Urteil des LSG Bayern vom 31.07.2007

LSG Bayern: multiple sklerose, therapie, label, behandlung, verfügung, arzneimittel, behinderung, krankenversicherung, zahl, versorgung

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 31.07.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 44 KR 1325/04
Bayerisches Landessozialgericht L 5 KR 322/06
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 29. September 2006 wird
zurückgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Versorgung mit Immunglobulinen bei Multipler Sklerose (MS) im Wege der Sachleistung. Die 1956
geborene Klägerin, die als Rentnerin pflichtversichert ist, steht seit Jahren wegen Encephalomyelitis disseminata mit
schubförmigem Verlauf in ambulanter Behandlung. Zur prophylaktischen Behandlung wurde ihr ab 2000 die
Verordnung von Immunglobulinen wegen Fehlens zugelassener und verkehrsfähiger Präparate genehmigt. Nach dem
Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 03.04.2003 - keine Immunglobuline bei schubförmig verlaufender MS, weil
keine ausreichend sicheren Erkenntnisse der Wirksamkeit vorliegen -, beantragte der behandelnde Neurologe Dr.S.
am 09.09.2003 die Fortführung der Therapie mangels anderweitiger Optionen und der konkreten Wirksamkeit im
Einzelfall. Dr.E. vom MDK führte in seinem Gutachten vom 12.11.2003 aus, weltweit sei kein Immunglobulin bei MS
zugelassen. Die Voraussetzung der Kostenübernahme, nämlich ein Wirksamkeitsgrad der Stufe III sei nicht gegeben.
Im Übrigen stünden neben der Cortisonhochdosistherapie zur immunmodulatorischen Basisbehandlung drei Beta-
Interferone, Glatirameracetat (Copaxone) und Azathioprin (Imurek) zur Verfügung. Daraufhin lehnte die Beklagte mit
Bescheid vom 17.11.2003 die Übernahme der Behandlung mit Immunglobulinen ab. Mit ihrem Widerspruch vom
26.11.2003 machte die Klägerin geltend, zumindest für eine Übergangszeit bis zur Wirksamkeit einer anderen
immunmodulatorischen Therapie seien die Kosten für die Therapie zu übernehmen. Daraufhin erklärte sich die
Beklagte am 03.12.2003 bereit, die Kosten der Therapie bis spätestens 31.01.2004 zu tragen. Am 01.06.2004 machte
die Klägerin geltend, nach dem Absetzen der Immunglobuline sei eine erhebliche Verschlechterung ihres
Gesundheitszustands eingetreten. Sie legte ein Attest des Neurologen Prof.Dr.F. vom 13.05.2004 vor, wonach ein
wichtiger Therapiegrundsatz sei, eine erfolgreiche Therapie nicht zu ändern. Es liege eine Studie höchster Evidenz vor
und es gebe Empfehlungen der Konsensusgruppe deutschsprachiger MS-Neurologen, die Immunglobuline bei
Kontraindikation gegen zugelassene Medikamente beinhalteten. Demgegenüber heißt es im MDK-Gutachten vom
16.06.2004, als Alternative stünden Glatirameracetat, Azathioprin und Mitoxanton zur Verfügung. Nach wie vor
besäßen die Immunglobuline keine Zulassungsreife. Daraufhin lehnte die Beklagte die Gewährung der strittigen
Therapie mit Bescheid vom 23.06.2004 ab. Im Widerspruchsverfahren trug die Klägerin vor, Copaxone, Azathioprin
und Beta-Interferon werde wegen der Abneigung gegen tägliche Spritzen und der Nebenwirkungen abgelehnt. Die
beste Therapie sei für sie die Immunglobulintherapie, deren Wirksamkeit durch drei Studien belegt sei. Die Beklagte
wies den Widerspruch am 19.08.2004 zurück. Dagegen hat die Klägerin Klage erhoben, auf den Nachweis der
individuellen Wirksamkeit, den fehlenden Kostenvorteil der zugelassenen Medikamente, die fehlenden
Nebenwirkungen der Immunglobulintherapie und die intensive Forschung hingewiesen. Sie hat einen Artikel über den
evidenzbasierten Konsens betreffend Immunglobuline vorgelegt, wenn Interferon oder Glatirameracetat nicht toleriert
würden oder aufgrund häufiger Injektionen abgelehnt würden. Untersuchungen der Evidenzklassen I und II liegen nach
diesem Artikel vor. Auf Anfrage hat das P.-Institut am 07.12.2004 mitgeteilt, für Immunglobuline bei MS bestünde
