Urteil des LSG Bayern vom 25.02.2010
LSG Bayern: berechnung der beiträge, arbeitsentgelt, weisung, teleologische auslegung, historische auslegung, sozialversicherung, verwaltungsakt, behinderter, arbeitslohn, erlass
Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 25.02.2010 (rechtskräftig)
Bayerisches Landessozialgericht L 10 AL 225/08 KL
Bundessozialgericht B 11 AL 74/10 B
I. Die aufsichtliche Weisung der Beklagten vom 15.10.2007 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer rechtsaufsichtlichen Weisung der Beklagten vom 15.10.2007,
durch welche die Klägerin angewiesen wurde, Abrechnungen der Träger anerkannter Werkstätten für Behinderte (WfB)
für Leistungen im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich nach § 40 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB
IX) zu begleichen. Die Beklagte erstattete seit ca. 30 Jahren die Beiträge zur Rentenversicherung in Fällen, in denen
sich behinderte Menschen im Arbeitsbereich wie auch im Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich einer WfB
befanden. Mit Schreiben vom 27.10.2006 wies das Bundesversicherungsamt (BVA) die Beklagte darauf hin, diese
Erstattungspraxis werde als rechtswidrig angesehen. Nach eigener Prüfung änderte die Beklagte ihr
Erstattungsverfahren. Mit Schreiben vom 31.07.2007 informierte sie die Klägerin darüber, dass diese zur Erstattung
der Beiträge zur Rentenversicherung an die Träger anerkannter WfB im Eingangsverfahren und im
Berufsbildungsbereich verpflichtet sei und Erstattungen an die Träger vorzunehmen habe. Mit weiterem Schreiben
vom 15.10.2007 forderte die Beklagte die Klägerin auf, dieser Forderung nachzukommen und entsprechende
Abrechnungen der Träger der WfB ab 01.08.2008 zu begleichen. Eine Rechtsmittelbelehrung enthielt das Schreiben
nicht. Auf Nachfrage der Klägerin stellte die Beklagte mit Schreiben vom 27.06.2008 klar, dass es sich hierbei um
eine rechtsaufsichtliche Weisung gehandelt habe. Am 06.10.2008 hat die Klägerin Klage zum Bayer.
Landessozialgericht (LSG) mit der Begründung erhoben, die rechtsaufsichtliche Weisung sei rechtswidrig und
willkürlich. Die Auffassung der Beklagten, die tatsächliche Erzielung eines monatlichen Arbeitsentgelts sei
tatbestandliche Voraussetzung für eine Erstattung der Beiträge nach § 179 Abs. 1 S. 1 Sechstes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB VI) durch die Beklagte, sei sowohl bei wörtlicher Auslegung als auch bei Zugrundelegung des
Normzusammenhanges, des Normzwecks und des gesetzgeberischen Willens falsch. Zudem sei die bisherige
Erstattungsregelung gewohnheitsrechtlich geboten. Nach dem Normwortlaut markiere das tatsächlich erzielte
Arbeitsentgelt lediglich die Untergrenze des Erstattungsrahmens, da die Beklagte keine Beitragsanteile für einen
tatsächlich erzielten Arbeitslohn zu übernehmen habe. Der Zweck der Norm habe schon bei der Vorgängerregelung
des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter (SVBG) darin bestanden, zur Sicherung angemessener Renten
für alle in Behindertenwerkstätten Tätigen die Beitragsorientierung an einem fiktiven Arbeitsentgelt vorzunehmen. Da
es sich um eine Maßnahme der sozialen Fürsorge gehandelt habe, habe der Gesetzgeber die Finanzierungslast dem
allgemeinen Staatshaushalt aufgebürdet. Es sei auch nicht vorstellbar, dass die Beklagte seit über 30 Jahren eine
Erstattung vornehme, obwohl hierzu eine gesetzliche Verpflichtung nicht bestanden habe. Eine Verwendung von
Beitragsmitteln der Klägerin für Zwecke allgemeiner Fürsorge sei verfassungswidrig. Die Weisung verstoße auch
gegen das Willkürverbot, da eine unterschiedliche Erstattungspraxis der Klägerin gegenüber anderen Kostenträgern,
insbesondere der Rentenversicherung, nicht gerechtfertigt sei. Die Beklagte habe eine Änderung ihrer
Erstattungspraxis jedenfalls gegenüber der Rentenversicherung 2008 nicht durchgesetzt. Die rechtsaufsichtliche
Weisung führe bei der Klägerin zu Mehrausgaben iHv 120.000.000 EUR jährlich.
