Urteil des LSG Bayern vom 07.08.2008
LSG Bayern: einkünfte, arbeitsentgelt, arbeitskraft, gesellschaft, bürgschaft, firma, versicherungsverhältnis, fehlerhaftigkeit, erschleichung, versicherungsträger
Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 07.08.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 7 KR 102/06
Bayerisches Landessozialgericht L 4 KR 85/07
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 30. November 2006 aufgehoben
und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über das Bestehen eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses im
Zeitraum 01.11.1986 bis 31.12.2005.
Die 1962 geborene Klägerin war seit 01.05.1980 Mitglied der Beklagten. Am 26.10.2005 kündigte sie ihre
Mitgliedschaft zum 31.12.20.05 und ist seit 01.06.2006 bei der H. Krankenkasse (H.) freiwillig versichert.
Vom 01.11.1986 bis 31.05.1992 war sie als Kassiererin bei der Esso-Station-Tankstelle beschäftigt, die ihr Ehemann (
B.) gepachtet hatte. Zum Tankstellenbetrieb kamen im Laufe der Zeit neben einer kleinen Werkstatt ein Autoverleih
und ein Abschleppdienst hinzu. Nachdem der Pachtvertrag nicht verlängert worden war, wurden der Autoverleih und
der Abschleppdienst ab 01.06.1992 an einem neuen Standort betrieben, wo die Klägerin bei der Beigeladenen zu 1) -
der Firma ihres Ehemannes - weiter tätig war. Für beide Tätigkeiten (01.05.1980 bis 31.05.1992 und 01.06.1992 bis
31.12.2005) wurden vom Entgelt Sozialversicherungsbeiträge abgeführt.
Nach den für die Zeit von 1989 bis 2006 vorliegenden Einkommensteuerbescheiden für die Klägerin und deren
Ehemann wurden jeweils die Einkünfte aus dem Gewerbebetrieb und die Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit der
Klägerin bei der Berechnung des zu versteuernden Einkommens in Ansatz gebracht.
Im Oktober 2005 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Überprüfung des sozialversicherungsrechtlichen
Status. Sie vertrat insoweit die Auffassung, dass sie seit dem 01.11.1986 dem Personenkreis der selbständig Tätigen
zuzuordnen sei. U.a. gab sie an, sie habe ihre Tätigkeit frei bestimmen und gestalten können. Sie habe bei der
Führung des Betriebs mitgewirkt und ihre Mitarbeit sei aufgrund familienhafter Rücksichtnahmen durch ein
gleichberechtigtes Nebeneinander zum Betriebsinhaber geprägt gewesen. Ihre ausgeübte Tätigkeit habe im
Vermieten, Abschleppen, Buchhaltung, Bank, Organisation, Aufträge, Verträge und Personalmanagement bestanden.
Das dafür erhaltene Arbeitsentgelt in Höhe von ca. 1.500,00 EUR habe nicht dem tariflichen bzw. dem ortsüblichen
Lohn/Gehalt entsprochen. Sie habe dem Unternehmen ihres Ehemannes Bürgschaften in Höhe von 503.000,00 EUR
gewährt. Die gesamten Forderungen seien über eine Grundschuld abgesichert, wo sie mit ihrem Ehemann
gemeinsame Eigentümer seien. Sie würde ferner mit ihrem Ehemann eine BGB-Gesellschaft für das vorhandene
Eigentum bilden. Diese sei an die Einzelunternehmung vermietet.
Mit Bescheid vom 09.11.2005 stellte die Beklagte für die Zeit ab 01.11.1986 das Vorliegen eines abhängigen
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses der Klägerin fest. Ein solches Beschäftigungsverhältnis
sei von ihrem Ehemann ab 01.11.1986 gemeldet worden, wobei auch ordnungsgemäß Beiträge entrichtet worden
seien. Bislang hätten sowohl der Ehemann als auch sie das Beschäftigungsverhältnis nicht in Frage gestellt. Vom
Arbeitsentgelt seien Lohnsteuern entrichtet worden und das Entgelt sei auch als Betriebsausgabe verbucht worden.
Allein die Eintragung der Grundschuld reiche nicht für die Annahme einer selbständigen Tätigkeit aus.
Der dagegen erhobene Widerspruch blieb mit Widerspruchsbescheid vom 22.02.2006 erfolglos.
Zur Begründung der dagegen zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin im Wesentlichen auf
ihr bisheriges Vorbringen verwiesen.
