Urteil des LSG Bayern vom 28.07.1999
LSG Bayern: wiedereinsetzung in den vorigen stand, hinterbliebenenrente, höhere gewalt, witwenrente, tod, interessenabwägung, versicherungsträger, rückwirkung, verwaltungsverfahren, zukunft
Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 28.07.1999 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Landshut S 4 RJ 446/98 A
Bayerisches Landessozialgericht L 16 RJ 133/99
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 16. September 1998 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über den Bezug von Hinterbliebenenrente ab 04.01.1993, dem Todestag des Versicherten,
statt ab 01.02.1995.
Die am ...1947 geborene Klägerin ist bosnische Staatsangehörige und hat ihren Wohnsitz in Bosnien-Herzegowina.
Sie ist die Witwe des am ...1939 geborenen und am 04.01.1993 verstorbenen Versicherten ... Am 15.02.1996 hat die
Klägerin beim bosnischen Versicherungsträger Witwenrente beantragt. Der Versicherte war von April 1959 bis Januar
1993 in Jugoslawien insgesamt 14 Jahre, 11 Monate versicherungspflichtig beschäftigt. In der Bundesrepublik hat der
Versicherte von Februar 1970 bis Februar 1979 insgesamt 103 Monate Versicherungszeit zurückgelegt. In Österreich
sind ebenfalls Versicherungszeiten zurückgelegt worden. Die Klägerin gab an, vom Zeitpunkt des Todes des
Versicherten an bosnische Witwenrente bezogen zu haben.
Mit Bescheid vom 15.07.1997 gewährte die Beklagte beginnend am 01.02.1995 Witwenrente in Höhe von monatlich
353,82 DM. Zum Beginn der Rente wurde ausgeführt, daß die Rente längstens für 12 Kalendermonate vor dem Monat
der Antragstellung gemäß § 99 Abs.2 Satz 3 SGB VI geleistet werde.
Mit Schreiben vom 01.09.1997 beantragte die Klägerin, ihr die Witwenrente ab 04.01.1993 zu bezahlen, da nach der
deutschen Bestimmung des § 1290 Abs.1 RVO Hinterbliebenenrente von dem Zeitpunkt des Todes des Versicherten
an zu gewähren ist, wenn für den Versicherten im Sterbemonat keine Rente zu zahlen war. Sie trug vor, daß wegen
des Kriegsgeschehens eine frühere Antragstellung nicht möglich gewesen sei. Außerdem trug die Klägerin vor, ihr sei
der Bescheid erst am 08.08.1997 und nicht mit Einschreiben zugestellt worden. Die Beklagte hat mit
Widerspruchsbescheid vom 09.12.1997 den Widerspruch zurückgewiesen. Sie hat zwar Wiedereinsetzung gewährt, da
die Widerspruchsfrist nicht schuldhaft versäumt sei, hat aber eine frühere Rentenleistung abgelehnt, da die
Hinterbliebenenrente erst am 15.02.1996 beantragt worden sei und deshalb frühestens am 01.02.1995 beginnen
könne. Ausnahmeregelungen wegen besonderer Härte bei verspäteter Antragstellung lasse § 99 Abs.2 SGB VI nicht
zu. Eine andere Entscheidung könne deshalb nicht getroffen werden. Insbesondere könne die Situation im ehemaligen
Jugoslawien nicht berücksichtigt werden, da die in den ausländischen Verhältnissen liegenden Umstände durch die
Bundesrepublik nicht beeinflußbar seien.
Mit der Klage vom 16.03.1998 macht die Klägerin weiter geltend, dass die Rente bereits am Todestag ihres
Ehemannes zu beginnen habe. Sie beantrage Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 Abs.3 SGB X, weil
sie binnen drei Monaten nach dem Tode des Ehegatten infolge des Kriegsgeschehens in Bosnien, also infolge höherer
Gewalt den Rentenantrag nicht habe einreichen können. Mit Beschluss des Föderationsparlaments von Bosnien-
Herzegowina vom 19.12.1996 sei erst das Ende der unmittelbaren Kriegsgefahr festgestellt worden. Eine Kopie dieses
Beschlusses legte die Klägerin bei. Die Beklagte beantragte im Hinblick auf die Ausführungen im
Widerspruchsbescheid, die Klage abzuweisen.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 16.09.1998 die Klage abgewiesen mit der Begründung, dass nach § 99 Abs.2
Satz 3 SGB VI eine Hinterbliebenenrente nicht für mehr als 12 Kalendermonate vor dem Monat geleistet wird, in dem
die Rente beantragt wird. Es handele sich bei der Frist des § 99 Abs.2 Satz 3 SGB VI um eine materiell-rechtliche
Ausschlußfrist, so daß auch bei unverschuldetem Versäumen der Frist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
nach § 27 SGB X nicht möglich sei. Eine weitere Ausnahmeregelung der Härteregelung habe der Gesetzgeber nicht
getroffen. Eine analoge Anwendung anderer Rechtsvorschriften komme nicht in Betracht, da eine Regelungslücke
nicht vorliege. Den Gesetzesmaterialien sei gerade zu entnehmen, daß der Gesetzgeber die Frage der
Fristproblematik gesehen und deshalb die weitgehende Regelung des § 99 Abs.2 Satz 2 SGB VI getroffen habe. Ein
früherer Rentenbeginn sei daher unter keinen rechtlichen Gesichtspunkten möglich.
Mit der Berufung begehrt die Klägerin weiter den früheren Beginn der Hinterbliebenenrente. Zur Begründung führte sie
aus, daß nach § 1290 RVO bei eigener Versicherung eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X
möglich war und insbesondere im Fall der höheren Gewalt eine Beschränkung der Antragsfrist nicht bestanden habe.
Dies müsse auch für die Hinterbliebenenrente gelten. Die Beklagte könne nicht einseitig und buchstäblich die
Bestimmung des § 99 Abs.2 Satz 3 SGB VI anwenden, ohne die Bestimmung des § 27 SGB X zu berücksichtigen.
Den mit der Klage gestellten Antrag auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe hat der Senat mit Beschluss vom
29.04.1999 abgelehnt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 16.09.1998 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 15.07. 1997
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.12.1997 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die
Hinterbliebenenrente schon ab 04.01.1993 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten der Beklagten, des SG Landshut und des BayLSG Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, erweist sich jedoch als
unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht ausgeführt, daß nach § 99 Abs.2 Satz 3 SGB VI für den Beginn der
Hinterbliebenenrente keine längere Rückwirkung als 12 Monate beginnend mit dem Monat, in dem die Rente beantragt
wird, möglich ist.
§ 99 SGB VI regelt den Beginn der Renten. Dabei bestimmt Abs.1: "Eine Rente aus eigener Versicherung wird von
dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt sind, wenn
die Rente bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt wird, in dem die
Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Bei späterer Antragstellung wird eine Rente aus eigener Versicherung von
dem Kalendermonat an geleistet, in dem die Rente beantragt wird." Für die Hinterbliebenenrenten bestimmt dagegen
Abs.2:"Eine Hinterbliebenenrente wird von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die
Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt sind. Sie wird bereits vom Todestag an geleistet, wenn an den
Versicherten eine Rente im Sterbemonat nicht zu leisten ist. Eine Hinterbliebenenrente wird nicht für mehr als 12
Kalendermonate von dem Monat, in dem die Rente beantragt wird, geleistet". Bereits die unterschiedliche
Formulierung zwischen der Bestimmung des Abs.1 und Abs.2 zeigt, daß vom Gesetzgeber nicht vorgesehen wurde,
den Beginn der Renten aus eigener Versicherung und der Hinterbliebenenversicherung einheitlich zu regeln. Im
Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens wurde die ursprüngliche Fassung des § 98 des RegE-RRG (S9 Nr.11)
geändert, weil in einer Vielzahl von Fällen insbesondere Kinder aus den früheren Ehen des Verstorbenen auf längere
Zeit nichts vom Tod des Versicherten erfahren. Deshalb wurde für die Hinterbliebenenrente die Frist auf 12 Monate
verlängert (BT Druck 11 - 5530, 107; Niesel in KassKomm § 99 SGB VI Anm.14, Eicher-Haase-Rauschenbach, § 99
SGB VI Anm.1). Nach dem Zweck der Bestimmung des § 99 Abs.2 Satz 3 soll also die 12-Monatsfrist die
Hinterbliebenen vor Verlust von Rentenansprüchen in den Fällen schützen, in denen aus Unkenntnis über den Tod des
Versicherten oder über das Bestehen des Rentenanspruchs erst innerhalb der verlängerten Frist ein Rentenantrag
gestellt werden kann. Diese Frist von einem Jahr entspricht auch der Höchstdauer, nach der bei unverschuldetem
Versäumnis einer Frist auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X nicht mehr möglich ist
(vgl. Niesel, KassKomm § 99 SGB VI Anm.22). Soweit die Klägerin also die Anwendung des § 27 SGB X begehrt,
übersieht sie zum einen, dass diese Bestimmung nicht anwendbar ist, da § 99 SGB VI insoweit eine lex spezialis
darstellt und im Übrigen ihr § 27 SGB X auch keine längere Wiedereinsetzung gewähren würde (Zweng- Scheerer-
Buschmann-Dörr, Kommentar zum SGB VI Rdnr.7, Hauck- Haines S. Kommentar zum SGB VI, Rdnr.7). Aus der
Begründung des Regierungsentwurfs und aus der Formulierung des Abs.2 Satz 3 wird in der Literatur somit die
Schlussfolgerung gezogen, dass in Fällen, in denen der Antrag auf Witwen-, Witwer- oder Waisenrente später als der
einjährigen "Beginnsfrist" gestellt wird, eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 Abs.5 unzulässig ist
