vom
15.03.2005 - VI ZB 74/04), wenn die Ablehnung innerhalb einer angemessenen Frist, in der Regel innerhalb eines
Monats, geltend gemacht wird. Aus der Beschwerdeschrift der Beschwerdeführerin wird deutlich, dass sie die
Befangenheit der Sachverständigen in deren ergänzender Stellungnahme vom 13.03.2009, ihr zur Kenntnis gegeben
am 19.03.2009, erblickt. Demnach war der am 17.04.2009 beim Sozialgericht eingegangene Ablehnungsantrag
rechtzeitig. Er ist jedoch nicht begründet, weil, wie vom Sozialgericht bereits ausgeführt, die Ausführungen der
Sachverständigen eine Reaktion auf den Schriftsatz der Beschwerdeführerin vom 12.02.2009 darstellen und an der
darin enthaltenen Wortwahl gemessen werden müssen. Handelt es sich bei Ausführungen eines Sachverständigen um
eine Reaktion auf Angriffe der Klägerseite (OLG München, Beschluss vom 20.02.2007 - 1 W 885/07) so müssen dem
Sachverständigen auch in gewissem Umfang emotionale Äußerungen zugestanden werden. Zur Begründung der
Beschwerde trägt die Beschwerdeführerin im Wesentlichen vor, die Formulierungen der Gutachterin zielten darauf ab,
dem Sozialgericht den Eindruck zu vermitteln, ihr ohne Fachwissen ausgestatteter Prozessbevollmächtigter habe sich
oberflächlich mit dem vorausgegangenen Gutachten vom 27.10.2008 auseinandergesetzt und unrichtig zitiert.
Entgegen ihren Beteuerungen habe Dr. S. die Auffassung vertreten, eine stationäre Behandlung komme grundsätzlich
bei der Diagnose Dysthymie nicht in Frage. Für den hier zu entscheidenden Streit, ob Befangenheit vorliegt, haben die
Äußerungen der Beschwerdeführerin nur insoweit Bedeutung, als zu prüfen ist, ob die Sachverständige sich in
verunglimpfender Weise gegenüber der Beschwerdeführerin geäußert hat bzw. äußern wollte. Es mag zwar zutreffen,
dass Dr. S. der Beschwerdeführerin entgegenhält, ihr Bevollmächtigter habe sie falsch zitiert. Der Senat kann darin
jedoch keine Voreingenommenheit zu Lasten der Beschwerdeführerin erblicken. Der Gutachterin muss in diesem
Zusammenhang das Recht zugestanden werden, ihre Ausführungen zu erläutern und Behauptungen der
Beschwerdeführerin entgegen zu treten. Wenn Dr. S. in diesem Zusammenhang dem Bevollmächtigten der
Beschwerdeführerin medizinische Sachkenntnisse abspricht und dessen Ausführungen als weder der medizinischen
Wissenschaft noch dem psychiatrischen Usus auch noch im Entferntesten gerecht werdend bezeichnet, so liegen
auch solche Äußerungen noch im Rahmen der Erwiderung auf Kritik. Dies gilt umso mehr als die kritische
Auseinandersetzung des Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin im Schriftsatz vom 12.02.2009 Ausführungen
enthält, die durchaus als polemisch aufgefasst werden können. Insoweit muss der Sachverständigen eine geringfügig
neben einer sachlichen Auseinandersetzung gelegene Kritik zugestanden werden. Insgesamt kommt der Senat zum
Ergebnis, dass der Vorwurf gegenüber Dr. S., sie habe bewusst den Eindruck bei Gericht erwecken wollen, als habe
sich der Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin nicht hinreichend mit ihrem Gutachten auseinandergesetzt und
verfüge - als Rechtsanwalt - nicht über notwendige medizinische Kenntnisse nicht die Besorgnis der Befangenheit
rechtfertigt. Soweit sich die Beschwerdeführerin in ihrem umfangreichen Vortrag mit der Frage ausein-andersetzt, ob
die von der Sachverständigen getroffene Diagnose einer Dysthymie zutreffend ist, wie die Erkrankung richtig zu
klassifizieren und zu behandeln ist, braucht sich der Senat im Rahmen der Beschwerde nicht auseinanderzusetzen.
Solche Einwendungen betreffen behauptete Mängel eines Gutachtens. Mangel an Sachkunde, Unzulänglichkeiten
oder Fehlerhaftigkeiten mögen zwar ein Gutachten entwerten, rechtfertigen für sich allein aber nicht die Ablehnung des
Sachverständigen wegen Befangenheit. Derartige Mängel der Gutachtenserstattung reichen nicht aus, um
Unparteilichkeit des Sachverständigen anzunehmen. Der Senat geht davon aus, dass sich die Beschwerdeführerin
dessen auch bewusst ist und hält die in diesem Zusammenhang gemachten Ausführungen nicht für die tragenden
Gesichtspunkte ihrer Beschwerde sondern allenfalls als der Erläuterung des Gesamtzusammenhangs dienend. Der
Senat kommt damit zum Ergebnis, dass die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom
17.04.2009 zurückzuweisen war. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG. Danach sind einem Beteiligten, wie
hier der Beschwerdeführerin, der nicht zum kostenprivilegierten Personenkreis des § 183 SGG gehört, die Kosten
einer erfolglos eingelegten Beschwerde aufzuerlegen. Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).