Urteil des LSG Bayern vom 19.08.2009

LSG Bayern: europäischer gerichtshof für menschenrechte, aussetzung, beiladung, rechtshängigkeit, ermessen, weiterbildungskosten, erlass, befangenheit, sektion, gefahr

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 19.08.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Würzburg S 10 AS 604/07
Bayerisches Landessozialgericht L 11 AS 379/09 B
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 5. Mai 2009 aufgehoben.
Gründe:
I. Streitgegenstand des Klageverfahrens S 10 AS 604/07 ist die Rechtmäßigkeit der Ablehnung einer Weiterbildung
zum Fachjournalisten durch die Beklagte. Der Kläger beantragte am 28.09.2006 die Förderung der Teilnahme an dem
am 01.09.2006 beginnenden Fernstudium zum Fachjournalisten. Dies lehnte die Beklagte am 26.10.2006
(Widerspruchsbescheid vom 25.06.2007) mangels Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen des § 77 Abs 1 Nr 1
SGB III ab. Bereits davor hatte die Bundesagentur für Arbeit die Weiterbildung zum Fachjournalisten abgelehnt, weil
diese die Integrationswahrscheinlichkeit nicht wesentlich erhöhe. Gegen den ablehnenden Bescheid vom 11.07.2006
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.08.2006 ist seit 04.10.2006 unter dem Az: S 7 AL 322/06 eine
Feststellungs- und Verpflichtungsklage anhängig. Gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 26.10.2006/
Widerspruchsbescheid vom 25.06.2007 hat der Kläger am 30.07.2007 Klage erhoben und beantragt festzustellen,
dass die Ablehnung der Weiterbildung "Fernstudium Fachjournalist" rechtswidrig war und die Beklagte verpflichtet
werde, die Weiterbildungskosten für den Fernstudiengang Fachjournalist an der Deutschen Fachjournalistenschule in
B. zu übernehmen. Im Erörterungstermin am 30.04.2009 hat er gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, dass er mit dem
Erlass eines Gerichtsbescheids nicht einverstanden sei. Mit Beschluss vom 05.05.2009 hat das Sozialgericht das
Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Rechtsstreits S 7 AL 322/06 ausgesetzt. Im dortigen Rechtsstreit
werde dieselbe Rechtsfrage aufgeworfen, nämlich ob die begehrte Weiterbildung nach § 77 SGB III förderungsfähig
sei. Vorgreiflich sei die Rechtsfrage, ob die Bundesagentur zur Entscheidung zuständig gewesen sei. Eine Beiladung
der Bundesagentur komme wegen anderweitiger Anhängigkeit nicht in Betracht. Gegen den am 06.05.2009
zugestellten Beschluss hat der Kläger am 05.06.2009 Beschwerde eingelegt und die Vorsitzende der 10.Kammer
wegen Befangenheit abgelehnt. Die Rechtsstreitigkeiten hingen nicht in der Weise von einander ab, dass zwangsläufig
der Rechtsstreit S 7 AL 322/06 zuerst entschieden werden müsse. Die Angelegenheit ziehe sich bereits nahezu drei
Jahre hin und eine Aussetzung sei mit den Grundsätzen eines effektiven Rechtsschutzes nicht vereinbar.
