Urteil des LSG Bayern vom 17.05.2010

LSG Bayern: psychotherapeutische behandlung, gutachter, innere medizin, wesentliche veränderung, private krankenkasse, psychiatrische behandlung, hiv, müdigkeit, rente, erwerbsunfähigkeit

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 17.05.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 14 R 4090/03
Bayerisches Landessozialgericht L 14 R 365/08
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 18. März 2008 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist eine Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Erwerbsminderung.
Der 1957 geborene Kläger war bis Juni 1997 als Chemiemeister in der chemischen Fertigung tätig. Anschließend
bestand Arbeitsunfähigkeit, danach war der Kläger arbeitslos gemeldet.
Seinen am 20.04.1998 gestellten Rentenantrag begründete der Kläger mit einem toxischen Leberschaden. In einem
zuvor gestellten Antrag auf berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation hatte er angegeben, durch den Umgang mit
Chemikalien an Schmerzen im unteren Rippenbogen/Leber, an Hautproblemen und Schuppenbildung am Kopf sowie
rascher Ermüdbarkeit zu leiden. In einer für seine private Krankenkasse im November 1997 erstellten gutachtlichen
Stellungnahme des Internisten Dr. W. war der Kläger wegen eines entzündlichen Leberprozesses als weiterhin
arbeitsunfähig beurteilt worden. Ein arbeitsamtsärztliches Gutachten von Januar 1998 stellte ein vorläufiges tägliches
Leistungsvermögen von unter drei Stunden fest.
Die Beklagte ließ den Kläger durch den Internisten Dr. H. untersuchen, der auf Grund seiner Untersuchung eine
mäßiggradige Erhöhung der Leberwerte und Hinweise auf eine früher abgelaufene Hepatitis A und B fand und auf
Grund der Diagnosen "V.a. Leberschädigung, Zustand nach Hepatitis A und B" ein vollschichtiges Leistungsvermögen
für die letzte Tätigkeit, allerdings ohne Belastung mit potentiell toxischen Stoffen annahm (Gutachten vom
19.03.1998).
Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 29.07.1998 ab. Der Kläger könne trotz "V. a. toxische
Leberschädigung, Zustand nach Hepatitis A und B" in seinem Berufsbereich weiter tätig sein. Das anschließende
Widerspruchsverfahren ruhte bis Juli 2002 und wurde dann vom Kläger wieder aufgenommen. Es war in dieser Zeit zu
einer erfolgreichen Umschulung des Klägers zum Mediengestalter gekommen; der Kläger übte diesen Beruf ab April
2001 im Rahmen einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts selbständig aus, offensichtlich bis 01.07.2002, und meldete
sich dann erneut arbeitslos.
Die Wiederaufnahme des Widerspruchsverfahrens begründete der Kläger mit anhaltender Leistungsschwäche. Zuvor
hatte er in der Zeit vom 19.02. bis 12.03.2002 eine medizinische Reha-Maßnahme durchlaufen, aus der er arbeitsfähig
mit den Diagnosen "Polycythämia vera (nicht behandlungsbedürftig), Hepatopathie unklarer Genese, chronische
Müdigkeit" und der Beurteilung eines Leistungsvermögens von sechs Stunden und mehr ohne überdurchschnittlichen
Stress, ohne Akkord und Nachtschicht entlassen worden war.
Die Beklagte ließ den Kläger internistisch und nervenärztlich untersuchen und begutachten. Der Nervenarzt J. S.
diagnostizierte im Gutachten vom 14.10.2002 - ausgehend von einer schwerwiegenden internistischen
Grunderkrankung - u. a. Anpassungsstörungen mit depressiver Rückzugssymptomatik sowie eine organisch
asthenisch emotional labile Störung mit Antriebsminderung. Er führte dazu aus, im Beruf als Mediengestalter bestehe
nurmehr ein Leistungsvermögen von drei bis unter sechs Stunden. Das gleiche gelte auch für jeden anderen Beruf.
Eine Besserung sei nicht zu erwarten. Regelmäßige Psychotherapie wurde empfohlen. Der Internist Dr. H. beschrieb
einen Kläger mit neurasthenischer Persönlichkeit, der durch seine prognostisch unklare Erkrankung verunsichert sei
und zu ängstlicher Selbstbeobachtung neige. Auch bestehe eine Selbstunwertproblematik mit Depressionen. Er
diagnostizierte ein Polycythämie, daneben eine Hepatopathie unklarer Genese, chronische Müdigkeit sowie ein
neurasthenisch-depressives Erschöpfungssyndrom. Den im Belastungs-EKG mit 150 Watt belastbaren Kläger hielt er
als Mediengestalter sowie in überwiegend sitzenden Tätigkeiten für vollschichtig einsetzbar und erwähnte eine
Diskrepanz zwischen subjektiven Beschwerden und objektivierbaren Befunden sowie eine anzunehmende psychische
Überlagerung (Gutachten vom 21.10.2002).
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.12.2003 zurück. Der Kläger könne im
bisherigen Berufsbereich wie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nach altem Recht vollschichtig, nach neuem Recht
sechs Stunden täglich und mehr tätig sein.
Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) machte der Kläger geltend, auf Grund seiner Erkrankung und der damit
einhergehenden chronischen Müdigkeit und eines neurasthenisch-depressiven Erschöpfungssyndroms zu
vollschichtiger Arbeit nicht mehr in der Lage zu sein. Auch im Rahmen der Umschulungsmaßnahme habe
vollschichtige Erwerbsfähigkeit nicht wieder hergestellt werden können. Nach Einholung von Befundberichten des
behandelnden Internisten Dr. W. und der praktischen Ärztin F. kam es zu einer Begutachtung des Klägers durch Prof.
Dr. S. und Dr. K. vom Klinikum A-Stadt. In ihrem Gutachten vom 30.08.2004 nahmen diese ausführlich zu der Frage
der Hepatopathie beim Kläger Stellung und wiesen darauf hin, dass diesbezüglich laborchemische
Spezialuntersuchungen nie durchgeführt worden seien. Bezüglich des geklagten Müdigkeitssyndroms sei ein
Zusammenhang mit der Hepatopathie möglich, es handle sich jedoch um ein unspezifisches Symptom, das ebenso
auch psychogene Ursachen haben könne. Die Arbeitsfähigkeit sei im Wesentlichen durch diese ursächlich nicht
abschließend geklärte Fatigue-Problematik eingeschränkt. Der Kläger, dessen Angaben glaubhaft seien, könne
übliche Arbeitsabläufe nicht einhalten und sei nicht mehr als drei Stunden täglich leistungsfähig. Als Mediengestalter
könne der Kläger "seit 1997" vier Stunden täglich arbeiten, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zwei bis unter vier
Stunden bzw. 3 bis 4 Stunden am Stück, dann bedürfe es wegen des Erschöpfungssyndroms einer mehrstündigen
Pause.
Die Beklagte wandte durch ihren Ärztlichen Dienst gegen dieses Gutachten ein, es sei nicht nachvollziehbar; es
beruhe ausschließlich auf subjektiven Angaben des Klägers, es fehlten wesentliche Angaben z. B. zur
Tagesgestaltung, dabei habe der Kläger, der zahlreiche medizinische Termine und auch Fortbildungen am Computer
wahrnehme, offensichtlich einen strukturierten Tagesverlauf. Die Diagnose sei fachfremd gestellt, sie bedürfe einer
Abklärung auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet. Auch seien die Leberwerte nicht aktuell abgeklärt worden; der
Kläger sehe hier offenbar selbst keinen Handlungsbedarf, denn auch von Seiten der behandelnden Ärzte sei dies nicht
erfolgt. Die Blutbildveränderungen seien offensichtlich im Verlauf über Jahre stabil.