(Hauck-Haines, a.a.O.). Denn nach § 27 Abs.5 SGB X ist "die Wiedereinsetzung unzulässig, wenn sich aus einer
Rechtsvorschrift ergibt, dass sie ausgeschlossen ist". § 99 Abs.2 Satz 3 SGB VI ist somit als Bestimmung in diesem
Sinne zu verstehen, auch wenn die Regelung des § 27 Abs.5 SGB X in § 99 SGB VI nicht wörtlich erwähnt ist. Der
Ausschluss von § 27 Abs.5 gilt nicht nur, wenn die Rechtsvorschrift die Wiedereinsetzung ausdrücklich ausschließt,
sondern auch dann, wenn sich dies aus ihrem Sinn und Zweck ergibt, was durch Auslegung zu ermitteln ist. (Hauck-
Haines, Kom. zum SGB X Anm.16, Peters, Kommentar zum SGB X Verwaltungsverfahren § 27 Anm.6, Krasney in
KassKomm § 27 SGB X Anm. 3, 4). Für die frühere Vorschrift des Rentenbeginns bei Hinterbliebenenrente § 1290
RVO und für andere Vorschriften, die den Beginn einer laufenden Leistung bestimmen, wurde davon ausgegangen,
dass der Zeitpunkt des Leistungsantrags maßgebend sein soll, weil er zu den materiell- rechtlichen Voraussetzungen
für die Entstehung der Einzelansprüche gehört und deshalb eine Wiedereinsetzung mit dem Ziel einer Vorverlegung
des Leistungsbeginns nicht in Betracht kommt, weil sich der Antrag und die an ihn gebundenen materiell-rechtlichen
Wirkungen nicht in die Vergangenheit zurückverlegen lassen (vgl. Peters SGB X Verwaltungsverfahren § 27e). Der
Antrag war in diesen Fällen nicht im eigentlichen Sinne fristgebunden und könnte jederzeit gestellt werden, seine
Wirkung allerdings war grundsätzlich auf Gegenwart und Zukunft beschränkt. Das BSG (Urteil vom 25.10.1988 Az.: 12
RK 22/87 = SozR 1300 § 27 SGB X Nr.4) hat bei der Auslegung, ob für die betreffende Frist eine Wiedereinsetzung
schlechthin ausgeschlossen ist, auf den Zweck der Frist u.a. abgestellt und ausgeführt, dass dies so auszulegen sei
wie bei der früheren Rechtsprechung zur Gewährung von Nachsicht bei Versäumung materieller Fristen; dort war
außer auf die Verschuldensfreiheit beim Säumigen eine Abwägung seiner Interessen mit denen der Verwaltung
gefordert und insoweit vor allem zu berücksichtigen, ob bei dem Säumigen erhebliche langfristig wirksame Interessen
auf dem Spiel stehen. Bei dieser Interessenabwägung kann der Senat nicht feststellen, dass es für die Klägerin um
langfristige wirksame Interessen geht, vielmehr betrifft die abzulehnende Wiedereinsetzung nur den Anspruch in der
Vergangenheit, wobei ja durch die ausdrückliche Regelung in § 99 Abs.2 eine Rückwirkung für 12 Kalendermonate
bereits positiv rechtlich ausgesprochen wird. Die Interessenabwägung führt daher nicht dazu, dass entgegen dem
Wortlaut der Bestimmung eine Wiedereinsetzung nach § 27 Abs.3 SGB X zu erfolgen hat.
Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass der Senat unabhängig von der Auslegung der Vorschrift
des § 99 Abs.2 i.V.m. § 27 SGB X auch Zweifel daran hat, ob die Klägerin während des gesamten Zeitraums, in dem
der Antrag nicht gestellt wurde, infolge höherer Gewalt gehindert war, die Hinterbliebenenrente zu beantragen. Geht
man von Antragstellung im Februar 1996 aus, ist zu beachten, dass der Versicherte bereits im Januar 1993
verstorben ist und die Klägerin selbst vorträgt, dass ihr Dorf erst im Jahre 1994 besetzt wurde und sie zur Flucht
gezwungen war. Sie hat nicht vorgetragen, dass es ihr zwischen 1994 und 1996 vom neuen Wohnort nicht möglich
war, den Rentenantrag beim dortigen Versicherungsträger oder bei der Beklagten zu stellen. Die vorgelegte amtliche
Bescheinigung über die Aufhebung des Kriegszustandes erst im Dezember 1996 lässt keinen Rückschluss darauf zu,
dass ein Briefverkehr der Klägerin mit der Beklagten ausgeschlossen war. Es ist auch nicht vorgetragen, dass die
Klägerin bis zur Antragstellung oder einem Zeitpunkt deutlich nach dem Tode des Versicherten keine Kenntnisse über
seinen Tod hatte. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, sofern man sie zulassen würde, könnte deshalb auch
aus tatsächlichen Gründen nicht erfolgen, weil die Klägerin nicht während des gesamten Zeitraums durch höhere
Gewalt gehindert war, den erforderlichen Antrag zu stellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
Gründe gemäß § 160 Abs.2 Ziff.1 und 2 SGG, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich.