Urteil des LSG Bayern vom 28.02.2007
LSG Bayern: stationäre behandlung, eltern, arbeitsunfall, geschwindigkeit, gleis, selbstmordversuch, entlassung, rehabilitation, einfahrt, bahnhof
Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 28.02.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 3 U 362/05
Bayerisches Landessozialgericht L 2 U 246/06
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 26.06.2006 wird
zurückgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Anerkennung des Unfalls, den der Kläger am 24.10.2004 erlitten hat, als Arbeitsunfall.
Der 1960 geborene Kläger befand sich seit dem 20.08.2004 in der Bezirksklinik B. , wo er wegen Schizophrenie
stationär behandelt wurde. Wie schon am 16./17.10.2004 besuchte er auch am 23./24.10.2004 mit Einwilligung der
Ärzte seine Eltern in W ... Am 24.10.2004 wartete er auf dem Bahnhof M. auf den Zug, der ihn zurück nach B. bringen
sollte. Dabei wurde er von dem einfahrenden Zug am Kopf verletzt; er erlitt ein Schädel-Hirntrauma, das zur
Erblindung führte.
Der Lokführer gab gegenüber der Polizei an, er habe bei der Einfahrt in den Bahnhof mit einer Geschwindigkeit von 60
km/h eine Person gesehen, die sich plötzlich dem Gleis genähert habe und mit vornübergebeugtem Kopf vor- und
zurückgewippt sei. Da er vermutet habe, dass die Person sich auf das Gleis stürzen wolle, habe er eine
Schnellbremsung eingeleitet. Der Lokführer schloss aus, dass die beobachtete Person einen Gegenstand habe
aufheben wollen. Die Auswertung der elektronischen Fahrtenregistrierung ergab eine Geschwindigkeit des Zuges bei
der Einfahrt vor der Schnellbremsung von circa 75 km/h. Bei telefonischer Befragung gab eine Zeugin an, sie habe
den Eindruck gehabt, der Kläger habe etwas aufheben wollen, ein Zeuge hatte den Eindruck, der Kläger sei gegen den
Zug gesprungen. Der Vater des Klägers äußerte im Schreiben vom 14.12.2004, der Kläger sei für die Besuchstage mit
Neuroleptika, die ihn reichlich müde gemacht hätten, versorgt gewesen. Vielleicht liege hierin die Ursache, dass er
nicht auf den einfahrenden Zug geachtet habe. Die Mutter des Klägers erklärte am 15.02.2005 in einem
Telefongespräch mit einem Bediensteten der Beklagten, der Kläger habe immer zwanghaft alles aufgehoben, was am
Boden gelegen habe, so wohl auch auf dem Bahnsteig. Es könne aber auch sein, dass ihm schlecht geworden sei. Er
sei durch die Medikamente oft recht schläfrig gewesen. Beim Abschied am 24.10.2004 sei seine Stimmung gut
gewesen, auch das Ende der stationären Behandlung habe ihm keine Sorgen bereitet.
Dr. L. , Stationsärztin der Fachklinik für Neurologische Rehabilitation Bezirk Oberpfalz, führte im Bericht vom
16.12.2004 aus, der Kläger habe am 24.10.2004 in Zusammenhang mit starken Ängsten bei bevorstehender
Entlassung aus der psychiatrischen Klinik seinen Kopf vor einen einfahrenden Zug gehalten. Er habe schon früher
mehrfach ernsthafte Suizidversuche unternommen.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 06.04.2005 die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab, da der Kläger
keinen Arbeitsunfall erlitten habe. Aufgrund der schizophrenen Grunderkrankung sei es bereits in der Vorgeschichte
mehrfach zu Suizidversuchen gekommen. Im Hinblick auf die Zeugenaussagen und die Angaben der behandelnden
Ärzte sei nach dem Beweis des ersten Anscheins davon auszugehen, dass es sich um einen Selbstmordversuch
gehandelt habe und somit ein Unfall nicht mit Gewissheit bewiesen sei.
Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10.10.2005 zurück.
Die hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht Augsburg durch Gerichtsbescheid vom 26.06.2006 abgewiesen.
Der Kläger habe keinen versicherten Unfall erlitten, denn bei einer absichtlichen Verletzung fehle es an einem
Unfallereignis als rechtlich wesentlicher Ursache. Nach dem unwidersprochenen Bericht des Bezirksklinikums habe
der Kläger unter starken Ängsten bei bevorstehender Entlassung gelitten. Unter Berücksichtigung bereits
vorausgegangener Selbstmordversuche sei der notwendige Nachweis eines unfreiwilligen Ereignisses nicht erbracht.
Zur Begründung der Berufung führte der Bevollmächtigte des Klägers aus, der Kläger sei nicht vor den einfahrenden
Zug gesprungen, sondern circa einen Meter hinter der Fahrzeugfront mit dem Kopf gegen den Zug gestoßen. Insofern
sei nicht anzunehmen, dass er einen Selbstmordversuch begangen habe. Die Schilderung der Zeugin, sie habe den
Eindruck gehabt, dass der Kläger etwas aufheben wolle, sei am besten mit dem tatsächlich objektivierten Geschehen
in Einklang zu bringen. Die Aussage des Lokführers sei nur eingeschränkt verwertbar, weil er bezüglich seiner
Fahrgeschwindigkeit unzutreffende Angaben gemacht habe. Die überhöhte Geschwindigkeit habe es für den Kläger,
der etwas habe aufheben wollen, schwer gemacht, die Situation einzuschätzen. Der Kläger sei im Verlauf der
Behandlung seiner psychischen Erkrankung bereits so weit stabilisiert gewesen, dass die Ärzte Wochenendurlaube
bewilligt hätten. Die Eltern könnten als Zeugen bestätigen, dass keine gesundheitliche Verschlechterung feststellbar
gewesen sei. Daher sei die Annahme eines Suizidversuches unwahrscheinlich. Unabhängig davon liege bei psychisch
Erkrankten auch dann ein versicherter Unfall vor, wenn sie als nicht Geschäftsfähige einen Unfall absichtlich
herbeiführten.
Beigezogen wurden der Bericht des Bezirkskrankenhauses B. über die stationäre Behandlung vom 20.08.2004 -
24.10.2004 und eine Stellungnahme von Dr.W. , ärztlicher Leiter der Fachklinik für Neurologische Rehabilitation.
Der Kläger stellt den Antrag,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 26.06.2006 sowie den Bescheid vom 06.04.2005 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 10.10.2005 aufzuheben und festzustellen, dass das Ereignis vom 24.10.2004 ein
Arbeitsunfall gewesen ist.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten sowie der Klage- und
Berufungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, sachlich aber nicht begründet.
Zu Recht hat das Sozialgericht Augsburg die Klage mit Gerichtsbescheid abgewiesen. Von einer weiteren Darstellung
der Entscheidungsgründe wird abgesehen, da die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als
unbegründet zurückgewiesen wird (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG).
Ergänzend ist noch darauf hinzuweisen, dass auch die im Berufungsverfahren vorgebrachten Argumente zu keiner
anderen Beurteilung der Sach- und Rechtslage führen können. Auch unterstellt, die am Bahnsteig anwesenden
Zeugen und der Lokführer hätten den Eindruck gehabt, der Kläger habe etwas aufheben wollen, so müssen im
Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung diese Aussagen nicht unbedingt zum Nachweis eines versicherten Unfalls
führen. Denn hier handelt es sich nur um persönliche Vermutungen der Zeugen. Auch die Angaben der Eltern des
Klägers, der Kläger habe einen ausgeglichenen und psychisch stabilisierten Eindruck gemacht, können die
maßgebliche Stellungnahme von Dr. L. vom 16.12.2004 nicht widerlegen. Dr. L. hat ausdrücklich auf die starken
Ängste, die das Verhalten des Klägers bestimmten, hingewiesen. Dr.W. hat bestätigt, dass diese Äußerung auf den
Angaben der Ärzte des Universätitsklinikums R. und der Eltern des Klägers beruht. Unbestritten sind dem Ereignis
vom 24.10.2004 schon mehrere ernsthafte Suizidversuche vorangegangen. So berichteten die behandelnden Ärzte
von einem Suizidversuch im August 2004, also nur zwei Monate vor dem Ereignis vom 24.10.2004, und wiesen auf
eine Negativsymptomatik mit Isolationstendenzen und auf akustische Halluzinationen hin. In Hinblick auf diese
Sachlage ist die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens nicht erforderlich. Die beim Kläger vorliegenden
tiefgreifenden psychischen Störungen haben zur Überzeugung des Senats zu dem Ereignis vom 24.10.2004 geführt.
Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.