Die Klägerin beantragt, die aufsichtliche Weisung der Beklagten vom 15.10.2007 aufzuheben. Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen. Sie hält die rechtsaufsichtliche Weisung für rechtmäßig. Eine Erstattungspflicht ihrerseits
bestehe nur in den Fällen, in denen an behinderte Menschen tatsächlich Arbeitsentgelt bezahlt werde, nicht aber für
Leistungen der Träger der Einrichtung im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich. Unter Berücksichtigung
der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) seien Übergangs- oder Ausbildungsgelder keine Arbeitsentgelte
iSd § 14 Abs 1 Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV). Auch eine gesetzessystematische Auslegung ergebe ein
Zusammenwirken von § 179 Abs 1 Satz 1 SGB VI und § 14 Abs 1 SGB IV. Dem Zweck der Norm sei lediglich zu
entnehmen, dass eine Erstattung an den Träger der Einrichtung erfolgen müsse, nicht aber, wer diese Erstattung
vorzunehmen habe. Über den klaren Wortlaut des § 179 Abs 1 Satz 1 SGB VI könne sich auch eine teleologische
Auslegung nicht hinwegsetzen. Die historische Auslegung stütze die klägerische Auffassung nicht. Die Klägerin sei
erst 1979 Maßnahmeträgerin im Eingangsverfahren und Berufsbildungsverfahren geworden und habe damit in der
1975 erfolgten Gesetzesbegründung nicht erwähnt werden können. Die Erstattung der von den Trägern der Einrichtung
geleisteten Beiträge durch Beiträge der Versichertengemeinschaft der Klägerin sei nicht verfassungswidrig, da der
Gesetzgeber über die Kompetenznorm des Artikel 74 Abs 1 Nr 12 Grundgesetz (GG) festlegen könne, welche
Aufgaben die Klägerin als Sozialversicherungsträger durchzuführen habe. Von dieser Kompetenz habe er in § 42 Abs
1 Nr 1 SGB IX Gebrauch gemacht. Die bisherige Verwaltungspraxis sei irrelevant, denn die Beklagte habe bis 2007
zwar von der Erstattungspraxis gewusst, deren Rechtswidrigkeit aber erst 2007 erkannt. Damit könne sich eine
Fortführung der Erstattung weder aus Vertrauensschutzgründen noch aus Gewohnheitsrecht ergeben. Die Weisung sei
auch nicht willkürlich, da sich die Beklagte mit den Trägern der Rentenversicherung darauf geeinigt habe, den
Ausgang des anhängigen Streitverfahrens abzuwarten. Mit an die Klägerin gerichtetem Schreiben vom 23.02.2010 hat
die Beklagte ausgeführt, die Entscheidung vom 15.10.2007 sei im Rahmen des ihr als Aufsichtsinstanz zustehenden
Ermessens unter pflichtgemäßer Abwägung aller nach Lage des Einzelfalls in Betracht zu ziehender Gesichtspunkte
getroffen worden. Ein aufsichtliches Einschreiten sei die nach Lage der Dinge angemessene und zumutbare
Maßnahme zur Durchsetzung der Auffassung der Beklagten gewesen. Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die
Beklagtenakten und die Gerichtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig. Streitgegenständlich ist die Weisung der Beklagten vom
15.10.2007 welche unter Berücksichtigung des objektiven Empfängerhorizonts und der Umstände des Einzelfalls (vgl.
