Urteil des LSG Bayern vom 29.01.2008

LSG Bayern: gutachter, zumutbare tätigkeit, beweiswürdigung, rente, erwerbsfähigkeit, arbeitsmarkt, behinderung, krankheit, neurologie, ausbildung

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 29.01.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 3 R 476/05
Bayerisches Landessozialgericht L 14 R 578/06
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 25. Juli 2006 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab Antragstellung am 16.11.2004.
Der 1949 geborene Kläger, der kein Beruf erlernt hat, war zuletzt versicherungspflichtig als Hilfsarbeiter bis
13.09.2000 beschäftigt.
Nach Arbeitslosengeldbezug stellte der Kläger bei der Beklagten Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente, den die
Beklagte mit Bescheid vom 21.02.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.06.2005 ablehnte.
Die hiergegen erhobene Klage wies das Sozialgericht Augsburg (SG) mit Urteil vom 25.07.2006 ab.
Im Vordergrund der Beschwerdesymptomatik des Klägers stünde eine periphere arterielle Verschlusskrankheit des
rechten Armes im Stadium IIb, wodurch der Kläger bei der Nutzung seines Armes stark eingeschränkt wäre. Hinzu
käme ein starkes depressives Syndrom. Auf der Grundlage der vorliegenden ärztlichen Unterlagen, insbesondere aber
den im Rahmen des Verfahrens vor dem SG eingeholten Gutachten, sei die Kammer jedoch davon überzeugt, dass
der Kläger vollschichtig erwerbstätig sein könne und ihm der Arbeitsmarkt nicht verschlossen sei. Zwar habe der
Internist Dr. S. in seinem Gutachten vom 07.10.2005 angenommen, der Kläger könne nur weniger als drei Stunden
täglich erwerbstätig sein. Diese Einschätzung des Internisten habe vor allem auf der Verdachtsdiagnose basiert,
wonach der Kläger unter einer peripheren artiellen Verschlusserkrankung der Beine zusätzlich leide. Diese
Verdachtsdiagnose habe sich bei einer gezielten späteren Untersuchung nicht verifizieren lassen, so dass der
Leistungseinschätzung von Dr. S. nicht gefolgt werden könne.
Der weitere Gutachter Prof. Dr. S. sei in seinem internistischem Gutachten vom 06.03.2006 zu folgenden Diagnosen
gekommen: 1. eingeschränkte Belastbarkeit des rechten Armes bei chronischem Verschluss der Armarterie im Sinne
einer arteriellen Verschlusskrankheit Stadium II. 2. Funktionsstörung des linken Kniegelenkes mutmaßlich bei
Verschleißerscheinungen. 3. Gefühlsstörungen peripherer Nerven unbekannter Ursache. 4. Funktionsstörung der
rechten Schulter mutmaßlich bei Schleimbeutelentzündung 5. Funktionsstörung der Lendenwirbelsäule bei
Verschleißerscheinung. 6. Leichtgradige chronische Einengung der Atemwege. Auf der Grundlage dieser Diagnose sei
der Gutachter Prof. Dr. S. zu dem gut nachvollziehbaren Ergebnis gekommen, dass der Kläger unter
Berücksichtigung seiner Leistungseinschränkungen eine tägliche Arbeitszeit von ca. 6 bis 8 Stunden erbringen könne,
auch wenn wegen der raschen Ermüdbarkeit der rechten oberen Extremität regelmäßige Pausen notwendig seien. Der
Kläger könne eine Wegstrecke von 200 bis 300 m ohne Pause zurücklegen und mit kurzen Pausen auch eine
Gehstrecke von 500 m.
Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, psychotherapeutische Medizin und zertifizierte Gutachter der Deutschen
Gesellschaft für Neurologie Dr. S. habe in seinem Gutachten vom 02.05.2006 festgestellt, dass die bisherigen
Diagnosen zutreffend wären, wozu jedoch noch eine depressive Anpassungsstörung käme; auf neurologischem
Fachgebiet ließen sich letztlich keine organisch-neurologisch relevanten Erkrankungen nachweisen, die eine Erklärung
für die vom Kläger angegebenen starken Schmerzen darstellen könnten. Es seien allerdings
Verdeutlichungstendenzen im Hinblick auf einen Rentenwunsch des Klägers feststellbar. Der Kläger könne
vollschichtig tätig sei. Im Ergebnis sei - so das SG, das sich bei seiner Beweiswürdigung im Ergebnis auf die
Gutachten von Prof.Dr.S. und Dr.S. stützte -, der Kläger nicht einmal teilweise erwerbsgemindert, so dass die Klage
abzuweisen wäre.
Mit Schriftsatz vom 09.08.2006 hat der Kläger Berufung gegen das Urteil des SG zum Bayer. Landessozialgericht
(BayLSG) eingelegt und diese damit begründet, dass eine wesentliche Verschlimmerung seines
Gesundheitszustandes eingetreten sei und die Einholung eines Gutachtens nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
beantragt.
Im nach § 109 SGG erstellten Gutachten vom 11.07.2007 ist der Gutachter Prof. Dr. D. zum Ergebnis gekommen,
dass neben den bereits bekannten Diagnosen noch eine immunokritische Systemerkrankung mit
Autoantikörperbildung gegen Bindegewebstrukturen (Mischkollagenose, Sharp-Syndrom) vorläge. Klinische
Manifestationen seien Arthralgien (Gelenkschmerzen), diffuses Brennen verschiedener Bindegewebstrukturen und mit
großer Wahrscheinlichkeit eine funktionelle nicht relevante Lungenbeteiligung und eine Sicca-Symptomatik. Es handle
sich bei der Sharp-Kollagenose um eine chronische Erkrankung, deren Beginn in die erste Jahreshälfte des Jahres
2006 falle. In der Leistungseinschätzung ist der Gutachter daher zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger
aufgrund der zu unterstellenden chronischen Schmerzen - auch wenn eine genaue Quantifizierung der Schmerzen
nicht möglich sei -, zumindest ab Mitte 2006 wegen der ab diesen Zeitpunkt beginnenden chronischen Erkrankung -
nicht "mehr als sechs Stunden" arbeiten könne.
Aufgrund der Leistungsbeurteilung des Gutachters Prof. Dr. D. vertritt der Kläger die Ansicht, dass damit festgestellt
sei, dass er weniger als sechs Stunden arbeiten könne. Sollte das Gericht dieser Auffassung nicht folgen, sei eine
ergänzende Stellungnahme des Gutachters einzuholen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 15.07.2006 und des Bescheides vom
31.05.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.06.2005 zu verurteilen, ihm Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit ab Antragstellung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Das Leistungsvermögen sei nicht unter sechs Stunden gesunken.
Zur Ergänzung des Tatbestands und auf die Verwaltungsakten der Beklagten und die Gerichtsakten wird Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144 , 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist zulässig, jedoch
nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 25.07.2006 ist zutreffend, und der Bescheid vom
21.02.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.06.2005 ist nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht
in seinen Rechten.
Denn auch der Senat ist zu der Überzeugung gekommen, dass dem Kläger ein Anspruch auf Rente wegen
Erwerbsminderung gemäß §§ 43, 240 Sozialgesetzbuch Teil VI (SGB VI) nicht zusteht. Hierbei stützt er sich
insbesondere auf die im Rechtsstreit erstellten Gutachten; im Wege des Urkundsbeweises wurden auch die von der
Beklagten eingeholten Gutachten sowie im Renten- und Gerichtsverfahren beigezogenen ärztlichen Unterlagen
ausgewertet. Unter Berücksichtigung und Würdigung aller vorhandenen Beweismittel ist der Senat im Ergebnis zur
Überzeugung gelangt, dass der Kläger zwar die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Berentung erfüllt,
nicht aber die medizinischen.
Teilweise erwerbsgemindert ist der Versicherte, der wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer
Stande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich
erwerbstätig zu sein, und voll erwerbsgemindert der Versicherte, der unter den gleichen Voraussetzungen außer
Stande ist, mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs.1 Satz 2 und Abs.2 Satz 2 SGB VI in der
ab 01.01.2001 geltenden Fassung). Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung erhält auch der Versicherte, der
vor dem 02.01.1961 geboren und berufsunfähig ist (Übergangsvorschrift des § 240 Abs.1 SGB VI neue Fassung).
Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur
Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen
Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden täglich gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach
denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten die ihren Kräften und
Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres
bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§§
240 Abs.2 Satz 1 und Satz 2 SGB VI).
Erwerbsgemindert (bzw. berufsunfähig) ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts
mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann (bzw. wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs
Stunden ausüben kann); dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs.3, § 240 Abs.2
letzer Satz SGB VI).
Die genannten Voraussetzungen für eine Rentengewährung liegen hier nicht vor, weil das Leistungsvermögen des
Klägers nicht unter sechs Stunden gesunken ist. Zu diesem Ergebnis ist der Senat im Rahmen seiner
Beweiswürdigung gekommen. Insoweit macht er sich die Ausführungen des Sozialgerichts im Urteil vom 25.07.2006
zu eigen und schließt sich der darin enthaltenen Beweiswürdigung voll umfänglich an, soweit diese auf dem bis dahin
bekannten vorhandenen Beweismitteln beruht, und nimmt in den Entscheidungsgründen insoweit auf den
Ausführungen des SG Bezug (§ 153 Abs.2 SGG).