II. Die statthafte, form und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig und begründet. Die Aussetzung des
Verfahrens ist nicht rechtmäßig. Dabei kann dahinstehen, ob der darin liegende Verfahrensverstoß, dass der
Beschluss ohne Anhörung der Beteiligten ergangen ist, in der Beschwerdeinstanz heilbar ist. Dies könnte angesichts
der eingeschränkten Überprüfungsmöglichkeiten des Beschwerdegerichts, nämlich, ob die tatbestandlichen
Voraussetzungen für die Aussetzung vorliegen und ob das Sozialgericht die Grenzen seines Ermessens eingehalten
hat (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9.Aufl, § 114 Rz 9) fraglich sein. Jedenfalls hat das Sozialgericht
keine Ermessensentscheidung getroffen. Hängt die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom
Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab, das den Gegenstand eines anderen anhängigen
Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist, so kann das Gericht anordnen, dass die
Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsstelle
auszusetzen sei (§ 114 Abs 2 Satz 1 SGG). Zutreffend hat das Sozialgericht festgestellt, dass die im Streitverfahren
S 7 AL 322/06 strittige Frage, ob dem Kläger gegen die Bundesagentur für Arbeit ein Anspruch auf Erstattung der
Weiterbildungskosten für das Fernstudium "Journalist" zusteht, für das anhängige Verfahren vorgreiflich ist. Weil das
Klageziel identisch und lediglich der Adressat des Klagebegehrens unterschiedlich ist, schließt ein Erfolg im Streit
gegen die Bundesagentur für Arbeit einen solchen im anhängigen Verfahren aus. Das Sozialgericht hat indessen von
dem ihm in einem solchen Fall zustehenden Ermessen keinen Gebrauch gemacht. Das Gesetz lässt dem Gericht die
Wahl, ob es über die vorgreifliche Frage selbst entscheiden oder das Verfahren aussetzen will. Etwas anderes gilt,
wenn andere Gesetze die Aussetzung des Verfahrens und die Bindung an die Entscheidung der dafür zuständigen
Stellen vorschreiben (Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4.Aufl, § 114 Rz 82 mwN). Das
pflichtgemäße Ermessen, das dem Sozialgericht zustand, war vorliegend nicht auf Null reduziert. Zu Unrecht ist es
davon ausgegangen, eine Beiladung der Bundesagentur für Arbeit komme wegen der anderweitigen Anhängigkeit
derselben Streitsache nicht in Betracht. Am 19.05.1982 - 11 RA 37/81 (SozR 2200 § 1239 Nr 2) hat das
Bundessozialgericht entschieden, dass eine bereits bestehende anderweitige Rechtshängigkeit einer Verurteilung als
Beigeladenen nicht entgegen stehe, sie einer notwendigen Beiladung i.S. des § 75 Abs 2 Satz 1 2.Altern. SGG also
Beigeladenen nicht entgegen stehe, sie einer notwendigen Beiladung i.S. des § 75 Abs 2 Satz 1 2.Altern. SGG also
nicht schade. Die anderweitige Rechtshängigkeit werde mit der Verurteilung des notwendig Beigeladenen wirkungslos.
Ungeachtet einer Beiladung ist das Sozialgericht aber nicht gehindert, selbst darüber zu entscheiden, ob vorgreiflich
ein Anspruch gegen die Bundesagentur für Arbeit gegeben ist. Damit ist eine sachgerechte Entscheidung darüber
möglich, ob die Klage zulässig und begründet ist. Die bloße Vorgreiflichkeit einer Rechtsfrage begründet keine
Ermessensreduktion (BVerwG, Beschluss vom 05.04.2005 - 6 B 2/05). Nur wenn das Sozialgericht ausnahmsweise
gehindert ist, eine Vorfrage selbst zu entscheiden wie etwa bei Statusentscheidungen, liegt eine
Ermessensreduzierung auf Null vor. Diese hat vorliegend keinesfalls vorgelegen. Weil der angefochtene Beschluss
eine Ermessensentscheidung nicht erkennen lässt, ist er aufzuheben. Liegen die Voraussetzungen des § 114 Abs 2
Satz 1 SGG vor, hat das Gericht in Ausübung seines Ermessens abzuwägen, ob eine Aussetzung der Verhandlung
zweckmäßig ist. Für eine Aussetzung sprechende Umstände können z.B. die Vermeidung von Doppelermittlungen
oder die Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen sein. Auf der anderen Seite ist insbesondere die Gefahr
einer Verzögerung der sozialgerichtlichen Entscheidung zu berücksichtigen. Verfahrensökonomische Erwägungen
rechtfertigen keine unangemessene Verzögerung (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 5.Sektion, Urteil vom
13.07.2006 Az: 380 33/02). Die für das Gericht im konkreten Einzelfall maßgebenden Gesichtspunkte sind gegen
einander abzuwägen und in der getroffenen Entscheidung darzustellen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG,
9.Aufl, § 114 Rz 7). Ist die Entscheidung des Sozialgerichts jedoch überhaupt nicht begründet, ist eine
Ermessensentscheidung nicht erkennbar und der angefochtene Beschluss allein aus diesem Grunde aufzuheben.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).