weder eine Zulassung noch eine Antragserweiterung. Allerdings habe sich die Datenlage in den letzten Wochen
verbessert. Nachdem Dr.S. am 24.11.2004 einen Befundbericht erstellt und der Klägerbevollmächtigte weitere Artikel
einer neurologischen Fachzeitschrift übersandt und auf Studien der Universität Rostock sowie der Neurologischen
Poliklinik Würzburg hingewiesen hatte und eine Verschlechterung nach einem weiteren Schub geltend gemacht
worden war, hat der MDK in seinem Gutachten vom 04.03.2005 geschrieben, eine Änderung der Beurteilung sei nicht
veranlasst, da nach wie vor Copaxone die Therapie der ersten Wahl sei. Nach Einholung weiterer Befundberichte hat
das Sozialgericht den Neurologen Dr.K. , Ärztlichen Direktor des Behandlungszentrums K. für Multiple Sklerose mit
der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 27.03.2006 nach ambulanter
Untersuchung am 14.11.2005 eine Multiple Sklerose von einem schubförmig remittierenden Verlaufstyp mit
erheblicher Schubfrequenz und eine inzwischen nicht unerhebliche Behinderung festgestellt. Daneben bestehe eine
ausgeprägte Depression mit latenter Suizidalität. Eine auf absehbare Zeit lebensbedrohliche Situation der
immunologisch behandlungspflichtigen Krankheit sei mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten. Alle drei in
Deutschland zugelassenen Interferone seien angesichts der Depression kontraindiziert. Das Absetzen der Therapie
mit Immunglobulinen sei angesichts der gut dokumentierten Stabilisierung des Krankheitsverlaufs ein Fehler gewesen.
Statt dessen hätte Glatirameracetat als nunmehr zugelassene Substanz eingesetzt werden können. Unter der
Voraussetzung, dass die Weigerung der Klägerin, sich selber täglich subkutane Spritzen zu verabreichen, nicht nur
aus medizinischer, sondern auch aus rechtlicher Sicht einen ausreichenden Grund darstelle, die Therapie mit
zugelassenen Medikamenten als nicht einsatzfähig anzusehen, stünden die intravenös zu verabreichenden
Immunglobuline als therapeutische Alternative zur Verfügung. Demgegenüber hat der MDK in seinem Gutachten vom
26.07.2006 auf eine Stellungnahme des Komitees Multiple Sclerosis International Federation von Juli 2005
hingewiesen, wonach die Behandlung außerhalb von Studien nicht empfohlen werde. In einer weiteren Stellungnahme
desselben Komitees vom Februar 2006 heiße es, die Ergebnisse weiterer Studien seien abzuwarten. Das
Sozialgericht München hat die Klage am 29.09.2006 abgewiesen. Die zweite Voraussetzung des Off-Label-Use sei
nicht erfüllt. Das Fertigarzneimittel Copaxone mit dem Wirkstoff Glatirameracetat sei zur Reduktion der
Schubfrequenz bei Patienten wie der Klägerin seit November 2001 zugelassen. Die befürchteten Folgen eines
Therapiewechsels hätten durch einen schleichenden Übergang von einem Präparat auf das andere vermieden werden
können. Tägliches Spritzen sei der Klägerin auch nicht unzumutbar, nachdem sie bereits mehrmals über mehrere
Tage hinweg Heparinspritzen erhalten habe und diese gut tolerieren konnte. Wahrscheinlich sei auch die dritte
Voraussetzung für einen Off-Label-Use nicht erfüllt, da der Maßstab für die Prüfung der hinreichenden Erfolgsaussicht
der nicht zugelassenen Medikation nach dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 26.09.2006 (B 1 KR 1/06 R) hoch
liege.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt. Die zwischenzeitlich eingeleitete Copaxonetherapie habe
erhebliche Nebenwirkungen und keine akute Besserung des Krankheitsbildes erbracht. Dr.S. hat der Beklagten
Befunde übermittelt und attestiert, dass aufgrund der angegebenen Unverträglichkeiten die Medikation von
Glatirameracetat eingestellt worden sei. Daraufhin hat die Beklagte ein weiteres Gutachten des MDK veranlasst. Dr.E.
hat in seiner Stellungnahme vom 25.04.2007 erneut auf alternative Behandlungsmethoden hingewiesen. Die isolierte
leichte Erhöhung der GGt sei kein stichhaltiges Argument gegen die Fortführung der Therapie mittels Copaxone.