Mit Urteil vom 30.11.2006 hat das SG unter Aufhebung des Bescheides vom 09.11.2005 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 22.02.2006 festgestellt, dass die Klägerin in ihren Tätigkeiten ab 01.11.1986 bis
einschließlich 31.12.2005 nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei. Zur Begründung hat es im
Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin habe keine fremde Arbeitskraft ersetzt. Die von ihr verrichteten Tätigkeiten
seien nicht aufgrund von arbeitsvertraglichen Vereinbarungen mit ihrem Ehemann als Inhaber der Esso-Tankstelle und
später der Beigeladenen zu 1) erbracht worden. Sie hätten sich aus den tatsächlichen Verhältnissen ergeben. Für die
Klägerin sei es selbstverständlich gewesen, bei ihrem Ehemann mitzuarbeiten, soweit es notwendig gewesen sei, um
den wirtschaftlichen Erfolg sicherzustellen. Die Arbeiten hätten einen Umfang erreicht, dem mit dem tatsächlich
gezahlten Entgelt nicht Rechnung getragen worden sei. Im Verhältnis der Klägerin zu ihrem Ehemann fehle es an
wesentlichen Merkmalen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses, was sich insbesondere durch das
wirtschaftliche Engagement der Klägerin zeige. Insbesondere vor diesem Hintergrund falle auch der Umstand, dass
die Zahlungen an die Klägerin als Betriebsausgaben verbucht worden seien und sie als sozialversicherungspflichtig
gemeldet worden sei, nicht mehr wesentlich ins Gewicht.
Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten, die nach wie vor unter Auswertung der maßgeblichen
Rechtsprechung die Auffassung vertritt, dass die Klägerin im gesamten Zeitraum abhängig beschäftigt gewesen sei.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 30.11.2006 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt.
Im Übrigen wird zur weiteren Darstellung des Tatbestandes auf den Inhalt der beigezogenen Akten und der
gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingereichte Berufung ist zulässig (§§ 144, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Ihr zugrunde
liegt eine zulässige Feststellungsklage gemäß § 55 SGG und nicht lediglich die Klage auf ein einzelnes Element einer
auf Beitragserstattung gerichteten Klage. Das Rechtsschutzinteresse, auch nachträglich über den Versichertenstatus
Klarheit zu erlangen, ist der Klägerin auch für die Vergangenheit zuzubilligen.
Die Berufung erweist sich auch in der Sache als begründet, da das Urteil des SG nicht der Sach- und Rechtslage
entspricht und von daher aufzuheben war.
Die Tätigkeit der Klägerin im Betrieb ihres Ehemannes von November 1986 bis Ende Dezember 2005 erfüllt
Merkmale, die sowohl für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis sprechen und damit zur grundsätzlichen
Sozialversicherungspflicht führen. Andererseits liegen auch Tatbestände vor, die für einen Status als Selbständige
sprechen, die nicht pflichtversichert ist. Bei dieser Abwägung ist der Entscheidung des SG nicht zu folgen, weil
Gesichtspunkte überwiegen, die für eine Arbeitnehmereigenschaft sprechen.
Maßstab für die Beurteilung ist § 7 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) und die hierzu ergangene vielfältige
Rechtsprechung. Danach ist unter Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, vorrangig in einem Arbeitsverhältnis zu
verstehen. Ein solches ist anzunehmen, wenn ein Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer
Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies anzunehmen, wenn der Beschäftigte in den Betriebsablauf
eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des
Arbeitgebers unterliegt, wobei der zugewiesene Verantwortungsbereich sich in einem engen oder auch weitem
Rahmen bewegen kann. Der Arbeitnehmer ist auch frei von Geschäftsrisiken bzw. wirtschaftlichem Engagement und
besitzt keine eigene Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft liegt beim Arbeitgeber. Ist
dies alles nicht der Fall, ist von einer selbständigen Tätigkeit auszugehen. Somit hängt die Statusfeststellung davon
ab, welche Merkmale im Einzelnen überwiegen, wobei maßgeblich das Gesamtbild der Arbeitsverrichtung ist (vgl.
hierzu BSG vom 24.01.2007 - B 12 KR 31/06 R -, abgedruckt in Beiträge Beil. 07, 212, 215). Liegt ein derartiges
Beschäftigungsverhältnis nach § 7 Abs.1 SGB IV vor, zieht dies die Versicherungs- bzw. Beitragspflicht in den
verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung nach sich (§ 1 Satz 1 Nr.1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB
VI - bezüglich der Rente, § 25 Abs.1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch - SGB III - und deren Vorläufervorschrift § 168
Abs.1 Arbeitsförderungsgesetz - AFG - für die Arbeitslosenversicherung, § 5 Abs.1 der Nr.1 Fünftes Buch
Sozialgesetzbuch - SGB V - für die Krankenversicherung und § 20 Abs.1 Nr.1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB
IX - für die Pflegeversicherung).
Die Klägerin selbst ist offensichtlich bis zur Antragstellung im Oktober 2005 davon ausgegangen, dass sie
sozialversicherungspflichtig bei ihrem Ehemann über den gesamten Zeitraum beschäftigt war. So erhielt die Beklagte
von der Esso-Station-Tankstelle B. und der Firma Autoverleih und Abschleppdienst B. jeweils eine Anmeldung nach
der DEÜV über den Beginn einer abhängigen, sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung als Arbeitnehmerin zum
01.11.1986 bzw. 01.06.1982. Dementsprechend wurden auch von ihrem Ehemann als Arbeitgeber die
Gesamtsozialversicherungsbeiträge abgeführt und die entsprechenden Entgeltmeldungen abgegeben. Aufgrund der
erstellten Meldungen hat die Beklagte die abgeführten Sozialversicherungsbeiträge im schlichten Verwaltungshandeln
entgegen genommen und an die entsprechenden Versicherungsträger weiter geleitet. Hinzu kommt, dass ausweislich
der für die Zeit von 1989 bis 2006 vorliegenden Einkommensteuerbescheide die Klägerin und ihr Ehemann jeweils die
Einkünfte aus dem Gewerbebetrieb und die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit der Klägerin bei der Berechnung
des zu versteuernden Einkommens in Ansatz gebracht haben. Diese Übung wurde im gesamten Zeitraum November
1986 bis 31.12.2005 auch beigehalten, also für einen Zeitraum von nahezu 20 Jahren.