Die Nervenärztin Dr. F. erhob im Gutachten vom 22.12.2004 nach Untersuchung des Klägers und Erhebung
technischer Untersuchungen sowie testpsychologischer Zusatzuntersuchungen die Diagnosen: "Cephalgien
gemischter Genese (mit Spannungskomponente und mit migränoider Komponente), depressive Anpassungsstörung
mit asthenischen Zügen - nur leichtgradiges depressives Syndrom". Die Gutachterin führte aus, die Feststellung einer
Lebererkrankung unklarer Genese und einer Polycythämie habe zu einer Exazerbation einer depressiven Symptomatik
mit der Angst, das gleiche Schicksal wie Mutter und Onkel (Tod durch Leberversagen) zu erleben, geführt. Sie stellte
fest, dass bisher keine neurologisch-psychiatrische Behandlung stattgefunden habe, allerdings im Jahre 2004 ein
halbes Jahr lang eine ambulante Gesprächstherapie, die eine gewisse Besserung gebracht habe und dann
abgebrochen worden sei. Sie äußerte Zweifel an den Ausführungen des Nervenarztes S. im Rentenverfahren zum
Vorliegen einer organisch-emotionalen Störung. Eine schwere Hepatopathie, die allein ein hirnorganisches
Psychosyndrom im Sinne einer organischen Wesensänderung erklären könne, liege bei nur gering erhöhten
Leberwerten nach Aktenlage eher nicht vor. Darüber hinaus wies Dr. F. darauf hin, dass "chronic Fatigue-Syndrom"
keine anerkannte Diagnose sei, offenbar seien bisher nur wegen der Annahme der internistischen Grunderkrankung
Leistungseinschränkungen angenommen worden, denn die sonstigen Befunde und die Testpsychologie seien
unauffällig. Dr. F. hielt bei nicht hinreichend objektivierbarer subjektiv geklagter verminderter Belastbarkeit Tätigkeiten
im Umfang von sechs Stunden als Mediengestalter wie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für möglich und empfahl
begleitende nervenärztliche Behandlung und Psychopharmaka-Gaben.
Der Kläger widersprach dem Gutachten. Es gehe ihm relativ gut, da er keine körperliche Arbeit verrichte, er brauche
aber viel Schlaf. Er legte eine Blutbildkontrolluntersuchung aus April 2005 vor.
Nach erneuter Einholung eines Befundberichtes der Ärztin F. vom 03.08.2005 ("Gesundheitseinbruch 1997,
schleichender Leistungsabfall in den letzten Jahren, aktuell abzuklärende Milzvergrößerung") erstellte Dr. W. im
Auftrag des SG das internistische Gutachten vom 25.11.2005. Der Gutachter erhob beim Kläger nach umfangreichen
technischen Untersuchungen eine Hepatopathie, eine Polycythämie (Knochenmarkserkrankung), einen
Belastungshochdruck und eine Stoffwechselstörung (Hyperlipoproteinämie und Hyperurikämie). Bezüglich der
nervenärztlichen Diagnosen verwies er auf das Gutachten von Dr. F ... Er hielt leichte körperliche Arbeiten, auch als
Mediengestalter, ohne häufiges Heben und Tragen von Lasten, ohne Kälte-, Nässe- und Zugluftexposition und Kontakt
mit lebertoxischen Substanzen sowie ohne besondere nervliche Belastungen vollschichtig (sechs Stunden und mehr,
aber auch acht Stunden) für möglich.
Auf Antrag des Klägers erstellte die behandelnde Hausärztin F. ein sechsseitiges Gutachten nach Aktenlage vom
28.12.2006, in welchem sie die Auffassung vertrat, beim Kläger bestehe seit 1996/97 ein Leberschaden unklarer
Genese, der erst durch eine Punktion verifizierbar sei. Der Kläger könne wegen anhaltender Müdigkeit seit 1997 nur
mehr 3 bis 6 Stunden täglich bzw. weniger als drei Stunden tätig sein, gegenwärtig wegen Verschlechterung der
physischen wie der psychischen Situation überhaupt nicht.
Die Beklagte machte geltend, dass die Stellungnahme eine quantitative Leistungsminderung beim Kläger nicht
begründen könne, eine vitale Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit gehe daraus nicht hervor. Die
Stellungnahme entspreche zudem nicht den Qualitätsstandards eines Gutachtens; auch fehle es an ausreichender
inhaltlicher Auseinandersetzung mit den Vorgutachten.
Der Kläger verwies auf eine Verschlechterung seiner psychischen Situation. Er legte ein Attest der Frau F. vom
02.08.2007 über eine derzeitige tiefenpsychologische Behandlung wegen mittelgradiger Episode einer neurotischen
Depression vor.
Das SG beauftragte den Neurologen und Psychiater Dr. E. mit der Erstellung des nervenärztlichen Gutachtens vom
19.10.2007. Der Kläger gab gegenüber dem Gutachter an, er habe nie länger als einen halben Tag arbeiten können.
Zur Zeit trage er täglich morgens etwa 1 3/4 Stunden Zeitungen aus, gebe 3 bis 4x wöchentlich 2 bis 3 Stunden
Unterricht bei der D. als Dozent für Medientechnik und übernehme kleinere Aufträge. Der Gutachter wies zunächst auf
die beim Kläger seit 1984 lediglich diskret erhöhten Leberwerte hin: eine monokausale Auslösung der
Leberfunktionsstörung durch den Umgang mit chlorierten Kohlenwasserstoffen im Berufsleben sei in
fachinternistischen Befunden und Gutachten nie mit Sicherheit festgestellt worden; auch die bestehende
Polycythämie sei nach internistischer Aussage keine Erklärung für die Müdigkeit. Es fehle daher an einer griffigen
organmedizinischen Grundlage für das Beschwerdebild des Klägers. Diagnostisch ging Dr. E. auf seinem Gebiet vom
Vorliegen einer Anpassungsstörung aus; er verneinte hirnorganische Störungen, wie vom Nervenarzt S. angenommen,
und auch eine klinisch relevante Depression. Ein evidenter psychopathologischer Befund könne nicht bestätigt
werden, am ehesten liege eine Fehlverarbeitung der Befindlichkeitsstörung vor. Der Kläger könne seit Antragstellung
nur leichte körperliche Arbeiten ohne Kälte-, Nässe,- Zugluftexposition und ohne besondere nervliche Belastungen
sechs Stunden täglich und mehr, auch 8 Stunden, auch als Mediengestalter, verrichten. Seelische Hemmungen
gegen die Arbeitsaufnahme seien unter ärztlicher Mithilfe überwindbar.
Das SG wies die auf Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Erwerbsminderung ab
Antragstellung gerichtete Klage mit Urteil vom 18.03.2008 ab. Der Kläger habe keinen Anspruch auf eine Rente wegen
Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit nach §§ 43 Abs.2, 44 Abs.2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis
31.12.2000 geltenden Fassung und ebenso nicht auf eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung im
Sinne von § 43 SGB VI in der ab 01.01.2001 geltenden Fassung, da die gesetzlichen Voraussetzungen nicht gegeben
seien. Die Erwerbsfähigkeit werde zwar durch Gesundheitsstörungen auf internistischem und nervenärztlichem Gebiet
sowie durch eine chronische Erschöpfung eingeschränkt. Das berufliche Leistungsvermögen sei dadurch jedoch nur
qualitativ, nicht aber auch quantitativ, eingeschränkt, wie sich aus den Gutachten von Dr. F., Dr. W., und Dr. E.
ergebe. Diese Gutachter hätten sich intensiv mit den abweichenden Meinungen der Gutachter Prof. Dr. S., des
Nervenarztes S. im Rentenverfahren und der Hausärztin F. auseinandergesetzt und die eigenen Feststellungen und
Leistungseinschätzungen plausibel begründet. Für das Ergebnis sprächen auch die vom Kläger trotz des geklagten
Müdigkeitssyndroms noch verrichteten beruflichen Tätigkeiten als Zeitungsausträger (mit gestörter Nachtruhe ab 4
Uhr morgens) und als Dozent, die zeigten, dass er grundsätzlich leistungsfähig sei. Der abweichenden
Leistungseinschätzung von Prof. Dr. S., dem Nervenarzt J. S. und der Hausärztin F. habe das Gericht nicht folgen
können. Letztere mache in ihrer entgegen dem auf Erstellung eines Gutachtens lautenden gerichtlichen Auftrag
lediglich verfassten ärztlichen Stellungnahme in sich widersprüchliche Angaben zum Leistungsvermögen des Klägers.
Die Annahme einer hirnorganischen Störung durch den Nervenarzt J. S. sei durch die Feststellungen von Dr. E. und
Dr. F. widerlegt, es erscheine auch nachvollziehbar, dass Hr. S. hauptsächlich wegen der Annahme einer
schwerwiegenden internistischen Grunderkrankung und der daraus angeblich resultierenden organisch-emotional
labilen Störung auch eine quantitative Einschränkung der Erwerbsfähigkeit angenommen habe. Von einer
schwerwiegenden internistischen Erkrankung sei beim Kläger nach dem Ergebnis der medizinischen
Beweiserhebungen aber nicht auszugehen. Auch der Einschätzung des Prof. S., der auf die Fatigue-Symptomatik als
Ursache der Leistungseinschränkung abstelle, sei nicht zu folgen; zum einen sei das Ausmaß der Beeinträchtigung
durch eine chronische Müdigkeit kaum messbar bzw. objektivierbar, erforderlich seien neuropsychologische
Testverfahren, die nicht zum Bereich der inneren Medizin gehörten. Die Beurteilung der Leistungsminderung durch ein
solches Syndrom sei daher auf nervenärztlichem Gebiet vorzunehmen. Insoweit hätten Dr. F. und Dr. E. jedoch keine
rentenrechtlich relevanten Leistungseinschränkungen gesehen.
Mit der Berufung wendet sich der Kläger gegen dieses Urteil und beruft sich auf die seines Erachtens zutreffenden
Beurteilungen durch Prof. Dr. S. und die Ärzte S. und F ... Das SG habe sich zu Unrecht über deren Beurteilungen
hinweggesetzt. Er sei nicht in der Lage, mehrere Tage am Stück oder mehrere Stunden hintereinander zu arbeiten.
Auch bei seiner Umschulung habe er häufig krankheitsbedingt gefehlt (insgesamt mindestens 43 Krankheitstage
zwischen April 1999 und Januar 2001). Zuletzt sei er bis Juni 2006 Hartz IV-Empfänger gewesen und habe daneben
kleinere Aufträge als Mediengestalter erledigt. Ab 2006 sei er außerdem als Zeitungsausträger bei der A. Zeitung
angestellt und verdiene monatlich 470 Euro neben seiner Tätigkeit als EDV-Dozent beim BIB A-Stadt mit monatlich
15 Unterrichtseinheiten à 45 Minuten (monatlich etwa 350,- Euro). Zuletzt teilt der Kläger im September 2009 mit,
dass er HIV-positiv getestet worden sei.
Der Senat hat aktuelle Befundberichte und ärztliche Unterlagen der behandelnden Ärzte F. und Dr. B. eingeholt. Die
Hausärztin F. (Bericht vom 25.02.2010) teilte die von ihr gestellten Diagnosen "Syphilitischer Primäraffekt, fieberhafte
Virusgrippe, Hypertonus, Polycythämia vera, Hepatosplenomegalie unklarer Genese, akute Belastungssituation" und
als neu hinzugekommen "Z.n. Lues, HIV-Infektion" mit.
Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. berichtet von "Konzentrations- und Hirnleistungsstörungen, DD
hirnorganisch bei HIV-Encephalopathie, DD reaktiv bei depressivem Syndrom" und einer veranlassten vertieften
neuropsychologischen Diagnostik in der Gedächtnisambulanz des BKH A-Stadt (Bericht vom 22.12.2009). Laut
Bericht über die neuropsychologische Diagnostik - Untersuchung am 18.12.2009 -lautet die Beurteilung: "Insgesamt
leichte Beeinträchtigung des verbalen Neugedächtnisses sowie leicht reduziertes Aktivierungsniveau. Die übrigen
kognitiven Funktionen sind normgerecht und altersentsprechend unauffällig. Eine Überlagerung der
Gedächtnisfunktionen durch die Depression ist wahrscheinlich, nun noch psychiatrische Mitbehandlung".
Der Senat beauftragte den Arzt für innere Medizin M. mit der Erstellung des Gutachtens vom 11.03.2010. Der Kläger
klagte bei der Untersuchung vor allem über ausgeprägte Müdigkeit, rasche Erschöpfbarkeit bei Belastung und
migränoide Kopfschmerzen. Der Gutachter erhob bei seiner Untersuchung die Diagnosen: "Polycythämia vera,
Leberschaden unklarer Genese, HIV-Infektion, V.a. Chronique Fatique-Syndrom, Z. n. Lues im vorigen Jahr,
Cholelithiasis". Der Gutachter beschrieb einen altersentsprechend gesund aussehenden Kläger ohne Symptome
gravierender Gesundheitsstörungen im Bereich der Innenorgane und des Bewegungsapparates. Bei den
Laboruntersuchungen ergaben sich vor allem erhöhte Werte der für die Polycythämie maßgeblichen Parameter,
insoweit ergab sich auch weiterhin noch keine Notwendigkeit einer kausalen Therapie. Die Viruslast hinsichtlich der
HIV-Infektion lag mit 490 Kopien pro Milliliter so niedrig, dass sie derzeit allenfalls überwacht werden müsse, eine
kausale Therapie sei nicht erforderlich, auch bestehe dadurch zum jetzigen Zeitpunkt keine wesentliche
Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit. Die Hepatopathie habe sich offensichtlich weiter stabilisiert. Dem Kläger
seien nach allem leichte und fallweise mittelschwere Tätigkeiten zuzumuten. Insgesamt ergebe sich keine
wesentliche Veränderung gegenüber den bisher durchgeführten, als sehr gut zu bezeichnenden Begutachtungen, vor
allem durch Dr. W., dessen Leistungsbeurteilung einer vollschichtigen Arbeitsfähigkeit bei qualitativen
Einschränkungen ( kein häufiges Heben und Tragen, keine Einwirkung von Kälte oder Nässe, Hitze/Zugluft sowie
keine Arbeiten im Umgang mit lebertoxischen Stoffen und Arbeiten mit besonderen Anforderungen an die nervliche
Belastbarkeit) übernommen werden könne. Es sei sogar insgesamt von einer leichten Besserung auszugehen. Auch
die letzten Untersuchungen des Klägers durch Dr. B. und F. sowie in der Bezirksklinik S. im Dezember 2009, wo sich
nur eine leichte Beeinträchtigung des verbalen Neugedächtnisses gezeigt habe und ansonsten keine wesentlichen
Beeinträchtigungen hätten festgestellt werden können, zeigten keine in irgendeiner Form wesentliche sonstige
Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit des Klägers auf.
Zusammenfassend hielt der Gutachter den Kläger in seinen Tätigkeiten aus dem Berufskreis eines Mediengestalters
bzw. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für nur leicht beeinträchtigt. Er könne seit der Vorbegutachtung im Jahr 2005,
aber auch schon in der Zeit davor, leichte Tätigkeiten in wechselnder Ausgangsposition ohne Heben und Tragen von
Lasten über 10 kg sowie ohne starke nervliche Belastung und ohne hohe Anforderungen an die Flexibilität noch
mindestens sechs Stunden täglich und mehr ausüben. Die HIV-Infektion stelle keinerlei Beeinträchtigung der
Leistungsfähigkeit dar. Es sei auch nicht erforderlich, aus gesundheitlichen Gründen Arbeitstätigkeiten, wie der Kläger
angebe, nach zwei Stunden wieder zu beenden. Weitere fachärztliche Gutachten seien "bei doch sehr umfangreicher
Befundsituation und mehrfach durchgeführten Gutachten" nicht erforderlich.
Der Kläger vertrat die Auffassung, dass sich die bei der Testung im Bezirkskrankenhaus A-Stadt festgestellten
Störungen seiner Merkfähigkeit bei Arbeiten mit diversen Computerprogrammen erschwerend auswirkten. Er teilt mit,
wegen rezidivierender depressiver Störung und Dysthymie in psychotherapeutische Behandlung überwiesen worden
zu sein. Auf Anforderung des Senats übersandte der behandelnde Arzt Dr. B. noch den Untersuchungsbericht vom
12.04.2010, in welchem von einer subdepressiv bis mäßig depressiven Verstimmung im Sinne einer Dysthymie die
Rede ist und psychotherapeutische Behandlung empfohlen wird. Die Beklagte nahm zu den noch eingeholten
medizinischen Unterlagen dahin Stellung, dass sich keine Änderung in der bisherigen Leistungsbeurteilung ergebe; die
durch leichte depressive Überlagerung verursachte leichte Störung des verbalen Neugedächtnisses lasse sich durch
Behandlung bessern und ergebe keine überdauernde quantitative Leistungsminderung.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts
Augsburg vom 18.03.2008 sowie des Bescheids vom 29.07.1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
21.02.2003 zu verurteilen, dem Kläger ab Antragstellung Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen
Berufsunfähigkeit, weiter hilfsweise wegen Erwerbsminderung, teilweiser Erwerbsminderung oder teilweiser
Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie auf die
beigezogenen Rentenakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist zulässig, sie erweist
sich aber nicht als begründet.
Zu Recht hat das Erstgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Rente wegen
Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit bzw. wegen Erwerbsminderung. Die Voraussetzungen der §§ 43, 44 SGB VI in der im
Hinblick auf den Zeitpunkt der Antragstellung noch anzuwendenden bis 31.12.2000 geltenden Fassung sind nicht
gegeben, ebenso besteht keine volle oder teilweise Erwerbsminderung bzw. teilweise Erwerbsminderung bei
Berufsunfähigkeit nach §§ 43 Absätze 1 und 2, 240 SGB VI in der Fassung ab 01.01.2001. Dies steht für den Senat
auf Grund der umfangreichen Beweisaufnahme des Erstgerichts und der ergänzenden Beweisaufnahme im
Berufungsverfahren fest.
Zu Recht hat sich das Erstgericht bei seiner Entscheidung auf das Ergebnis der Gutachten von Dr. W., Dr. F. und Dr.
E. gestützt. Auf internistischem Gebiet ging Dr. W. nach gründlicher Untersuchung des Klägers und Erhebung
umfangreicher technischer Untersuchungsbefunde von einer Hepatopathie, einer (nicht behandlungsbedürftigen)
Polycythämie, einem Belastungshochdruck und einer Stoffwechselstörung aus und hielt für den Senat nachvollziehbar
leichtere Arbeiten ohne Kälte-, Nässe- und Zugluftexposition und Kontakt zu lebertoxischen Substanzen sowie ohne
besondere nervliche Belastungen vollschichtig (acht Stunden täglich) für zumutbar. Bereits im Rentenverfahren hatten
die Internisten Dr. H. und Dr. H. unabhängig von einander trotz Hepatopathie unklarer Genese und Polycythämie beim
Kläger vollschichtige Erwerbsfähigkeit angenommen. Auch aus dem Heilverfahren im Februar/März 2002 war der
Kläger mit einer entsprechenden Beurteilung entlassen worden. Übereinstimmend damit waren auch die vom
Erstgericht zunächst gehörten Gutachter Prof. Dr. S./Dr. K. ebenfalls nicht von einer die Leistungsfähigkeit erheblich
beeinträchtigenden internistischen Erkrankung ausgegangen. Die dennoch von ihnen angenommene, für den Senat
ebenso wie für das Erstgericht nicht nachvollziehbare zeitliche Leistungseinschränkung wurde fachfremd mit der nicht
abschließend geklärten - unspezifischen - Müdigkeitssymptomatik begründet und ohne nähere Auseinandersetzung
auf die Angaben des Klägers gestützt. Diese Auffassung wurde auf nervenärztlichem Gebiet durch die schlüssigen
Ausführungen der Dr. F. widerlegt, die eine Anpassungsstörung mit asthenischen Zügen und ein allenfalls
leichtgradiges depressives Syndrom bei vollschichtiger Leistungsfähigkeit annahm und die vom Kläger subjektiv
geklagte verminderte Belastbarkeit als nicht hinreichend objektivierbar bezeichnete. Die Gutachterin arbeitete heraus,
dass bei Fehlen einer wirklich schwerwiegenden internistischen Hepatopathie wie hier eine organisch-emotionale
Störung beim Kläger auszuschließen sei. Sie widerlegte damit auch klar die Auffassung des Nervenarztes S., der im
Rentenverfahren ein nur mehr unter sechsstündiges Leistungsvermögen mit einer organisch "gefärbten" Störung
begründet hatte. Sein Gutachten kann damit als überholt angesehen und ebenso wie die Leistungsbeurteilung von
Prof. Dr. S./Dr. K. als nicht nachvollziehbar bezeichnet werden.
Auch der wegen geltend gemachter psychischer Verschlechterung beauftragte Gutachter Dr. E. kommt zu einem
ähnlichen Ergebnis wie Dr. F., formuliert aber noch deutlicher, dass mangels einer organmedizinischen Grundlage für
die Beschwerden des Klägers und mangels eines greifbaren psychopathologischen Befundes am ehesten wohl von
der Fehlverarbeitung einer Befindlichkeitsstörung und als Folge davon von einem verbliebenen vollschichtigen
(achtstündigen ) Leistungsvermögen für leichte körperliche Arbeiten ohne besondere nervliche Belastungen
auszugehen sei. Das Gutachten, das sich auch mit vorangegangenen abweichenden Beurteilungen auseinandersetzt,
überzeugt in der Befunderhebung wie in der Leistungsbeurteilung und wird durch die aktuellen Befunde des
behandelnden Arztes Dr. B. bestätigt, wonach lediglich von einem leichten depressiven Syndrom und leichter
Beeinträchtigung des Neugedächtnisses die Rede ist.
Durch die zusätzliche Beweisaufnahme im Berufungsverfahren, der erneuten internistischen Begutachtung, steht für
den Senat auch fest, dass trotz des Hinzutretens weiterer Diagnosen, insbesondere der HIV-Infektion, weiterhin ein
ausreichendes Leistungsvermögen für körperlich leichte Arbeiten ohne besondere Anforderungen an die nervliche
Belastbarkeit besteht. Der Gutachter M. legte überzeugend dar, dass er beim Kläger keine Symptome gravierender
Gesundheitsstörungen im Bereich der inneren Organe und des Bewegungsapparates gefunden habe, dass sich die
Hepatopathie weiter stabilisiert habe und weder die neu festgestellte, mit sehr geringer Viruslast verbundene HIV-
Infektion noch die seit langem bestehende Polycythämie derzeit eine kausale Therapie erforderten. Das Gutachten
vom 11.03.2010 ist in sich schlüssig und überzeugend. Der Senat schließt sich seiner Leistungsbeurteilung in vollem
Umfang an und sieht keine Notwendigkeit zu weiteren medizinischen Ermittlungen, da der Sachverhalt ausreichend
geklärt ist.
Auszugehen ist damit beim Kläger mit dem Erstgericht von einem Leistungsvermögen von sechs Stunden täglich und
mehr, auch von acht Stunden, für leichtere körperliche Arbeiten ohne besondere Anforderungen an die nervliche
Belastbarkeit. Mit diesem nicht eingeschränkten zeitlichen Leistungsvermögen ist der Kläger weder erwerbsunfähig (§
44 SGB VI a.F.) noch voll oder teilweise erwerbsgemindert (§ 43 Abs.1 und 2 SGB VI n.F.), ebenso ist er nicht
berufsunfähig (§ 43 SGB VI a.F., 240 SGB VI n.F.). Dabei kann dahin gestellt bleiben, ob er tatsächlich als
Chemiemeister nicht mehr einsetzbar ist, weil der Kontakt mit lebertoxischen Stoffen dabei möglicherweise nicht
auszuschließen ist. Jedenfalls ist der Kläger in seinem Umschulungsberuf als Mediengestalter als vollschichtig
einsatzfähig anzusehen. Diesen Beruf übt er auch tatsächlich neben anderen Tätigkeiten aus. Dass er dies nur in
zeitlich sehr begrenzten Umfang tut, ist nicht medizinisch begründet. Besondere Anforderungen an die nervliche
Belastbarkeit sind nicht notwendig mit dieser Tätigkeit verbunden. Auch die in der neuropsychologischen Diagnostik
zuletzt festgestellte leichte Beeinträchtigung des verbalen Neugedächtnisses wirkt sich nicht wesentlich aus. Sie ist
nach den Unterlagen des Dr. B. bei fehlendem eindeutigem neuropsychologischem Defizit am ehesten durch die
Überlagerung durch ein (leichtes) depressives Syndrom "mit funktioneller Relevanz" zu erklären, das zudem nach
nunmehr veranlasster psychotherapeutischer Behandlung Besserung erwarten lässt.
Bei dieser Sachlage konnte die Berufung keinen Erfolg haben. Sie war mit der Kostenfolge aus § 193 SGG
zurückzuweisen.
Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 160 Abs.2 SGG sind nicht ersichtlich.