Zudem stünde als Basistherapie noch Azathioprin zur Verfügung. Unabhängig davon sei auch die dritte
Voraussetzung des Off-Label-Einsatzes nicht erfüllt. Nach wie vor sei keine Datenlage veröffentlicht, die derjenigen
gleichzustellen wäre, die für eine arzneimittelrechtliche Zulassung erforderlich sei.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts München vom 29.09.2006 aufzuheben und die Beklagte unter
Aufhebung des Bescheides vom 23.06.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2004 zu
verurteilen, ihr die Behandlung mit Immunglobulinen im Wege der Sachleistung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Beklagtenakte, der Akte des Sozialgerichts München sowie der
Berufungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, erweist sich jedoch als unbegründet. Das Urteil
des Sozialgerichts München vom 29.09.2006 ist ebensowenig zu beanstanden wie der Bescheid der Beklagten vom
23.06.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2004. Die Behandlung der Multiplen Sklerose vom
schubförmig remittierenden Verlauf mit Immunglobulinen ist keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung.
Der in § 27 Abs.1 Satz 2 Nr.3 und § 31 Abs.1 SGB V normierte Anspruch auf Bereitstellung der für die
Krankenbehandlung benötigten Arzneimittel unterliegt den Einschränkungen aus § 2 Abs.1 Satz 3 und § 12 Abs.1
SGB V. Er besteht nur für solche Pharmakotherapien, die sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild als zweckmäßig
und wirtschaftlich erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der
medizinischen Erkenntnisse entspricht. Dabei knüpft das Krankenversicherungsrecht bei der Arzneimittelversorgung
an das Arzneimittelrecht an, das für Fertigarzneimittel eine staatliche Zulassung vorschreibt und deren Erteilung vom
Nachweis der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Medikaments abhängig macht (§ 21 Abs.2
Arzneimittelgesetz). Der Anspruch der Versicherten auf Versorgung mit Fertigarzneimitteln beschränkt sich daher
grundsätzlich auf die Arzneimittel, die für das jeweilige Indikationsgebiet eine arzneimittelrechtliche Zulassung
besitzen. Fehlt eine derartige Zulassung, entfällt eine Leistungspflicht der Krankenkassen (BSG, Urteil vom
19.03.2002 in SozR 3-2500 § 31 Nr.8, BSG, Urteil vom 04.04.2006 in SozR 4-2500 § 27 Nr.7). Wie das P.-Institut, das
Bundesamt für Sera und Impfstoffe, am 07.12.2004 mitgeteilt hat, ist die Indikation schubförmige Multiple Sklerose
für die intravenösen Immunglobuline nicht zugelassen. Für kein Immunglobulin wurde ein Antrag auf Erweiterung der
Zulassung gestellt. Hieran hat sich laut der am 30.10.2005 aktualisierten Homepage des P.-Instituts nichts verändert.
Nach wie vor ist Immunglobulin für die Indikation Multiple Sklerose nicht zugelassen. Zutreffend hat das Sozialgericht
daher ausgeführt, dass das beantragte Fertigarzneimittel Sandoglobin zwar eine arzneimittelrechtliche Zulassung etwa
bei AIDS bei Kindern besitzt, nicht hingegen für die Erkrankung Multiple Sklerose. Ebenso zutreffend hat es
dargestellt, unter welchen Voraussetzungen nach höchstrichterlicher Rechtsprechung der sogenannte Off-Label-Use
zugelassen ist. Um einen Seltenheitsfall, der sich einer systematischen Erforschung entzieht, handelt es sich bei der
Multiplen Sklerose, von der laut Klägerin 120.000 Kranke im Bundesgebiet betroffen sind, nicht. Die hierzu entwickel-
te Rechtsprechung (BSGE 93, 236) ist daher nicht einschlägig. Die Verordnung eines Medikaments in einem von der
Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung
einer schwerwiegenden Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der
Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder
palliativ) erzielt werden kann (BSG, Urteil vom 19.03.2002, a.a.O.). Zweifellos leidet die Klägerin unter einer
Gesundheitsstörung, die die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt. Nach dem Schreiben des
behandelnden Neurologen vom 19.03.2007 ist inzwischen ein erneuter Schub aufgetreten, so dass die Klägerin derzeit
in ihrer Gehfähigkeit beeinträchtigt ist. Der Grad der Behinderung beträgt bereits seit 2005 80 v.H. Es kann offen
bleiben, ob die zweite Bedingung des Off-Label-Use im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung erfüllt ist. Zwar
hat das Sozialgericht überzeugend dargelegt, dass mit Copaxone mit dem Wirkstoff Glatirameracetat eine
gleichwertige Behandlungsalternative zur Verfügung steht. Dies hat Dr.K. in seinem Gutachten vom 27.03.2006
deutlich zum Ausdruck gebracht, als er die intravenös zu verabreichenden Immunglobuline nur unter der
Voraussetzung als therapeutische Alternative sah, dass sich die Klägerin zu Recht weigere, sich selber täglich
subkutane Spritzen zu verabreichen, wie dies bei der Therapie mit Glatirameracetat notwendig ist. Dieser mögliche
Ausschlussgrund ist jedoch entfallen, nachdem die Klägerin nach der Klageabweisung im September 2006 eine
Copaxonetherapie durchführen ließ. Allerdings kann das Auftreten eines erneuten Schubs unter der Therapie mit
Copaxone sowie die Erhöhung der leberspezifischen Parameter, wie von Dr.S. beschrieben, eine Unverträglichkeit von
Copaxone darstellen. Schließlich könnte gegen die weiter als Basistherapie zur Verfügung stehende Therapie mit
Azathioprin die individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung sprechen. Aufgrund der eingeschränkten Datenlage zur
klinischen Effektivität wird Azathioprin in der immunprophylaktischen Basistherapie als Alternative zu den bei der
Klägerin von vornherein ausgeschlossenen Interferon-Beta-Präparaten gesehen, wenn für diese eine Kontraindaktion
oder eine Abneigung gegen Injektionen bestehen. Hinsichtlich der Datenlage wird auch von Dr.K. bestätigt, dass
insoweit die Immunglobuline überlegen sind. Selbst wenn die Klägerin keine Behandlungsalternative hat, kommt ein
Off-Label-Use zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung aber nicht in Betracht. Denn jedenfalls ist die dritte
Voraussetzung für einen Off-Label-Use nicht erfüllt. Aufgrund der Datenlage besteht keine hinreichend begründete
Aussicht auf einen Behandlungserfolg. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kann von hinreichenden
Erfolgsaussichten dann ausgegangen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das
Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder
a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung
der Phase III veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten
Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse
veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet
zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen
Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSG, Urteil vom 26.09.2006 Az.:
B 1 KR 1/06 R). Weder ist ein Zulassungsverfahren anhängig noch können Wirksamkeit, Verträglichkeit und
Sicherheit von Immunglobulinen bei Multipler Sklerose ausreichend beurteilt werden. Mit dieser Beurteilung stützt sich
der Senat auf das Gutachten des MDK vom 25.04.2007, das den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse
ausführlich dargestellt hat und insoweit mit den Ausführungen des Dr.K. übereinstimmt. Es hat sich insbesondere an
der entscheidungserheblichen Frage orientiert, ob die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den
Behandlungserfolg ausreicht, eine zulassungsüberschreitende Pharmakotherapie auf Kosten der Gesetzlichen
Krankenversicherung zu erlauben. Voraussetzung hierfür ist aber, wie das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung
vom 26.09.2006 (a.a.O.) ausgeführt hat, dass das Arzneimittel die drei Phasen der klinischen Prüfung positiv
absolviert hat. Nach der Phase I, in der an einer kleinen Zahl gesunder Probanden die Verträglichkeit der Substanz bei
Menschen untersucht wird, wird in einer Phase II an einer begrenzten Zahl von etwa 100 bis 200 Patienten versucht,
die pharmakodynamische Wirkung des Arzneimittels therapeutisch bzw. diagnostisch zu objektivieren. Die Phase-III-
Studie dient dem eigentlichen Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit und der Unbedenklichkeit der neuen
Substanz, der Bestätigung der in der Phase-II-Stufe gefundenen Hinweise. Diese Studie erfordert Versuche in einer
großen Zahl von Patienten (in der Regel mehr als 200). Entsprechende Studien sind bislang mit Immunglobulinen bei
Multipler Sklerose nicht abgeschlossen worden. Aussagen über die Wirksamkeit der intravenös zu verabreichenden
Immunglobuline basieren im Wesentlichen auf einer Publikation mit der Evidenzklasse 1 (publiziert 1997) und drei
Publikationen mit der Evidenzklasse II (publiziert 1998 und 2002). Eine internationale placebo-kontrollierte Studie an
120 Patienten mit schubförmiger Multipler Sklerose mit Immunglobulinen in zwei verschiedenen Dosen ist nach
Mitteilung der Bayer-Health-Care, Leverkusen, abgeschlossen. Die für 2005 erwarteten Ergebnisse sind bisher nicht
veröffentlicht. In jüngster Zeit wurden neue Daten zur Wirksamkeit von Immunglobulinen bei schubförmiger MS
veröffentlicht, die das P.-Institut veranlassten, von noch deutlicheren Hinweisen auf die Wirksamkeit der Arzneimittel
bei MS auszugehen. Allerdings handelt es sich um eine In-vitro-Studie (experimentelle Laborsituation), eine
retrospektive Studie (Phase-III-Studien sind immer prospektive Studien an großen Fallzahlen) und zwei prospektiven
Studien an kleiner Fallzahl und von verhältnismäßig kurzer Dauer. Die sozialmedizinische Expertengruppe
Arzneimittelversorgung der MDK-Gemeinschaft hat auch danach keinen internationalen Konsens in dieser Indikation
gesehen und sich in seiner Einschätzung durch die Stellungnahme des P.-Instituts bestätigen lassen können, dass
nach wie vor für die Indikation schubförmige MS keine kontrollierte, adäquat durchgeführte Phase-III-Studie für das
jeweilige Produkt vorliegt. Auch international wird diese Behandlung zur Zeit nicht außerhalb von Studien empfohlen.