Es sprechen keine rechtlichen vernünftigen Gründe dafür, nunmehr rückwirkend in das jahrelang mit Billigung der
Beteiligten bestehende Versicherungsverhältnis einzugreifen. Schwerwiegende Fehler, Ungereimtheiten oder
Erschleichung eines Versicherungsschutzes sind auszuschließen. Gerade weil eine solche in die Vergangenheit
zielende Umwandlung eines jahrelang aus dem Blickwinkel verschiedenster Beteiligter zutreffenden Rechtszustandes
zu solchen Unklarheiten und Unsicherheiten wie hier führen, hat das BSG den einleuchtenden Rechtssatz formuliert,
dass die Versicherungsverhältnisse grundsätzlich nicht geändert werden sollen (BSG vom 08.12.1999 - BSGE 85,
208, 213). Der Gedanke von der Kontinuität eines Versicherungslebens, wonach Änderungen darin erst für die Zukunft
gelten sollen, ist ein beachtlicher Grundsatz und Grundlage einer soliden Zukunftssicherung, wie sie von der
Beigeladenen zu 3) ohne Rücksicht auf konjunkturbestimmte oder andere Gestaltungsmöglichkeiten konstant zu
leisten ist (so schon der Senat im Urteil vom 18.10.2007 - L 4 KR 79/06). Dass Änderungen in die Vergangenheit
schon aus Abgrenzungsschwierigkeiten problematisch sind, zeigt der vorliegende Fall deutlich.
Hinzu kommt, dass die Klägerin nicht Mitinhaberin der Betriebe ihres Ehegatten war. Weder lag eine
Mitunternehmerschaft vor, noch wurde ein Unternehmerrisiko getragen. Auch die Gewährung eines Darlehens bzw. die
Übernahme einer Bürgschaft ändert hieran nichts. Zwar kann die Gewährung von Krediten ein Indiz gegen ein
abhängiges Beschäftigungsverhältnis sein. Durch die Gewährung eines Darlehens erhält die Darlehensgeberin jedoch
keine Befugnisse, die Geschicke des Betriebes zu beeinflussen. Hieraus entsteht auch kein Betriebsrisiko, denn die
Tragung dieser Risiken findet ihre Rechtfertigung in den eherechtlichen Beziehungen. Außerdem werden
selbstschuldnerische Bürgschaften üblicherweise von Kreditinstituten bei der Kreditgewährung an verheiratete
Schuldner verlangt. Somit reicht allein die Gewährung eines Darlehens bzw. die Übernahme einer Bürgschaft nicht
aus, um die Klägerin als Selbständige einzustufen. Unerheblich ist es dabei auch, dass es sich bei der
Eigentümergemeinschaft den Angaben der Klägerin gemäß um eine BGB-Gesellschaft handelt, da diese nur die
Vermietung eines Grundstücks betrifft und sich gerade nicht auf die Betriebe bezieht, in denen die Klägerin
beschäftigt war. Auch bestätigt der Ergebnisbericht über die Betriebsprüfung, dass die versicherungsrechtliche
Beurteilung durch die Beklagte zutreffend war.
Auch das Vorbringen der Klägerin, sie habe eigenverantwortlich gehandelt und ihr seien keine Weisungen erteilt
worden, weil ihr ihr Ehemann bei ihrer Berufsausübung im Wesentlichen freie Hand gelassen habe, ist nicht geeignet,
eine andere Entscheidung herbeizuführen. Denn die Abhängigkeit unter Familienangehörigen ist im Allgemeinen
weniger stark ausgeprägt als in Betrieben außerhalb eines Familienverbundes. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen,
dass die Klägerin (sogar noch) beim Kassenwechsel zur H. auf der Beitrittserklärung wieder den Betrieb ihres
Ehemannes als Arbeitgeber angegeben hat.
Selbst wenn man die Indizien für und wider Selbständigkeit als gleichwertig einschätzt, folgt daraus nicht die
Fehlerhaftigkeit des bis zur Antragstellung im Oktober 2005 als richtig angesehenen Versichertenstatus. Denn dann
ist letztlich auf das seinerzeit Gewollte abzustellen, welches durch tatsächliche Übung wie Abführung von Beiträgen
etc. auch nach außen hin bestätigt wurde.
Somit waren auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Aufgrund des Unterliegens der Klägerin sind ihr keine Kosten zu erstatten (§ 193 SGG).
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs.2 Nrn. 1 und 2 SGG).