Hierzu ergänzend hat der Senat in seine Beweiswürdigung einbezogen die weiteren ärztlichen Unterlagen, wie sie im
Berufungsverfahren vorgelegt wurden, insbesondere das nach § 109 SGG erstellte Gutachten auf rheumatologischem
Fachgebiet durch den Gutachter Prof.Dr.D ... Soweit der Gutachter Prof.Dr.D. in seinem Gutachten zum Ergebnis
kommt, der Kläger könne aufgrund seiner Gesundheitsbeeinträchtigungen nicht "mehr" als sechs Stunden arbeiten,
bedurfte es aus Sicht des Senats keiner - wie vom Kläger gewünscht - Einholung einer ergänzenden Stellungnahme
dahingehend, ob mit dieser Formulierung mehr, weniger oder genau sechs Stunden gemeint sind. Denn letztlich kann
dahingestellt bleiben, ob der Gutachter Prof.Dr.D. mit dieser Formulierung zum Ausdruck erbringen wollte, dass das
Leistungsvermögen des Klägers noch nicht unter sechs Stunden gesunken ist, wie es das Gesetz für eine
Rentengewährung erfordert. Der Senat hat seine Beweiswürdigung im Wesentlichen darauf abgestellt, dass die
Vorgutachter übereinstimmend bisher zum Ergebnis gekommen sind, dass der Kläger mehr als sechs Stunden
arbeiten kann, und sieht diese Einschätzung der Vorgutachter auch im Lichte des Gutachtens von Prof.Dr.D. nicht
anders. Denn Prof.Dr.D. führt wiederholt aus, dass die von ihm zusätzlich festgestellten rheumatologischen
Diagnosen im Wesentlichen nicht auf klinischen Symptomen beruhen, und wenn, dann diese häufig unspezifischer
Natur sind. Als einzig fassbare bildgebende Befunde ließen sich CT-Torax-Untersuchungen heranziehen, in der
subpleural fibrotische und granulomatöse Veränderungen im Lungengewebe festgestellt werden könnten, dass aber
letztlich auch eine bioptische Abklärung keinen spezifischen Befund gebracht hätte; eine höhergradige
Beeinträchtigung oder funktionelle Affektion der inneren Organe bestünde nicht. Eine genaue Differenzierbarkeit oder
Quantifizierbarkeit der einzelnen vom Kläger subjektiv verspürten, aber objektiv nicht nachvollziehbaren einzelnen
Schmerzkomponenten sei - so Prof. Dr.D. - mit den derzeitigen medizinischen Diagnostiken nicht möglich; sie würden
durch mündliche Aussagen des Klägers unterstrichen, in welchen er angibt, aufgrund der chronischen
Schmerzsituation "keiner regelmäßigen Tätigkeit mehr nachgehen zu wollen". Letztlich bliebe - so der Gutachter -
offen, ob die anamnestischen Angaben des Klägers dem tatsächlichen Beschwerdeverlauf entsprechen bzw.
inwieweit diese durch ein Rentenbegehren aggraviert werden. Diese vom Gutachter Prof.Dr.D. im Rahmen der
Untersuchung des Klägers gewonnenen Erkenntnisse haben dazu geführt, dass der Gutachter in seiner
Leistungsbeurteilung unsicher und zum Teil widersprüchlich bleibt. Einerseits geht er davon aus, dass der Kläger auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig Hilfsarbeitertätigkeiten verrichten kann, andererseit meint er, dass mit
einer effektiven Reintegration in ein neues Arbeitsumfeld nicht zu rechnen sei. Nach Auffassung des Senats begibt
sich der Gutachter Prof.Dr.D. insoweit auf das Feld von Spekulationen, da eine solche Einschätzung nicht mit den
medizinischen Befunden übereinstimmt und im Ergebnis letztlich nur auf den Angaben des Klägers bezüglich seiner
Schmerzen beruht.
Im Ergebnis ist der Senat zu der Überzeugung gekommen, dass das Leistungsvermögen des Klägers nicht nur nicht
unter sechs Stunden abgesunken ist, auch nicht nur genau sechs Stunden, sondern mehr als sechs Stunden umfasst
und er auf jeden Fall vollschichtig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein kann.
Im Ergebnis ist die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten, § 193 SGG, nachdem der Kläger mit seinem Begehren erfolglos
blieb.
Gründe, die Revision zuzulassen liegen nicht vor, § 160 Abs.1 Nrn.1 und 2 SGG.