Wenn demgegenüber die Empfehlung einschlägiger Therapiekonsensusgruppen und auch des Dr.K. dahingeht, die im
Einzelfall augenscheinlich erfolgreiche immunmodulatorische Basistherapie mit Immunglobulinen nicht zu wechseln,
so handelt es sich dabei um eine Expertenempfehlung, die dem Evidenzgrad IV entspricht, in keiner Weise also den
Anforderungen der dritten Bedingung der höchstrichterlichen Rechtsprechung gerecht wird. Als Mittel zweiter Wahl,
wie es auch von Dr.K. bezeichnet wird, gehören Immunglobuline grundsätzlich nicht in den Leistungskatalog der
gesetzlichen Krankenversicherung. Etwas Anderes könnte sich allenfalls ergeben, falls sich der Klägerin die
Möglichkeit eröffnet, an einer laufenden klinischen Studie mit Immunglobulinen teilzunehmen. Seit 01.04.2007 hat der
Versicherte unter den in § 35c SGB V genannten Voraussetzungen Anspruch auf Versorgung mit zugelassenen
Arzneimitteln bei der zulassungsüberschreitenden Anwendung zur Bewertung der Wirksamkeit in klinischen Studien.
Dies ist jedoch nicht Streitgegenstand. Zu keinem im Sinn des klägerischen Antrags positiven Ergebnis führt die
grundrechtsorientierte Auslegung des SGB V, anknüpfend an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
(Beschluss vom 06.12.2005 in SozR 4-2500 § 27 Nr.5). Die Regelungen des Leistungsrechts sind nur dann
anspruchserweiternd verfassungskonform auszulegen, wenn - hinausgehend über das Krankheitsschwereerfordernis
für einen Off-Label-Use - eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende bzw. eine zumindest
wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt (vgl. zuletzt Urteil des Bundessozialgerichts vom 14.12.2006
B 1 KR 12/06 R). Die dafür nötige notstandsähnliche Situation, ein Zeitdruck bzw. ein zur Lebenserhaltung
notwendiger akuter Behandlungsbedarf bestehen bei der hier zu behandelnden chronisch-progredienten Krankheit trotz
der dadurch bedingten gravierenden Beeinträchtigungen nicht. Wie das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung
vom 27.03.2007 in einem vergleichbaren Fall ausgeführt hat (B 1 KR 17/06 R), soll mit den intravenös zu
verabreichenden Immunglobulinen nur versucht werden, auf die Krankheitsschübe bei Multipler Sklerose Einfluss zu
nehmen bzw. das Fortschreiten der Behinderung zu hemmen. Keinesfalls bestehe ein zur Lebenserhaltung
notwendiger akuter Behandlungsbedarf. Ebenso verhält es sich im vorliegenden Fall. Ausdrücklich hat Dr.K. in seinem
Gutachten an das Sozialgericht den lebensbedrohlichen Charakter der MS verneint. Danach ist bei der Klägerin
prognostisch zwar mit einer weiteren Zunahme der Behinderung zu rechnen und auch eine Rollstuhlpflichtigkeit nach
Ablauf einiger Jahre nicht auszuschließen, eine auf absehbare Zeit lebensbedrohliche Situation ist jedoch mit großer
Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten.
Aus diesen Gründen war die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich.