Urteil des LSG Bayern vom 31.01.2003

LSG Bayern: versorgung, befristung, form, rahmenvertrag, absicht, pflegeleistung, qualifikation, bayern, kreis, inhaber

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 31.01.2003 (rechtskräftig)
Sozialgericht Bayreuth S 1 P 77/02 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 7 B 405/02 P ER
Auf die Beschwerde hin werden die Beschwerdegegner/innen unter Abänderung des Beschlusses des Sozialgerichts
Bayreuth vom 10. Oktober 2002 verpflichtet, den mit der Beschwerdeführerin abgeschlossenen Versorgungsvertrag
gemäß § 72 SGB XI bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens, längstens bis 31. Dezember 2003, zu
verlängern. Die Beschwerdegegner/innen haben die Kosten des Antrags- und Beschwerdeverfahrens zu tragen und
der Beschwerdeführerin die außergerichtlichen Kosten des Antrags- und Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe:
I.
Die 1957 geborene Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Bf.) hat eine Ausbildung als Krankenschwester und mit
dem Zertifikat vom 24.08.1999 des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe, LV Bayern, die Qualifikation
"Leitung einer ambulanten Pflegeeinrichtung" erworben. Sie beantragte am 23.08.2001 den Abschluss eines
Versorgungsvertrages gemäß § 72 SGB XI für eine ambulante Pflegeneinrichtung und gab an, im Pflege- und
Betreuungsbereich eine in Teilzeit tätige Altenpflegerin und als geringfügig Beschäftigte eine Haus- und
Familienpflegehelferin anzustellen. Sie legte eine von ihr und der Inhaberin des Pflegdienstes A. unterzeichnete
Erklärung vom 11.09.2001 vor, wonach sich bei Ausfall der jeweils verantwortlichen Pflegefachkraft der Pflegedienst
A. und die Einrichtung der Bf. gegenseitig vertreten.
Zwischen der Bf. und den Landesverbänden der Pflegekassen kam ein Versorgungsvertrag gemäß § 72 SGB X für
ambulante Pflege zu Stande, befristet für die Zeit vom 1. September 2001 bis 31. August 2002. Der Vertrag enthält
den Zusatz, er könne auf Antrag verlängert werden, wenn mindestens zwei Monate vor Ablauf der Befristung die
Einstellung einer Vollzeitfachkraft nachgewiesen werde.
Mit Schreiben vom 03.08.2002 lehnte die Arbeitsgemeinschaft der Pflegekassenverbände in Bayern (ARGE) eine
Verlängerung des Versorgungsvertrages mit der Begründung ab, die zusätzliche Neueinstellung einer Pflegefachkraft
in Vollzeit sei bisher nicht erfolgt. Auch gehe aus den Unterlagen nicht hervor, wer die veranwortliche Pflegefachkraft
vertrete und welche Qualifikation diese Person habe; sollte die stellvertretende verantwortliche Pflegekraft Frau H.
sein, so sei dies nach den gesetzlichen und vertraglichen Bestimmungen nicht möglich, da sie Altenpflegehelferin und
somit keine Pflegefachkraft im Sinne des Gesetzes sei.
Am 14.08.2002 hat die Bf. beim Sozialgericht Bayreuth (SG) beantragt, die Antragsgegner/innen und
Beschwerdegegner/innen (Bg.) im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, bis zum rechtskräftigen
Abschluss eines Hauptsacheverfahrens einen Versorgungsvertrag gemäß § 72 SGB XI abzuschließen.
Systembedingt bestimme nicht der tatsächliche Pflegebedarf, sondern ausschließlich der Kunde, in welchem Umfang
Pflegeleistungen in Anspruch genommen würden. Nach dem Rahmenvertrag müsse der Pflegedienst nur rund um die
Uhr erreichbar sein. Dies sei hier gewährleistet, da die Bf. über ein Handy verfüge. Der Rahmenvertrag und die
gesetzlichen Regelungen erforderten nicht, dass der Pflegedienst "ständig, rund um die Uhr" mit examniertem
Pflegepersonal besetzt sein müsse. Die Bg. hätten eine Zwangslage der Bf. ausgenutzt und lediglich einen befristeten
Vertrag abgeschlossen, obowhl dies rechtswidrig sei.
Mit Beschluss vom 10.10.2002 hat das SG die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt und festgestellt,
dass die noch bestehende Versorgung von Versicherten durch die Bf. spätestens mit Ablauf des 15.11.2002 ende.
Ein Anordnungsanspruch sei nicht gegeben. Es müsse bei allen zugelassenen Pflegediensten eine Versorgung "rund
um die Uhr" sichergestellt sein. Der Pflegedient der Bf. erfülle diese Voraussetzungen unzweifelhaft nicht, da lediglich
eine Vollzeitkraft, eine ca. halbschichtige Teilzeitkraft und zwei Aushilfskräfte vorhanden seien. Dadurch lasse sich
lediglich ein "Einschichtbetrieb" durchführen. Dies lasse sich auch nicht durch irgend geartete Kooperationen aus-
gleichen, da insoweit die erforderliche Tranparenz fehle.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde der Bf., die geltend macht, das Gesetz sehe den Abschluss
eines befristeten Versorgungsvertrages nicht vor. Im Übrigen sei die Bf. in der Lage, die pflegerischen Leistungen
rund um die Uhr organisatorisch und inhaltlich zu gewährleisten. Ausreichend sei, dass sie die Pflegeeinsätze
organisiere und die Erbringung der Pflegeleistungen in der Art und Weise sicherstelle, dass den eingesetzten
Pflegekräften hinreichend exakte Anweisungen gegeben würden, wie die Pflege durchzuführen sei, und die Einhaltung
dieser Vorgaben überbracht werde. Der Personalbedarf eines Pflegedienstes hänge davon ab, wieviel Patienten zu
versorgen und welche Versorgungsleistungen dort jeweils zu erbringen seien. Auf diesen individuellen Pflegebedarf
stelle auch Ziffer 3.1.1.1 der gemeinsamen Grundsätze und Maßstäbe zur Qualität und Qualitätssicherung
einschließlich des Verfahrens zur Durchführung von Qualitätsprüfungen nach § 80 SGB XI in der ambulanten Pflege
vom 10. Juli 1995 ab, die darüber hinaus die Bildung regionaler Kooperationen ausdrücklich vorsehe. Unter
wirtschaftlichen Gesichtspunkten sei die Einstellung einer weiteren Vollzeitkraft nicht möglich, da angesichts der
geringen Anzahl von Patienten die hierfür entstehenden Kosten nicht erwirtschaftet werden könnten. In einem
Schreiben der ARGE vom 17.11.1998 sei eine Kooperation mit anderen zugelassenen ambulanten Diensten anheim
gestellt worden. Die aus § 72 Abs.3 Satz 2 SGB XI erkennbare Absicht des Gesetzgebers, den Wettbewerb unter den
Pflegediensten zu fördern, werde durch die Rechtsauffassung der Bg. unterminiert, da sie die Gründung neuer
Pflegedienste, die sich naturgemäß erst einen Kundenstamm aufbauen müssten, verhindern würden.
Die Beklagte macht geltend, aus § 72 Abs.4 Satz 1 SGB XI ergebe sich die Zulässigkeit einer Befristung. Die
Orgaisationsstruktur der Einrichtung der Bf. erfülle nach wie vor nicht die Anforderungen, die an einen ambulanten
Pflegedienst gestellt werden müssten. Die im Beschwerdeschreiben behauptete Kooperation sei nicht nachgewiesen.
Im Übrigen müsse ein Pflegedienst die Pflegeleistungen im Rahmen des Versorgungsvertrages selbst erbringen.
Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
II.
Die gemäß § 172 Abs.1 SGG statthafte und gemäß § 173 Satz 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde
ist zulässig und sachlich insoweit begründet, als die Beklagte verpflichtet ist, den Versorgungsvertrag vorläufig bis
31.12.2003 zu verlängern.
Gemäß § 86b Abs.2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint. Letzteres ist hier der Fall, da der Bf. durch die Nichtverlängerung des Versorgungsvertrages wesentliche
Nachteile entstehen, da sie gemäß § 72 Abs.4 Satz 1 SGB XI erst mit Abschluss des Versorgungsvertrages zur
pflegerischen Versorgung der Versicherten zugelassen ist, und ihr deshalb ohne diesen Vertrag der zahlenmäßig ganz
überwiegende Teil der gesetzlich versicherten Pflegebedürftigen verschlossen ist.
Auch ein Anordnungsanspruch ist bei summarischer Prüfung und unter Abwägung der Interessen der Bf. an einer
vorläufigen Regelung einerseits und denen der Bg. an einer angemessenen Versorgung der Versicherten andererseits
zu bejahen. Gemäß § 72 Abs.3 Satz 1 SGB XI hat die Bf. Anspruch auf Abschluss eines Versorgungsvertrages,
soweit sie u.a. die Gewähr für eine leistungsfähige und wirtschaftliche pflegerische Versorgung bietet. Die sich hieraus
für eine Zulassung nach § 72 SGB XI ergebenden Anforderungen müssen sich im Hinblick darauf, dass gemäß Art.12
Abs.1 Satz 2 Grundgesetz (GG) die Berufsausübung nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelt werden
kann, aus dem Gesetz selbst ergeben; die gemäß § 80 SGB XI getroffenen Qualitätsvereinbarungen stellen hingegen
keine wirksame Grundlage für Regelungen von Zulassungsvoraussetzungen dar, jedenfalls soweit sie den gesetzlich
gesteckten Rahmen überschreiten (vgl. BSG vom 24.09.2002, B 3 P 14/01 R).
Ob eine Einrichtung die Gewähr für eine leistungsfähige und wirtschaftliche pflegerische Versorgung im Sinne des §
72 Abs.3 Satz 1 Nr.2 SGB XI in der Fassung des Gesetzes vom 09.09.2001 (BGBl.I S.2320) bietet, ist deshalb nach
der erkennbaren gesetzgeberischen Zielsetzung zu bestimmen. Voraussetzung ist das Vorhandensein einer
Pflegeeinrichtung im Sinne des § 71 Abs.1 SGB XI, die ein Mindestmaß an Organisationsstruktur voraussetzt, die
über die Existenz einer einzelnen Pflegekraft hinausgeht (vgl. Udsching, SGB XI, 2.Aufl., Rdnr.4 zu § 71); dies ergibt
bereits der Vergleich mit § 77 Abs.1 S.1 SGB XI, der einen Vertrag mit einzelnen geeigneten Pflegekräften vorsieht.
Hierbei kann dahinstehen, ob eine Einrichtung auf Dauer zuzulassen ist, die nur Teilbereiche abzudecken
beabsichtigt, etwa ausschließlich Tages-, Nacht- oder Wochenendpflege (so Udsching a.a.O.). Denn aufgrund der
vorliegenden Umstände kann damit gerechnet werden, dass die Einrichtung der Bf. auch eine Versorgung "rund um
die Uhr" gewährleisten kann.
Hierbei scheint die Forderung der Bf., als Voraussetzung für die Verlängerung des Versorgungsvertrages "die
Einstellung von einer Vollzeitfachkraft" bereits nach einem Jahr zu den gesetzgeberischen Intentionen nicht gerecht
zu werden. Zu Recht weist die Bf. darauf hin, dass durch diese Forderung der Aufbau privater Einrichtungen erheblich
erschwert würde, da erst ein entsprechend großer Kreis an Pflegebedürftigen gewonnen werden muss, bevor eine
Einrichtung zusätzlich mit einer angestellten Vollzeitpflegekraft, neben dem Inhaber selbst, wirtschaftlich betrieben
werden kann. Aus § 72 Abs.3 Satz 2 SGB XI, wonach bei der notwendigen Auswahl zwischen mehreren geeigneten
Pflegeeinrichtungen die Versorgungsverträge vorrangig mit frei gemeinnützigen und privaten Trägern abgeschlossen
werden sollen, ist in der Tat die Absicht des Gesetzgebers erkennbar, den Wettbewerb gerade durch eine
ausreichende Anzahl von privaten Trägern zu sichern, was letztlich auch den Pflegekassen und den Versicherten
zugute kommt.
Hiervon ausgehend kann das Erfordernis einer "Pflege rund um die Uhr" nicht nur durch die abhängige Beschäftigung
einer Vollzeitfachkraft sichergestellt werden; in Betracht kommt daneben die Beauftragung eines freien Mitarbeiters
oder der Betrieb einer Pflegeeinrichtung in Form einer Gesellschaft mit mehreren gleichberechtigten Pflegefachkräften
als Gesellschafter. Darüber hinaus ist eine Kooperation mit anderen zugelassenen Pflegeeinrichtungen denkbar, der
eine Vertragsgestaltung zugrunde liegt, die bezüglich der Effizienz der Pflegeleistung gegenüber den Versicherten
einer in Gesellschaftsform betriebenen Einrichtung gleichkommt; dieser Auffassung sind offensichtlich auch die
Spitzenverbände der Pflegekassen, wie sich aus Ziffer 3.1.1.1 der gemeinsamen Grundsätze nach § 80 SGB XI
ergibt, wonach Kooperationen in der Region gebildet werden können. Allerdings muss diese Kooperation erkennen
lassen, welche Einrichtung letztlich für die Pflegeleistung verantwortlich ist.
Die Bf. hat geltend gemacht, in erforderlicher und ausreichender Weise mit einem anderen Pflegedienst zu
kooperieren. Nähere Feststellungen sind hierzu bisher nicht getroffen worden. Dennoch erscheint es bei der
durchzuführenden Interessenabwägung geboten, die Bf. zunächst befristet weiterhin zuzulassen und ihr in dieser Zeit
Gelegenheit zu geben, die Form der Kooperation nachzuweisen. Eine Befristung im Rahmen dieser Anordnung ist
auch deshalb angezeigt, da nicht ersichtlich ist, dass bisher ein Hauptsacheverfahren anhängig ist. Für diesen Fall
kann die vorläufige Anordnung durch Entscheidung des SG verlängert werden, soweit sich dies unter Beachtung der
dargestellten Grundsätze als angemessen erweist. Die Frage, ob und inwieweit befristete Versorgungsverträge
zulässig sind, kann im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes offen bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs.1 Satz 1 SGG in der Fassung des Gesetztes vom 17.08.2001 BGBl.I
S.2144).
Dieser Beschluss ist nicht weiter anfechtbar (§ 177 SGG).