Urteil des LSG Bayern vom 15.07.2005

LSG Bayern: unechte rückwirkung, drucksache, gesetzesänderung, belastung, dispositionen, eingriff, veröffentlichung, zahlungsunfähigkeit, bundesrat, aussetzung

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 15.07.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 46 AL 1026/04
Bayerisches Landessozialgericht L 8 AL 476/04
Bundessozialgericht B 11a AL 17/06 R
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 29. Oktober 2004 wird
zurückgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Insolvenzgeldes (Insg) streitig.
Der 1974 geborene Kläger war als Eishockeyspieler bei der SC R.-Eishockey-Vermarktungs-GmbH beschäftigt. Mit
Beschluss des Amtsgerichts W. - Insolvenzgericht - vom 23.02.2004 (Geschäftsnummern IN 446/03, IN 438/03)
wurde über das Vermögen dieses Betriebes das Insolvenzverfahren eröffnet.
Mit Schreiben des vorläufigen Insolvenzverwalters vom 18.12.2003 war für den Kläger Insg beantragt und angegeben
worden, das Arbeitsverhältnis sei zum 31.12.2003 gekündigt worden. Ihm stehe für die Monate Oktober bis Dezember
ein durchschnittliches monatliches Bruttogehalt in Höhe von 8.200,00 EUR zu. In der späteren
Insolvenzbescheinigung des Insolvenzverwalters vom 02.03.2004 wurde für die Monate Oktober bis Dezember 2003
jeweils ein Bruttogehalt von 5.100,00 EUR, dementsprechend ein Nettoarbeitsentgelt von 3.377,41 zugrunde gelegt.
Mit Bescheid vom 15.04.2004 bewilligte die Beklagte für die Monate Oktober bis Dezember 2003 Insg in Höhe von
insgesamt 10.132,23 EUR. Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, die Verringerung des
Auszahlungsbetrages gegenüber dem ihm tatsächlich zugestandenen Bruttoarbeitsentgelt beruhe offensichtlich auf
der zum 01.01.2004 eingetretenen Gesetzesänderung, die erst am 27.12.2003, also zu einem Zeitpunkt, in dem das
hier streitige Insolvenzverfahren bereits gelaufen sei, veröffentlicht worden sei. Diese Regelung stelle eine
unzulässige Rückwirkung dar, soweit sie Insolvenzverfahren betreffe, die durch Antragstellung bereits vor
Veröffentlichung der Gesetzesänderung begonnen hätten. Der Kläger habe auf die geltende Gesetzeslage vertraut und
unter diesen Voraussetzungen seine Tätigkeit fortgesetzt. Hätte er bereits im November gewusst, dass eine
Anspruchskürzung vorgenommen würde, hätte er sich sehr viel schneller um einen neuen Arbeitgeber bemüht.
Mit Widerspruchsbescheid vom 17.06.2004 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die
Neuregelung des § 185 SGB III finde in Fällen Anwendung, in denen das Insolvenzereignis nach dem 31.12.2003
eintrete; auf die Lage des Insg-Zeitraumes komme es hierbei nicht an.
Mit seiner zum Sozialgericht München (SG) erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen, in seinem Fall sei § 185
SGB III in der bis zum 31.12.2003 gültigen Fassung anzuwenden, da die Änderung zum 01.01.2004 eine für ihn
nachteilige Rückwirkung enthalte und in Rechtspositionen eingreife, welche er zu diesem Zeitpunkt bereits innegehabt
habe. Die Regelung stelle eine willkürliche Rückwirkung verbunden mit einer willkürlichen Ungleichbehandlung dar,
soweit sie Insolvenzverfahren betreffe, die durch Antragstellung vor Veröffentlichung der Gesetzesänderung begonnen
hätten. Es handle sich auch nicht um einen Fall, in dem die Rechtslage unklar und verworren gewesen sei, was den
Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des BVerfG berechtigen würde, die Gesetzeslage zu ändern.
Mit Urteil vom 29.10.2004 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Beklagte habe im Widerspruchsbescheid vom
17.06.2004 ausführlich und zutreffend dargelegt, dass dem Kläger über das bewilligte Insg hinaus keine weitere
Leistung zustehe. Die Neuregelung des § 185 SGB III sowie die Übergangsvorschrift des § 434j Abs.12 Nr.5 SGB III
seien nicht verfassungswidrig. Letztere knüpfe an den Zeitpunkt des Insolvenzereignisses an. Damit liege keine echte
Rückwirkung vor.
Mit seiner Berufung führt der Kläger aus, das SG führe keine wesentlichen neuen Gesichtspunkte an. Tatsache sei,
dass hier in dem Gesetz eine unzulässige Rückwirkung und eine willkürliche Ungleichbehandlung enthalten seien.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts München vom 29.10.2004 sowie den Bescheid vom 15.04.2004 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.06.2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm weitere
9.367,77 EUR Insolvenzgeld zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist auf ihre im bisherigen Schriftverkehr vertretene Auffassung.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Verwaltungsunterlagen der Beklagten und der
Verfahrensakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig (§§ 143,151 SGG), ein Ausschließungsgrund (§ 144 Abs.1 SGG) liegt nicht vor. In der
Sache erweist sich das Rechtsmittel als unbegründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen, da dem Kläger
höheres Insg nicht zusteht.
Gemäß § 185 Abs.1 SGG in der Fassung des Hartz-III-Gesetzes vom 23.12.2003 (Bundesgesetzblatt I 2848) wird
Insg in Höhe des Nettoarbeitentgelts geleistet, das sich ergibt, wenn das auf die monatliche
Beitragsbemessungsgrenze (§ 341 Abs.4 SGB III) begrenzte Bruttoarbeitsentgelt um die gesetzlichen Abzüge
vermindert wird. Beitragsbemessungsgrenze ist nach § 341 Abs.4 SGB III die Beitragsbemessungsgrenze der
allgemeinen Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten. Diese betrug für das Jahr 2004 monatlich 5.100,00
EUR, weshalb die Beklagte das Insg des Klägers zutreffend berechnet hat.
§ 185 Abs.1 SGG i.d.F. des Hartz-III-Gesetzes war hier anzuwenden, da nach § 434j Abs.12 Nr.5 SGB III, eingefügt
durch das Gesetz vom 23.12.2003, § 185 in der bis zum 31.12.2003 geltenden Fassung nur dann weiter anzuwenden
ist, wenn das Insolvenzereignis vor dem 01.01.2004 liegt. Insolvenzereignis ist im Sinne des § 183 Abs.1 Satz 1 Nr.1
SGB III die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers, hier der Beschluss des
Amtsgerichts W. vom 23.02.2004 auf Grund des Insolvenzantrages vom 18.11.2003. Der Insolvenztatbestand des §
183 Abs.1 Satz 1 Nr.3 SGB III kommt nicht in Betracht, da nach Stellung des Insolvenzantrages der Spielbetrieb
noch weiter geführt wurde.
§ 434j Abs.12 Ziffer 5 SGB III ist nicht verfassungswidrig. Eine echte Rückwirkung liegt nicht vor. Eine solche ist nur
gegeben, wenn bereits bestehende Ansprüche von einer später in Kraft tretenden Regelung negativ betroffen werden.
Dies ist hier aber nicht der Fall. Der Anspruch auf Insg entsteht erst mit Eintritt des Insolvenzereignisses, hier der
Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Dass der Antrag schon vorher gestellt war, ist hierbei unerheblich. Es ist nicht
willkürlich, wenn der Gesetzgeber für die Neuregelung auf den Zeitpunkt des Insolvenzereignisses und damit die
Entstehung des Anspruches abstellt. Ein Abstellen auf den Zeitpunkt des Antrages wäre nicht sinnvoll, da zu diesem
Zeitpunkt noch nicht feststeht, ob und in welcher Höhe ein Leistungsanspruch besteht.
Die Regelung der §§ 185 Abs.1, 434j Abs.12 Nr.5 SGB III entfaltet eine sogenannte unechte Rückwirkung, da sie auf
einen noch nicht abgeschlossenen Sachverhalt für die Zukunft einwirkt und die betroffene Rechtsposition nachträglich
entwertet (vgl. Jarass/Pieroth, GG, Rdnr.69 zu Artikel 20); zwar war hier ein Teil des anspruchsbegründenden
Sachverhalts, nämlich der für das Insg maßgebliche Arbeitsentgeltanspruch, am 01.01.2004 schon gegeben, nicht
jedoch das ebenfalls zum anspruchsbegründenden Sachverhalt gehörende Insolvenzereignis. Eine solche unechte
Rückwirkung ist in der Regel zulässig (Rdnr.73 a.a.O.). Sie ist nur ausnahmsweise unzulässig, wenn der Betroffene
mit einem Eingriff nicht zu rechnen braucht, ihn also auch bei seinen Dispositionen nicht berücksichtigen konnte,
wobei das Vertrauen auf den Fortbestand gesetzlicher Vorschriften regelmäßig nicht geschützt wird (Rdnr.73a a.a.O.).
Weiterhin ist Voraussetzung, dass das Vertrauen des Betroffenen schutzwürdiger ist als die mit dem Gesetz
verfolgten Anliegen, insbesondere die Bestandsinteressen des Betroffenen die Veränderungsgründe des
Gesetzgebers überwiegen (a.a.O.).
Im vorliegenden Fall überwiegen die Veränderungsgründe des Gesetzgebers, so dass dahinstehen kann, ob es sich
hier um einen Eingriff handelt, mit dem der Betroffene nicht zu rechnen brauchte und den er bei seinen Dispositionen
nicht berücksichtigen konnte. Nach dem bis 31.12.2003 geltenden Recht wurde Insg in Höhe des Nettoarbeitsentgelts
ohne betragsmäßige Begrenzung, d.h. auch für sehr hohe Nettoarbeitsentgelte gezahlt. Nach Auffassung des
Gesetzgebers (BT-Drucksache 15/1515 S.89) erschien dies im Hinblick auf das starke Ansteigen der Ausgaben für
das Insg nicht mehr vertretbar; das Recht der EU ermächtige die Mitgliedsstaaten, die Leistungen bei
Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers zu begrenzen; von dieser Möglichkeit solle Gebrauch gemacht und das der
Bemessung des Insg zugrunde zu legende Arbeitsentgelt auf die Höhe der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze
begrenzt werden. In der Stellungnahme des Bundesrates (BT-Drucksache 15/1637 S.10) heißt es, das Insg stelle eine
große Belastung für die Betriebe dar; diese Last habe sich seit 1998 auf jetzt 2 Millionen Euro verdoppelt, weshalb es
für den Bundesrat nicht nachvollziehbar sei, dass die Arbeitgeber allein für die Zahlung des Insg über die gesetzliche
Unfallversicherung aufkommen sollen, weshalb gefordert werde, dass Insg künftig anderweitig sachgerecht zu
finanzieren; eine Beteiligung der Arbeitnehmer an der Finanzierung sei zumutbar. Darüber hinaus solle das Insg. nicht
wie bisher 100 % des Nettogehalts betragen, sondern auf das Niveau des Alg abgesenkt werden. In der
Gegenäußerung der Bundesregierung (BT-Drucksache 15/1637 S.14) heißt es hierzu, dem Ausgabenanstieg beim
Insg werde mit der Begrenzung des Anspruches auf die Höhe der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze
entgegengewirkt, eine Beteiligung der Arbeitnehmer an der Finanzierung sei nicht sachgerecht.
Diese angeführten Gesichtspunkte zeigen, dass hier gewichtige Veränderungsgründe des Gesetzgebers vorlagen, die
die Bestandsinteressen der Betroffenen überwogen. Zu berücksichtigen ist, dass nach § 359 SGB III das Insg nach
wie vor allein von den Arbeitgebern finanziert wird, sich der Betroffene somit nicht auf eine eigene Beitragsleistung
berufen kann. Die seit 1998 eingetretene Verdoppelung der Ausgaben für das Insg und die allgemein verfolgte
Begrenzung der Belastung der Arbeitgeber durch Lohnnebenkosten sind Gesichtspunkte, die zu respektieren sind und
den Gesetzgeber berechtigten, die Leistung in einer Weise zu kürzen, mit der die Arbeitnehmer vor dem 01.01.2004
nicht rechnen konnten. Jedenfalls bestand vor dem 01.01.2004 keine schützenswerte Rechtsposition auf ein Insg,
das sich der Höhe nach unbeschränkt nach dem Arbeitsentgeltanspruch richtet.
Eine Aussetzung des Verfahrens und eine Vorlage der Regelung an das BVerfG nach Artikel 100 GG ist somit nicht
angezeigt, zumal hierfür nicht lediglich Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Norm genügen.
Somit war die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 29.10.2004 zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.