hierzu grundsätzlich: Engelmann in von Wulffen, SGB X, 6. Aufl., § 31 RdNr 26) einen Verwaltungsakt im Sinne eines
Verpflichtungsbescheides nach § 89 Abs. 1 Satz 2 SGB IV darstellt. Die Aufforderung, sich nach einer bestimmten
Art und Weise zu verhalten, ist ein an die Klägerin gerichtetes Gebot, es handelt sich nicht um eine bloße Anregung
oder Bitte. Demgegenüber beinhaltet das erklärende Schreiben vom 27.06.2008 keine eigenständige Regelung,
sondern hat lediglich klarstellenden Charakter. Auch das weitere Schreiben vom 23.02.2010 stellt keinen neuen
Verwaltungsakt dar, da eine neue "Regelung" i.S.d. § 31 S. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht
getroffen, sondern lediglich der Bescheid vom 15.10.2007 um Ermessenserwägungen ergänzt wurde. Dieses
Schreiben wurde - da kein Verwaltungsakt - somit auch nicht nach § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des
Berufungsverfahrens. Statthafte Klageart ist die Aufsichtsklage nach § 54 Abs. 3 SGG. Die funktionelle
erstinstanzliche Zuständigkeit des LSG ist nach § 29 Abs. 1 Nr 2 SGG in der ab 01.04.2008 geltenden Fassung
gegeben, denn es handelt sich um eine Aufsichts-
angelegenheit gegenüber einem Sozialversicherungsträger (vgl u.a. Seewald in Kasseler Kommentar, vor § 1 SGB IV
RdNr 16; Ebsen in Gagel SGB III, § 367 RdNr 4; a.A. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer SGG, 9.Aufl., § 29
RdNr. 5). Der Gesetzeszweck der Vorschrift (vgl. hierzu: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 11.01.2008, BT-Drucks. 16/7716 S. 2, 18), nämlich die
Entlastung der Sozialgerichte und die Verkürzung der Phase der Unsicherheit für Bereiche, in denen es vorwiegend
um die Klärung von Rechtsfragen geht, in denen fast zwangsläufig der Weg in die zweite, gegebenenfalls dritte
Instanz gesucht wird, um eine endgültige Klärung der Rechtsfrage zu erzielen, ist auch bei einer
Aufsichtsangelegenheit gegenüber der Klägerin gegeben. Nach § 57 Abs 1 Satz 1 und 2 SGG ist das LSG örtlich
zuständig (§ 367 Abs. 4 Drittes Buch Sozialgesetzbuch - SGB III -). Die Klägerin ist als rechtsfähige
bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung gemäß § 371 SGB III klagebefugt
(vgl. Keller aaO § 54 RdNr 18). Die Beklagte übt nach § 393 SGB III die Aufsicht über die Klägerin aus, §§ 88, 89
SGB IV. Die Klage ist fristgerecht erhoben worden. Dem Bescheid vom 15.10.2007 war eine Rechtsbehelfsbelehrung
nicht beigefügt. Damit gilt die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGB X, diese Frist wurde durch die Klageerhebung am
06.10.2008 gewahrt. Der Durchführung eines Vorverfahrens bedurfte es nach § 78 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGG nicht, denn
der Verpflichtungsbescheid wurde von einer obersten Bundesbehörde erlassen. Ein Rechtsschutzbedürfnis ist
gegeben, denn für die Zulässigkeit der Aufsichtsklage in Form einer reinen Aufsichtsklage genügt die schlüssige
Behauptung, die Beklagte als Aufsichtsbehörde nach § 393 SGB III habe rechtswidrig in das Selbstverwaltungsrecht
der Klägerin eingegriffen (vgl. BSG Urteil vom 28.06.2000 - B 6 KA 64/98 R - SozR 3-2500 § 80 Nr 4).
