Urteil des LSG Bayern vom 10.05.2007

LSG Bayern: beihilfe, ausgrenzung, begriff, schüler, schule, kompetenz, pauschalierung, arbeitsgemeinschaft, veranstaltung, auskunft

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 10.05.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Bayreuth S 4 AS 612/05
Bayerisches Landessozialgericht L 11 AS 178/06
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 09.06.2006 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Kostenübernahme für einen Schulskikurs.
Der 1992 geborene Kläger, der Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bezieht, besuchte im
Jahr 2005 die 7. Klasse der H.-Schule in K ... Vom 11.12. bis 16.12.2005 führte die H.-Schule für die 7. Klassen einen
Schulskikurs durch. Der Schulskikurs wurde nach Auskunft der Schulleitung gemäß den Bestimmungen der
Bekanntmachung des Bayer. Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 21.11.2002 Nr V/6-K 7411-3/126 112
oV, den gesetzlichen Vorgaben des § 22 Schulordnung für die Volksschulen in Bayern (Volksschulordnung -VSO-)
sowie den amtlichen Lehrplänen als Klassenfahrt bestimmt. Die Teilnahmegebühr betrug 210,00 EUR inkl. Fahrt,
Vollverpflegung und Skipass; zusätzlich waren 15,00 EUR Snowboardkursgebühr und 20,00 EUR Leihgebühr für die
Snowboardausrüstung zu bezahlen, insgesamt also 245,00 EUR.
Mit Bescheid vom 20.10.2005 lehnte die Beklagte den Antrag vom selben Tag auf einmalige Beihilfe in Höhe von
245,00 EUR für den Schulskikurs ab. Einmalige Beihilfe nach § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 3 Zweites Buch Sozialgesetzbuch
(SGB II) werde nur gewährt, wenn die Nichtteilnahme an einer Klassenfahrt einen Schüler benachteilige und aus dem
Klassenverband ausgrenze. Nach den Richtlinien des Landkreises K. (als Träger der Grundsicherung für
Arbeitsuchende nach dem SGB II) erfolge eine Ausgrenzung regelmäßig nicht, wenn der Klassenverband nicht in
voller Stärke an der Klassenfahrt teilnehme. Dies sei hier der Fall.
Den Widerspruch vom 03.11.2005 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 07.11.2005 als unbegründet
zurück. Die Richtlinien des Landkreises K. seien für die ARGE bindend. Nachdem an dem Schulskikurs nicht einmal
die Hälfte der Mitschüler aus der Klasse des Klägers teilnehme, könne es zu keiner Ausgrenzung aus dem
Klassenverband kommen. Auch werde das Ziel der gemeinsamen Veranstaltung, die Förderung des
Gruppenzusammenhaltes und der sozialen Fähigkeiten, nicht erreicht. Die Richtlinie sehe zudem nur eine Pauschale
vor (Höchstsatz 120,00 EUR).
Der Kläger nahm in der Folge an dem Schulskikurs teil. Die Großmutter des Klägers gewährte ihm für die Teilnahme
ein Darlehen in Höhe des Gesamtbetrages von 245,00 EUR; sie möchte den Betrag zurückerstattet haben. Von der
Klasse des Klägers, die 27 Schüler umfasst, beteiligten sich nach Auskunft der Schulleitung am Skikurs neun
Schüler.
Auf Klage vom 08.12.2005 verurteilte das Sozialgericht Bayreuth (SG) die Beklagte mit Urteil vom 06.09.2006, die
Kosten für die Teilnahme am Schulskikurs vom 11.12.2005 bis 16.12.2005 in Höhe von 245,00 EUR zu übernehmen.
Bei dem Schulskikurs handle es sich um eine mehrtägige Klassenfahrt im Rahmen der schulrechtlichen
Bestimmungen im Sinne des § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB II. Der Begriff der Klassenfahrt sei weit auszulegen. Er
umfasse daher auch den Schulskikurs, an dem der Kläger teilgenommen hat. Der Schulskikurs liege auch im Rahmen
der schulrechtlichen Bestimmungen. Die Höhe der Kosten von 245,00 EUR seien nachgewiesen. Soweit der Landkreis
K. Richtlinien für den Vollzug des § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB II erlassen habe, sei dies nicht rechtmäßig. Der
Landkreis habe weder eine Kompetenz zum Richtlinienerlass noch sei eine Pauschalierung für Klassenfahrten im
SGB II vorgesehen. Das SG ließ die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zu.
Gegen das Urteil des SG hat die Beklagte Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Gesetzeszweck
des § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB II sei es - in Übereinstimmung mit der sozialhilferechtlichen Rechtsprechung der
Verwaltungsgerichte, insbesondere des Bundesverwaltungsgerichts -, eine Ausgrenzung aus dem Klassenverband
und eine Stigmatisierung der Kinder zu vermeiden. Allein die Frage der Ausgrenzung eines hilfebedürftigen Schülers
sei daher maßgeblich. Von der Klasse des Klägers hätte nur eine Minderheit teilgenommen, so dass von einer
Ausgrenzung des Klägers nicht die Rede sein könne.
Die Beklagte und Berufungklägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 09.06.2006 aufzuheben und
die Klage abzuweisen.
Der Kläger und Berufungsbeklagte beantragt sinngemäß, die Berufung zurückzuweisen.
Das Urteil des SG sei in allen Punkten zutreffend. Der Begriff der Klassenfahrt sei weit auszulegen und umfasse auch
klassenübergreifende Veranstaltungen. Bei klassenübergreifenden Klassenfahrten sei auf die Jahrgangsstufe
abzustellen. Von 59 Schülern hätten immerhin 38 Schüler teilgenommen. Sinn und Zweck des § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 3
SGB II sei es gerade, auch finanziell benachteiligten Schülern die Möglichkeit der Erweiterung des Bildungshorizontes
durch Veranstaltungen im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen zu bieten, so dass es lediglich darauf
ankäme, ob eine Klassenfahrt im Sinne der schulrechtlichen Bestimmungen vorliege. Im schulrechtlichen Rahmen
entscheide nach Landesrecht die Schulkonferenz bzw. der Schulleiter darüber, ob eine Klassenfahrt vorläge oder
nicht. Auch sei der pädagogische Zweck des Schulskikurses zu berücksichtigen.
Im Erörterungstermin am 21.03.2007 erklärten sich die Beteiligten mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren
einverstanden.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird Bezug genommen auf die Beklagtenakte sowie die gerichtlichen Akten.
Entscheidungsgründe:
Die zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung ist unbegründet.
Zu Recht hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20.10.2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 07.11.2005 verurteilt, dem Kläger eine einmalige Beihilfe nach § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 3
SGB II in Höhe von 245,00 EUR für den Schulskikurs zu gewähren.
Der Anspruch ergibt sich unmittelbar aus den gesetzlichen Vorschriften des SGB II.
Es kann deshalb dahingestellt bleiben, inwiefern die vom Landkreis aufgestellten Richtlinien für die Beklagte
verbindlich sind, insbesondere also, ob der Landkreis als Leistungsträger nach § 6 Abs 1 Nr 2 SGB II solche
Richtlinien für die Arbeitsgemeinschaft nach § 44b SGB II überhaupt verbindlich erlassen kann, oder ob die Beklagte
sich hier die Richtlinien des Landkreises durch gesonderten Akt zu eigen und für sich in eigener Zuständigkeit
verbindlich gemacht hat, oder ob und ggf. inwieweit seitens der Beklagten nach § 44b Abs 3 Satz 2 SGB II nur eine
dahingehend eingeschränkte Aufgabenübertragung an die Arbeitsgemeinschaft erfolgt ist, dass diese die Richtlinien
als verbindlich zu behandeln hat. Denn die Richtlinien widersprechen hinsichtlich der hier in Frage stehenden Punkten
bereits von ihrem Regelungsgehalt her § 23 SGB II, so dass es auf die Kompetenz zum Erlass der Richtlinie nicht
entscheidungserheblich ankommt.
Der Anspruch auf einmalige Beihilfe für den Schulskikurs ergibt sich daraus, dass es sich vorliegend um eine
Klassenfahrt im Sinne von § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB II handelt. Leistungen für mehrtägige Klassenfahrten im
Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen sind nicht von der Regelleistung umfasst (§ 23 Abs 3 Satz 1 SGB II).
Sie werden gesondert erbracht (§ 23 Abs 3 Satz 2 SGB II).
Die Regelung im SGB II betreffend die Klassenfahrt erfolgte vor dem Hintergrund, dass der Gesetzgeber aus
Verwaltungsvereinfachungsgründen auf der einen Seite den Regelsatz sehr hoch festlegte, auf der anderen Seite
frühere Einmalleistungen im Gesetz auf ein Minimum beschränkte. Die wenigen verbliebenen, gesetzlich ausdrücklich
geregelten Ansprüche auf einmalige Beihilfe sind daher weit auszulegen (vgl SG Dortmund, Urteil vom 04.12.2006 Az:
S 33 AS 152/06 zum Begriff der Klassenfahrt in § 23 SGB II) und Einschränkungen sind nur insoweit gegeben, als
diese unmittelbar aus dem Wortlaut abzuleiten sind. Weitergehende Einschränkungen - etwa im Sinne einer
teleologischen Reduktion, wie es die Beklagte mit ihrem Hinweis auf eine entsprechende verwaltungsgerichtliche
Rechtsprechung (vgl BVerwGE 97, 376) annimmt, wonach zusätzlich auf eine Ausgrenzung aus dem Klassenverband
abzustellen wäre - sind vom Gesetzgeber offensichtlich nicht gewollt. Der Wortlaut des Gesetzes enthält hierfür
keinerlei Anhaltspunkte. Weitergehende Überlegungen sind seitens der Verwaltung nicht mehr veranlasst (vgl auch
SG Ulm, Beschluss vom 23.02.2006 Az: S 61 AS 1046/06 ER). Eine Prüfung weiterer Gesichtspunkte über den
Gesetzeswortlaut hinaus würde auch dem mit der Neuregelung verfolgten Zweck - Verwaltungsvereinfachung -
widersprechen, da seitens der Verwaltung umfangreiche weitere Ermittlungen anzustellen wären und
Einzelfallentscheidungen zu treffen wären.
Der Begriff der "Klassenfahrt" im Sinne von § 23 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB II ist im Ergebnis auch nicht im engeren
Wortsinn zu verstehen. Dies hat der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung zur wortgleichen Parallelvorschrift des §
31 SGB XII in den Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 15/1514, S 60) deutlich zum Ausdruck gebracht. Nachdem der
Begriff der Klassenfahrt weit auszulegen ist, sind als Klassenfahrten im Sinne der gesetzlichen Vorschrift etwa auch
von der Schule durchgeführte Studienfahrten, Kurs- und Jahrgangsfahrten (vgl SG Lüneburg Beschluss vom
26.01.2005 Az: S 24 AS 4/06 ER), Schüleraustausch sowie Schulskikurse umfasst. Bei dem mehrtägigen
Schulskikurs, an dem der Kläger teilgenommen hat, handelt es sich nach alledem um eine solche mehrtägige
Klassenfahrt im Sinne von § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB II. Auf eine drohende "Ausgrenzung" von Schülern,
insbesondere darauf, ob die Mehrzahl der Schüler aus dem Klassenverband bzw. aus der Jahrgangsstufe an der
Veranstaltung teilnimmt, kommt es ebensowenig an wie auf den mit der Klassenfahrt verfolgten - ggf. pädagogischen
- Zweck.
Eine Einschränkung des Anspruchs des Klägers auf einmalige Beihilfe für die mehrtägige Skischulfahrt ergibt sich
auch nicht daraus, dass die Skischulfahrt nicht im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen durchgeführt worden
wäre. Die Schulleitung hat auf die betreffenden landesrechtlichen Bestimmungen, die für die Durchführung der
Klassenfahrt maßgeblich waren, ausdrücklich hingewiesen.
Der Anspruch des Klägers besteht auch in voller Höhe von 245,00 EUR und ist nicht auf den in den Richtlinien
enthaltenen Pauschalbetrag von 120,00 EUR beschränkt. Denn eine - den Anspruch beschränkende - Pauschalierung
der einmaligen Beihilfe für Klassenfahrten ist im Gesetz nicht vorgesehen. § 23 Abs 3 Satz 5 SGB II lässt
Pauschalierungen lediglich hinsichtlich der dort ausdrücklich genannten einmaligen Beihilfen nach § 23 Abs 3 Satz 1
Nr 1 und Nr 2 SGB II zu. Eine Einschränkung des Anspruchs aus § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB II kennt das Gesetz
nicht (ebenso Hessisches LSG Beschluss vom 20.09.2005 Az: L 9 AS 38/05 ER).
Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zugelassen.