Die Klage ist auch begründet. Die rechtsaufsichtliche Weisung der Beklagten vom 15.10.2007 ist rechtswidrig und
verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Beklagte hat bei ihrer Entscheidung das Ermessen nicht ausgeübt. Nach §
179 Abs. 1 S. 1 SGB VI erstattet der Bund für behinderte Menschen nach § 1 Satz 1 Nr 2 Buchst a SGB VI den
Trägern der WfB die Beiträge, die auf den Betrag zwischen dem tatsächlich erzielten monatlichen Arbeitsentgelt und
80 vH der monatlichen Bezugsgröße entfallen, wenn das tatsächlich erzielte monatliche Arbeitsentgelt 80 vH der
monatlichen Bezugsgröße nicht übersteigt. Im Übrigen erstatten die Kostenträger den Trägern der Einrichtung die von
diesen getragenen Beiträge für behinderte Menschen, § 179 Abs 1 Satz 2 SGB VI. Nach § 1 S. 1 Nr. 2a SGB VI sind
behinderte Menschen versicherungspflichtig, die u.a. in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen tätig sind.
Beitragspflichtige Einnahmen dieser behinderten Menschen sind das von diesen erzielte Arbeitsentgelt, mindestens
jedoch 80 vom Hundert der Bezugsgröße (§ 162 Nr. 2 SGB VI). Die Beiträge werden bei behinderten Menschen von
den Trägern der Einrichtung getragen, wenn ein Arbeitsentgelt nicht bezogen wird oder das monatliche Arbeitsentgelt
20 vom Hundert der monatlichen Bezugsgröße nicht übersteigt, sowie für den Betrag zwischen dem monatlichen
Arbeitsentgelt und 80 vom Hundert der monatlichen Bezugsgröße, wenn das monatliche Arbeitsentgelt 80 vom
Hundert der monatlichen Bezugsgröße nicht übersteigt; im Übrigen von den Versicherten und den Trägern der
Einrichtung je zur Hälfte, § 168 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI. Daneben sind Bezieher von Übergangsgeld
versicherungspflichtig, wenn diese im letzten Jahr vor Beginn der Leistung zuletzt versicherungspflichtig waren, § 3 S.
1 Nr. 3 SGB VI. Beitragspflichtige Einnahmen sind dann 80 vom Hundert des der Leistung zugrunde liegenden
Arbeitsentgelts oder Arbeitseinkommen, § 166 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI. Die Beitragstragung erfolgt nach § 170 Abs. 1 Nr.
2b SGB VI durch die Leistungsträger, hier die Klägerin. Die Tätigkeit in anerkannten WfB umfasst neben dem
Arbeitsbereich (§ 41 SGB IX) auch den Eingangs- und Trainingsbereich (so bereits die Gesetzesbegründung BT-
Drucks. 11/4124 S. 148), bestätigt durch BSG, Urteil vom 14.02.2001 - SozR 3-2500 § 44 Nr 8). Behinderte Menschen
erhalten nach § 138 Abs. 2 SGB IX allerdings lediglich im Arbeitsbereich ein Arbeitsentgelt nach § 14 SGB IV. Im
Eingangs- und im Berufsbildungsbereich sind die Teilnehmer keine Beschäftigten der Werkstatt (§§ 138 Abs 4 iVm 36
SGB IX). Sie erhalten von den zuständigen Rehabilitationsträgern (wie z.B. von der Klägerin) ein Übergangsgeld nach
§ 44 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX i.V.m. 160 SGB III oder Ausbildungsgeld nach § 44 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX i.V.m. 104 SGB
III. Nach der Rspr. sind derartige Ausbildungsgelder keine Arbeitsentgelte i.S.d. § 14 Abs. 1 SGB IV (vgl BSG Urteil
vom 14.02.2001 aaO). Zur Berechnung der Beiträge sind daher auch im Eingangs- und Berufsbildungsbereich für die
in einer WfB Tätigen als Bemessungsgrundlage 80 vH der monatlichen Bezugsgröße heranzuziehen. Die sich hieraus
ergebenden Beiträge haben grundsätzlich die Träger der Einrichtung nach § 168 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI zu tragen. Diese
Beiträge hat nach § 179 Abs. 1 S. 1 SGB VI der Bund den Trägern der Einrichtung zu erstatten. § 179 SGB VI
entspricht im Wesentlichen § 174 des gemeinsamen Fraktions-Entwurfs (Entwurf eines Gesetzes zur Reform der
gesetzlichen Rentenversicherung, Rentenreformgesetz 1992, BT-Drucks. 11/4124 S. 1 ff). Danach entspreche die
Regelung des Absatzes 1 dem geltenden Recht. Sie übernehme die bisher in § 3 Abs 4 und § 10 Abs 1 des Gesetzes
über die Sozialversicherung Behinderter (SVBG) enthaltenen Erstattungsvorschriften. Änderungen im Wortlaut dienten
der Harmonisierung mit anderen Vorschriften (vgl. BT-Drucks. 11/4124 S. 186). Nach der Gesetzesbegründung ist
somit eindeutig eine Beibehaltung des bisherigen Erstattungsverfahrens durch den Bund für das SGB VI
entsprechend der Vorgängerregelung des SVBG gewollt gewesen. Nach § 1 Abs 1 SVBG (in der Fassung vom
07.05.1975, BGBl I S. 1061 ff) waren körperlich, geistig oder seelisch Behinderte, die in Werkstätten für Behinderte
oder Blindenwerkstätten beschäftigt waren, gesetzlich kranken- und rentenversicherungspflichtig. Als beschäftigt
galten Behinderte, die ohne oder gegen Entgelt in gewisser Regelmäßigkeit eine Leistung erbrachten, die einem
Fünftel der Leistung eines voll erwerbsfähigen Beschäftigten in gleichartiger Beschäftigung entsprach, § 2 Abs. 2
SVBG. Nach § 3 Abs 3 SVBG galt der Träger der Einrichtung als Arbeitgeber der in der WfB Beschäftigten. In den
Fällen des § 1 SVBG waren die Beiträge zur Sozialversicherung, die der Träger der Einrichtung als Arbeitgeber zu
tragen hatte, mit Ausnahme der Aufwendungen nach § 10 Abs 1 SVBG von den für die Behinderten zuständigen
Kostenträgern zu erstatten, § 3 Abs. 4 SVBG. Der Berechnung der Beiträge war als Arbeitsentgelt mindestens ein
Betrag in Höhe von 90 vH des durchschnittlichen Arbeitseinkommens aller Versicherten der Rentenversicherung der
Arbeiter und der Angestellten ohne Lehrlinge und Anlernlinge im vorvergangenen Kalenderjahr zugrunde zu legen, § 8
SVBG. Nach § 9 SVBG war, soweit das tatsächliche Arbeitsentgelt niedriger war als der nach § 8 maßgebliche
Mindestbetrag, der Unterschiedsbetrag von dem Träger der Einrichtung allein zu tragen. In den Fällen des § 1 waren
die nach § 9 S. 1 SVBG entstehenden Aufwendungen je zur Hälfte vom Bund und von den Ländern zu tragen (§ 10
Abs. 1 SVBG). Bereits das SVBG unterschied damit zwischen dem tatsächlich erzielten Arbeitsentgelt des
Behinderten und einem festgelegten Mindestarbeitsentgelt nach § 8 SVBG. Sowohl für das tatsächlich erzielte
Arbeitsentgelt wie auch für das Mindestarbeitsentgelt war der Träger der Einrichtung als Arbeitgeber (§ 3 Abs 3
SVBG) zur Tragung der Beiträge zur Sozialversicherung verpflichtet. Allerdings wurden dem Träger der Einrichtung die
gezahlten Beiträge zur Sozialversicherung wegen des tatsächlich erzielten Arbeitsentgelts von dem für die
Behinderten zuständigen Kostenträger erstattet. Die Beiträge wegen des festgelegten Mindestarbeitsentgelt und der
sich hieraus ergebenden Beitragspflicht nach § 9 SVBG wurden dem Träger der Einrichtung nach § 10 SVBG vom
Bund und den Ländern erstattet. Aus der Gesetzesbegründung des SVBG folgt nichts anderes. Nach dem Entwurf
des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter der Bundesregierung (BT-Drucks. 7/1992 S. 11) war bei der
Finanzierung des SVBG zu unterscheiden zwischen den tatsächlichen Arbeitsentgelten und einem Fiktiventgelt. Für
die Aufbringung der Beiträge, die von den tatsächlichen Arbeitsentgelten der Behinderten abzuführen und insoweit Teil
der Lohnsumme seien, würden die allgemeinen Regelungen gelten. Soweit die Beiträge für Behinderte in geschützten
Einrichtungen zur gesetzlichen Rentenversicherung nach dem Fiktiventgelt bemessen würden, sei die Erstattung der
auf den Unterschiedsbetrag zwischen dem tatsächlichen und dem fiktiven Arbeitsentgelt entfallenden Beiträge durch
Bund und Länder vorgesehen. Entsprechende Formulierungen finden sich im Bericht und Antrag des Ausschusses für
Arbeit und Sozialordnung zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Sozialversicherung Behinderter (BT Drucks. 7/3237 S. 3): "Um den Behinderten angemessene Renten zu sichern,
werden die Beiträge zur Rentenversicherung bei allen Versicherten, sofern deren tatsächliches Arbeitseinkommen
nicht höher ist, nach dem fiktiven Arbeitsentgelt - 90 vH des durchschnittlichen Arbeitsentgelts aller Versicherten der
Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten - bemessen. Bund und Länder übernehmen je zur Hälfte die
Beitragsaufwendungen für den Unterschiedsbetrag zwischen dem tatsächlichen und dem fiktiven Entgelt. Die Beiträge
zur Rentenversicherung, die für die tatsächlichen Arbeitsentgelte der Behinderten anfallen, und die
Krankenversicherungsbeiträge werden von den Werkstätten als Arbeitgeber und den Behinderten als Arbeitnehmer
nach den allgemeinen sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften getragen. Die auf die Werkstätten entfallenden
Arbeitgeberbeiträge müssen von den Kostenträgern der Behinderten erstattet werden. Ob Arbeitslohn gezahlt wird, ist
für die Versicherung unerheblich." Bei der Frage der Finanzierung ging der Gesetzgeber davon aus, dass es sich bei
der neu geschaffenen Versicherungspflicht um soziale Fürsorge für einen besonders benachteiligten Personenkreis
der Gesellschaft handle. Er hat deshalb eine Finanzierung durch die Beklagte vorgesehen. Dies ergibt sich wiederum
aus der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 7/1992 S. 14), wonach die Werkstätten die besonderen Beitragslasten zur
sozialen Sicherheit nicht allein tragen könnten und deshalb dafür öffentliche Mittel (Bund und Länder) bereitgestellt
werden würden. Die Kostentragung nach Satz 1 beruhe dabei auf Art 104 a Abs. 3 des Grundgesetzes. Nach dem
eindeutig erklärten gesetzgeberischen Willen sollten Bund und Land somit je zur Hälfte die Beitragsaufwendungen für
den Unterschiedsbetrag zwischen dem tatsächlichen und dem fiktiven Entgelt auch dann übernehmen, wenn ein
tatsächlicher Arbeitslohn an den Behinderten nicht gezahlt wurde. Der Grundgedanke der sozialen Fürsorge der
Sicherung von angemessenen Renten für Behinderte wurde unter Verweis auf Art 104 a Abs. 3 Grundgesetz (GG) als
Bundesaufgabe angesehen. Lediglich die Versicherungsbeiträge, die für tatsächlich gezahlte Arbeitsentgelte anfielen,
sollten von den WfB (anteilig) getragen werden, nur insoweit ergab sich eine Erstattungspflicht durch den Kostenträger
der Einrichtung. § 179 SGB VI sollte unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen diese Unterscheidung zwischen
tatsächlich gezahltem und fiktivem Arbeitsentgelt und die sich hieraus ergebende unterschiedliche Erstattungspflicht
der Kostenträger einerseits und dem Bund andererseits übernehmen. Damit ergibt sich eine Erstattungspflicht der
Beklagten für Beiträge behinderter Menschen, die sich im Eingangs- und Berufsbildungsbereich einer WfB befinden
auch dann, wenn diesen tatsächlich kein Arbeitseinkommen ausgezahlt wird. § 179 Abs 1 Satz 1 SGB VI setzt
keinen Arbeitslohn von mehr als 0,00 EUR, sondern lediglich eine Differenz zwischen dem tatsächlichem
Arbeitsentgelt und 80 % der Bezugsgröße voraus. Entgegen der von der Beklagten unter Bezugnahme auf die Urteile
des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urteil vom 11.11.1986, BVerfGE 73, 206) und des BSG (Urteil vom
08.05.2007, BSGE 98, 219) geäußerten Auffassung ist hierdurch die Wortlautgrenze als äußerste Grenze zulässiger
richterlicher Interpretation nicht überschritten. Nach der Entscheidung des BVerfG, die sich im Übrigen auf die
Auslegung des Nötigungstatbestandes des § 240 Strafgesetzbuch (StGB) bei Sitzblockaden bezog, kann Gegenstand
der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein. Dieser erweist sich als maßgebendes
Kriterium. Nach der Entscheidung des BSG verbietet sich in der Regel eine Auslegung, die unter Berufung auf die
Rechtsentwicklung und die Vorstellungen des historischen Gesetzgebers den durch den Gesetzestext gezogenen
Rahmen sprengt. § 179 SGB VI regelt allerdings nur die Frage der Erstattungspflicht bei Beiträgen, die auf einen
Betrag zwischen einem tatsächlich erzielten monatlichen Arbeitsentgelt und 80% der monatlichen Bezugsgröße
entfallen. § 179 SGB VI enthält keine Regelung darüber, dass ein Arbeitsentgelt von mindestens 0,01 Euro erzielt
werden müsse um die Erstattungspflicht nach § 179 Abs.1 S. 1 SGB VI zu eröffnen. Der Wortlaut lässt dies vielmehr
offen, so dass es maßgeblich auf den Gesetzeszweck und den gesetzgeberischen Willen ankommt (vgl. BVerfGE 2,
266). Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen war vom Gesetzgeber die Begründung einer eigenen
Rentenversicherung der Behinderten unter Berücksichtigung eines gesetzlich bemessenen Mindestarbeitsentgelts und
deren Finanzierung durch staatliche Mittel von Bund und Land bezweckt. Die gegenteilige Auffassung der Beklagten,
wonach § 179 SGB VI nicht zu entnehmen sei, von wem eine Erstattung vorzunehmen ist, ist demgegenüber nicht
nachvollziehbar, denn § 179 Abs 1 SGB VI beantwortet ausschließlich diese Frage. Es kann auch dahinstehen, dass
- wie die Beklagte meint - in der Gesetzesbegründung aus 1975 die Klägerin noch nicht erwähnt sein konnte, da diese
erst 1979 Maßnahmeträgerin im Sinne des Gesetzes wurde. Bereits im ursprünglichen Gesetzesentwurf war eine
Unterscheidung von Kostenträger nach § 3 Abs. 4 SVBG und Bund nach § 10 SVBG vorgenommen worden. Damit
war die grundsätzliche Weiche für eine unterschiedliche Erstattungspflicht gesetzt. Auch andere Kostenträger wie z.B.
die Rentenversicherung sind namentlich nicht erwähnt. Auf die übrigen zwischen den Beteiligten gewechselten
Argumente kam es somit nicht mehr an. Die von der Beklagten zitierten gegenläufigen Literaturmeinungen überzeugen
den Senat unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen nicht. Eine Begründung für deren gegenteilige Ansicht ist
den Kommentierungen auch nicht zu entnehmen. Die Beitragserstattungspflicht der Beklagten nach § 179 Abs 1 Satz
1 SGB VI ist somit auch gegeben, wenn bei behinderten Menschen für die Bemessung der
Rentenversicherungsbeiträge kein positives Arbeitseinkommen angesetzt werden kann. Damit verbleibt für eine
Beitragserstattungspflicht der Klägerin im streitigen Umfang nach § 179 Abs 1 Satz 2 SGB VI kein Raum mehr. Die
aufsichtliche Weisung der Beklagten verstößt gegen § 179 Abs 1 SGB VI und ist somit rechtswidrig. Darüber hinaus
hat die Beklagte bei dem Erlass des Verpflichtungsbescheides vom 15.10.2007 das ihr zustehende Ermessen nicht
ausgeübt. Als Aufsichtsbehörde hatte sie in Bezug auf den Erlass der aufsichtsrechtlichen Weisung sowohl ein
Entschließungs- als auch ein Auswahlermessen (vgl. Schütte-Geffers in Kreikebohm, SGB IV, § 89 Rn. 18), wobei
eine Weisung als belastender Verwaltungsakt den Erfordernissen des SGB X genügen muss. Nach § 35 Abs. 1 Satz
3 SGB X muss die Begründung eines schriftlichen Verwaltungsaktes, der eine Ermessensentscheidung zum Inhalt
hat, auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens
ausgegangen ist. Der Begründung des Bescheides muss zu entnehmen sein, dass die Aufsichtsbehörde sich ihrer
Befugnis und Pflicht zur Ermessensausübung bewusst gewesen ist, dass sie die Möglichkeit erwogen hat, unter
Opportunitätsgründen von der Durchführung abzusehen, und welche Gründe dafür entscheidend gewesen sind,
stattdessen dem Verpflichtungsbescheid den Vorzug zu geben (vgl. Schütte-Geffers aaO § 89 Rdnr. 13). Die
Begründung muss deutlich machen, dass die Beklagte überhaupt eine Ermessensentscheidung getroffen hat (vgl.
BSG, Urteil vom 31.10.1991 - 7 RAr 60/89 - SozR 3-1300 § 45 Nr. 10). Vorliegend ergeben sich weder aus dem
streitgegenständlichen Bescheid vom 15.10.2007 noch aus den Akten der Beklagten Hinweise darauf, dass sich die
Beklagte vor Erlass des belastenden Bescheides der Notwendigkeit einer Ermessensbetätigung bewusst war.
Vielmehr hat sie ihren Ermessensspielraum verkannt - sog. Ermessensausfall (vgl. Schütze in von Wulffen, SGB X,
6. Aufl., § 41 Rn.11 mwN) und damit dieses Ermessen im Bescheid auch nicht zum Ausdruck gebracht. Dass eine
Ermessensentscheidung in der Sache entbehrlich gewesen sei (sog. Ermessensreduzierung auf "Null", vgl hierzu
BSG, Urteil vom 24.06.1987 - 5a RKnU 2/86 - SozR 1200 § 40 Nr.3), wird von der Beklagten nicht vorgetragen, stünde
im Widerspruch zu ihrem Schreiben vom 23.02.2010 und ist dem Senat auch nicht ersichtlich. Der Bescheid vom
15.10.2007 war somit auch aus diesem Grund rechtswidrig. An dem Vorliegen eines Ermessensausfalls ändert auch
das Schreiben der Beklagten vom 23.02.2010 nichts. Ein Nachschieben von Ermessensgründen im Klageverfahren ist
unzulässig (vgl. Schütze aaO § 41 Rdnr. 12), denn der Gesetzgeber hat eine § 114 S. 2 Verwaltungsgerichtsordnung
(VwGO) entsprechende Regelung nicht geschaffen (vgl. Keller aaO § 54 Rdnr. 36). Ein Ermessensakt darf nicht mit
Gründen aufrechterhalten werden, die der Ermessensentscheidung der Verwaltung nicht zugrunde gelegen haben (vgl.
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) Urteil vom 28.11.1980, BVerwGE 61, 200, 210; BSG, Urteil vom 24.04.2002,
BSGE 89, 227, 235). Ob die Heilung eines solchen Fehlers durch den Erlass eines neuen Bescheides nach Ausübung
pflichtgemäßen Ermessens möglich ist (vgl. Schütze aaO § 41 Rdnr. 11) muss vorliegend nicht entschieden werden,
denn bei dem Schreiben der Beklagten vom 23.02.2010 handelt es sich mangels Regelung i.S.d. § 31 S. 1 SGB X
nicht um einen Verwaltungsakt, der Gegenstand des Berufungsverfahrens hätte werden können.
Nach all dem war die aufsichtliche Weisung vom 15.10.2007 aufzuheben
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm § 154 Abs 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Gründe, die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder N. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.