Urteil des LSG Bayern vom 19.03.2002

LSG Bayern: blindheit, ex nunc, innere medizin, rücknahme, zukunft, bekanntgabe, vertrauensschutz, verwaltungsakt, perimeter, bösgläubigkeit

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 19.03.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 8 BL 3/97
Bayerisches Landessozialgericht L 15 BL 5/00
I. Auf die Berufung des Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 27.04.2000 und der Bescheid
vom 29.10.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.01.1997 dahingehend geändert, dass die
Rücknahme des Bescheides vom 29.03.1993 einschließlich der Folgebescheide vom 06.06.1993/06.06.1994 erst mit
Wirkung ab 01.12.1996 erfolgt und der Klägerin die entsprechenden Leistungen bis 30.11.1996 zustehen; im Übrigen
wird die Klage abgewiesen. Die Berufung des Beklagten wird im Übrigen zurückgewiesen. II. Der Beklagte hat der
Klägerin ein Fünftel der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die am 1934 geborene Klägerin bezog ab 01.03.1993 Zivilblindenpflegegeld. Dem entsprechenden Bescheid des
Beklagten vom 29.03.1993 lagen ein Befundbericht des behandelnden Augenarztes der Klägerin Dr.B. vom
12.01.1993 und ein versorgungsärztliches Gutachten des Augenarztes Dr.R. vom 02.03.1993 zugrunde. Dr.R. hatte
die Visus- und Gesichtsfeldbefunde als grenzwertig für die Annahme von Blindheit angesehen, diese aber seit
01.03.1993 als nachgewiesen erachtet.
Nachdem die Klägerin mitgeteilt hatte, bei ihr sei am 27.04.1995 eine Augenoperation durchgeführt worden, holte der
Beklagte einen Befundbericht von Dr.B. (03.07.1995) ein, der weiter das Vorliegen von Blindheit bestätigte, und
veranlasste eine versorgungsärztliche Begutachtung durch den Augenarzt Dr.P ... In seinem Gutachten vom
29.08.1995 gelangte dieser Sachverständige nach Durchführung einer Gesichtsfelduntersuchung mit dem Goldmann-
Perimeter zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin ein deutlich größeres Gesichtsfeld vorliege als 1993 von Dr.R.
angenommen und dass deswegen die Voraussetzungen für Blindheit nicht gegeben seien. Im Rahmen des
Anhörungsverfahrens trug die Klägerin unter Vorlage eines Attests des Dr.B. vom 29.09.1995 vor, eine Besserung der
1993 festgestellten Befunde sei nicht eingetreten; dies sei mit Rücksicht auf die Art der durchgeführten
Augenoperation (Kataraktoperation) gar nicht möglich.
Mit Bescheid vom 23.10.1995 stellte der Beklagte fest, dass sich infolge der 1995 durchgeführten Operation das
Sehvermögen der Klägerin soweit gebessert habe, dass Blindheit nicht mehr gegeben sei und entzog unter
Bezugnahme auf § 48 Abs.1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X) das Blindengeld ab 01.11.1995.
Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Widerspruch ein. Am 27.02.1996 erging ein Teilabhilfebescheid, mit dem
das Blindengeld für November 1995 weitergewährt und erst ab Dezember 1995 entzogen wurde, weil das Merkzeichen
"Bl" nach dem Schwerbehindertengesetz erst im Laufe des Monats November 1995 zum Wegfall gekommen sei. Im
Zuge der weiteren Überprüfung des Widerspruchs gelangte der Beklagte, veranlasst durch eine versorgungsärztliche
Stellungnahme der Ärztin für Innere Medizin/Sozialmedizin Dr.L. vom 19.04.1996 zu der Auffassung, das Vorliegen
von Blindheit bei der Klägerin sei weder durch die 1995 noch durch die 1993 eingeholten Befundberichte und
Gutachten belegt. Nach entsprechender Anhörung der Klägerin erließ der Beklagte daraufhin am 28.10.1996 einen
Teilabhilfe-Bescheid, mit dem er auf den Widerspruch der Klägerin die (noch nicht bindenden) Bescheide vom
23.10.1995 und 27.02.1996 aufhob, weil Blindheit nie vorgelegen habe und deshalb die betreffenden, sich auf § 48
SGB X stützenden Bescheide unrichtig gewesen seien. Am 29.10.1996 erging dann im Zuge des Vorverfahrens ein
weiterer Bescheid, mit dem der Beklagte den bindenden Bescheid vom 29.03.1993, mit dem Zivilblindenpflegegeld
gewährt worden war, und die Anpassungs-(Erhöhungs-)Bescheide vom 06.06.1993 und 06.06.1994 nach § 45 SGB X
mit Wirkung ab 01.12.1995 zurücknahm. Er stellte darin fest, dass Blindheit bei der Klägerin nie vorgelegen habe;
Blindengeld werde ab 01.12.1995 nicht mehr bezahlt, die vor diesem Zeitpunkt zu Unrecht bezogenen Leistungen
seien allerdings nicht zurück zu erstatten.
Am 23.01.1997 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin im Übrigen als unbegründet zurück.
Gegen den Bescheid vom 29.10.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.01.1997 hat die Klägerin
beim Sozialgericht Augsburg Anfechtungsklage erhoben: Entgegen der Auffassung des Beklagten läge bei ihr
ununterbrochen seit März 1993 Blindheit vor. Im Übrigen sei die zweijährige Rücknahmefrist nach § 45 Abs.3 SGB X
bereits im März 1995 abgelaufen, so dass auch die durch Art.7 des Bayerischen Blindegeldgesetzes (BayBlindG)
vom 01.04.1995 eingeführte vierjährige Rücknahmefrist in diesem Fall nicht mehr zur Geltung komme und bereits
wegen dieser Fristversäumnis der Bescheid vom 29.03.1993 nicht hätte zurückgenommen werden dürfen. Des
Weiteren hätte das Blindengeld mit dem angefochtenen Bescheid vom 29.10.1996 allenfalls ex nunc, nicht aber
rückwirkend ab 01.12.1995 entzogen werden dürfen, da sie - die Klägerin - 1993 sicher nicht bösgläubig gewesen sei.
Das Sozialgericht hat die einschlägige Blindengeld- und die Schwerbehindertenakte des Beklagten beigezogen und
von dem Augenarzt Prof.Dr.E.S. (Bundeswehrkrankenhaus U.) ein am 25.05./17.12.1998 erstattetes Gutachten
eingeholt. Der Sachverständige vertrat die Auffassung, dass die Bewilligung von Zivilblindenpflegegeld ab März 1993
zu Recht erfolgt sei; bei der Klägerin liege eine der Blindheit gleichzuachtende Sehstörung entsprechend Ziffer 3e der
Rdnr.23 der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertengesetz" (AP) 1996 (große Skotome im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht
mehr als 0,1 beträgt und im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist)
vor.
Der Beklagte vertrat demgegenüber, gestützt auf versorgungsärztliche Stellungnahmen der Dr.L. vom 05.10.1998,
23.06.1999 und 30.09.1999 die gegenteilige Auffassung. Es seien weder die von Prof.Dr.S. angenommenen
Voraussetzungen von Rdnr.23 Ziffer 3.e der AP 1996, welche die Richtlinien der Deutschen Ophtalmologischen
Gesellschaft (DOG) wiedergäben, noch die dortigen Ziffern 3b oder c erfüllt.
Mit Urteil vom 27.04.2000 hat das Sozialgericht den Bescheid vom 29.10.1996 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 23.01.1997 aufgehoben. Es schloss sich darin der von dem gerichtlichen
Sachverständigen Prof.Dr.S. vertretenen Auffassung an, wonach die Voraussetzungen für die Annahme von Blindheit
bei der Klägerin seit März 1993 vorlägen und wies im Übrigen darauf hin, selbst bei gegenteiliger Auffassung würde
der Vertrauensschutz der Klägerin einem Entzug der Leistungen auch für die Zukunft entgegenstehen.
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt: Das Sozialgericht habe in
den Gründen des angefochtenen Urteils "Restzweifel" am Vorliegen der Voraussetzungen für das Vorliegen einer der
Blindheit gleichzuachtenden Sehstörung geäußert und hätte deshalb diese mangels Vollbeweises nicht bejahen
dürfen. Die hilfsweise Argumentation, auch bei Fehlen der Voraussetzungen von Blindheit hätten die
Blindengeldzahlungen aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht eingestellt werden dürfen, da es sich bei diesen um
eine rentenähnliche Leistung handele, sei ebenfalls offensichtlich fehlerhaft. Denn das Zivilblindengeld solle
blindheitsbedingte Mehraufwendungen ausgleichen und könne deshalb mit einer gesetzlichen Rentenleistung, welche
Erwerbsersatzfunktion habe, nicht verglichen werden.
Der Senat hat die einschlägigen Akten des Beklagten beigezogen und eine ergänzende gutachtliche Stellungnahme
von der Augenärztin Dr.N. (Oberärztin am Bundeswehrkrankenhaus U.) eingeholt. Diese wies in ihrer Stellungnahme
vom 18.06.2001 darauf hin, dass es sich um einen Grenzfall handele, folgte aber ohne weitere Begründung der von
Prof.Dr.S. im sozialgerichtlichen Verfahren vertretenen Auffassung und empfahl, den Augenarzt Prof.Dr.G. gutachtlich
zu hören. In seinem im Auftrag des Senats nach Aktenlage erstatteten Gutachten vom 14.08./29.10.2001 vertrat
dieser Sachverständige die Auffassung, bei der Klägerin sei eine der Blindheit gleichzuachtende Sehstörung
anzunehmen, die Voraussetzungen der Ziffer 3e der AP 1996 seien - streng genommen - jedoch nicht erfüllt, da bei
entsprechend vermindertem Visus (unter 0,1) zwar im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als
die Hälfte ausgefallen sei, die Existenz großer Skotome im zentralen Gesichtsfeldbereich jedoch nicht bewiesen sei.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 27.04.2000 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom
29.10.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.01.1997 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie
auf den Inhalt der zu Beweiszwecken beigezogenen Akten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist zulässig (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -
in Verbindung mit Art.7 Abs.2 Satz 1 BayBlindG). Die Berufung ist auch - zum Teil - begründet, und zwar insoweit, als
das Sozialgericht den angefochtenen Bescheid/Widerspruchsbescheid vom 29.10.1996/23.01.1997 in vollem Umfang
- also auch hinsichtlich dessen kassatorischer Wirkung für die Zukunft - und nicht nur hinsichtlich der Rücknahme des
Bescheides vom 29.03.1993 mit Wirkung für die Vergangenheit (ab 01.12.1995) aufgehoben hat.
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist es nicht mit der erforderlichen an Gewissheit grenzenden
Wahrscheinlichkeit erwiesen, dass bei der Klägerin am 01.03.1993 oder in der Folgezeit die Voraussetzungen
vorlagen, um nach Art.1 Abs.3 Nr.2 des Gesetzes über die Gewährung von Pflegegeld an Zivilblinde
(Zivilblindenpflegegeldgesetz - ZPflG -) vom 25.01.1989 bzw. nach Art.1 Abs.2 Nr.2 des am 01.04.1995 in Kraft
getretenen BayBlindG als blind zu gelten und damit zum Kreis der Anspruchsberechtigten nach diesen Gesetzen zu
gehören. Dies ergibt sich aus den Ausführungen des vom Senat von Amts wegen als Sachverständigen gehörten
Augenarztes Prof.Dr. Dr.G. (Gutachten vom 14.08./29.10.2001), der dargelegt hat, dass bei der Klägerin keine der
kombinierten Sehstörungen vorliegt, die nach den AP - sowohl Fassung 1983 als auch Fassung 1996 - in Verbindung
mit den einschlägigen Richtlinien der DOG einer (beeinträchtigten) Sehschärfe von maximal 1/50 auf dem besseren
Auge gleichzuachten sind. Die Sehschärfe der Klägerin ist beidseits besser als 1/50. Als blind würde die Klägerin
damit nur dann gelten, wenn bei ihr neben dem reduzierten Visus weitere Störungen des Sehvermögens vorlägen, die
in der Kombination mit der reduzierten Sehschärfe einem Visus von nicht mehr als 1/50 auf dem besseren Auge
gleichzuachten wären (Art.1 Abs.2 Satz 2 Nr.2, 1 BayBlindG). Die von den AP übernommenen Richtlinien der DOG
führen eine Reihe von kombinierten Sehstörungen auf, deren Schweregrad so ist, dass sie einen der Blindheit
gleichzuachtenden Zustand bedingen. Mit Rücksicht auf die verbliebene Sehschärfe von 1/15 auf dem (besseren)
linken Auge kommen die Fallgruppen 3c und 3e der Richtlinien in Frage. Die dort aufgeführten Voraussetzungen sind
jedoch nicht erfüllt. Die Grenze des zentralen Restgesichtsfeldes der Klägerin liegt nach den am 25.05.1998 im
Bundeswehrkrankenhaus U. am Goldmann-Perimeter erhobenen Befunden in mehr als einer Richtung mehr als 7,5°
vom Zentrum entfernt. Die Voraussetzungen der Fallgruppe 3c sind damit nicht erfüllt. Große zentrale Skotome sind
nicht gesichert; am linken Auge kommt überhaupt kein zentrales Skotom zur Darstellung, am rechten Auge besteht
ein vergrößerter blinder Fleck, der aber nicht genau perimetriert werden konnte. Obwohl bei der Klägerin auch am
besseren linken Auge im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist,
sind deshalb die Voraussetzungen der Fallgruppe 3e ebenfalls nicht gegeben. Den Ausführungen des vom
Sozialgericht gehörten Sachverständigen Prof.Dr.S. (Gutachten vom 25.05./17.12.1998), der die Voraussetzungen der
Fallgruppe 3.e (Rdnr.23 AP 1996) als erfüllt ansah, vermochte sich der Senat im Hinblick auf die Ausführungen des
Beklagten (Versorgungsärztin Dr.L. vom 05.10.1998, 23.06.1999, 30.09.1999 und Versorgungsärztin Dr.P. vom
07.09.2001) und die Beurteilung des Sachverständigen Prof.Dr.G. nicht anzuschließen.
Im Übrigen wären auch die Voraussetzungen der Fallgruppe 3 b (Sehschärfe 0,05 = 1/20 oder weniger und
Restgesichtsfeld in keiner Richtung mehr als 15¬ vom Zentrum entfernt) nicht erfüllt, wenn man - was der Senat mit
Prof.Dr.G. nicht als bewiesen ansieht - mit Prof.Dr.S. von einem Visus von 1/20 oder 1/25 (beidäugiges bzw.
korrigiertes Sehen) ausgehen wollte. Denn jedenfalls auf dem rechten Auge reichen die Gesichtsfeldgrenzen weit über
15° hinaus.
Der Senat ist zwar der Auffassung, dass die in die Anhaltspunkte übernommenen Fallgruppen der DOG-Richtlinien
nicht exklusiv sämtliche der Blindheit gleich zu achtenden kombinierten Sehstörungen aufführen. Gleichwohl erscheint
es sowohl unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung als auch mit Rücksicht auf die Bindungswirkung der AP
nicht zulässig, in Fällen, in denen Sachverhalte vorliegen, die typischerweise in eine der Fallgruppen der DOG-
Richtlinien einzuordnen sind, Erweiterungen/Aufweichungen dieser Fallgruppen (z.B. durch Schaffung neuer
Fallkonstellationen bzw. Kombination einzelner Fallgruppen) mit anspruchsbegründender Wirkung vorzunehmen. In
einem Fall wie dem vorliegenden, der typischerweise hinsichtlich der Kombination der Sehstörungen den Fallgruppen
der DOG-Richtlinien (hier: Ziffer 3c, e und auch b) zuzuordnen ist, kann deshalb das Vorliegen einer der Blindheit
gleich zu achtenden Sehstörung nicht als bewiesen erachtet werden, wenn die jeweiligen Voraussetzungen einer der
Fallgruppen der DOG-Richtlinien nicht in vollem Umfang erfüllt sind.
Davon ausgehend, dass am 01.03.1993 und danach bei der Klägerin eine der Blindheit gleich zu achtende Sehstörung
nicht vorgelegen hat, erscheint gleichwohl die Aufhebung des Zivilblindenpflegegeld zusprechenden Bescheides vom
29.03.1993 und der Anpassungsbescheide vom 06.06.1993 sowie 06.06.1994 nicht in vollem Umfang gerechtfertigt.
Zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheides vom 29.03.1993 war die Klägerin weder "unlauter" im Sinn des § 45
Abs.2 Satz 3 Nrn.1 bis 3 SGB X noch lagen die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahmeklage entsprechend § 580
ZPO vor. Nur wenn diese Voraussetzungen vorliegen, räumt § 45 SGB X die Möglichkeit ein, den rechtswidrig
begünstigenden Verwaltungsakt (hier: Bescheid vom 29.03.1993) mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Der Beklagte hat jedoch mit dem angefochtenen Bescheid vom 29.10.1996 den Bescheid vom 29.03.1993 sowie die
Folgebescheide (Anpassungsbescheide) nicht nur mit Wirkung für die Zukunft (das wäre hier, da der angefochtene
Bescheid erst im Laufe des November 1996 bekannt gegeben wurde, die Zahlungsperiode ab 01.12.1996), sondern
bereits ab 01.12.1995 mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Entgegen der Auffassung des Beklagten
rechtfertigt der Verlust der "Gutgläubigkeit", der möglicherweise mit den - mittlerweile bindend zurückgenommenen
(vgl. Teilabhilfebescheid vom 28.10.1996) - Bescheiden vom 23.10.1995/27.02.1996 eingetreten ist, nicht die
Rücknahme nach § 45 SGB X mit Wirkung für einen Teil der Vergangenheit. Denn diese setzt "Bösgläubigkeit" zum
Zeitpunkt des Erlasses des rechtswidrig begünstigenden Bescheides voraus; die erst in der Folgezeit eintretende
Kenntnis von Umständen, welche "Bösgläubigkeit" begründen, ist für eine Rücknahme mit Wirkung für die
Vergangenheit nicht ausreichend. Allein möglich ist in solchen Fällen - vorbehaltlich der Abwägung zwischen
öffentlichem Interesse und Vertrauensschutz - eine Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft, d.h. frühestens ab
Bekanntgabe des nach § 45 SGB X ergehenden Bescheides (vgl. Wiesner in von Wulffen u.a., Kommentar zum SGB
X, 4. Auflage, Rdnr.23, 13, 17 zu § 45 SGB X; Kasseler Kommentar, Rdnr.17 zu § 45 SGB X).
Ab 01.12.1996 - an sich bereits ab 01.12.1995 - war das Vertrauen der Klägerin auf den Fortbestand der 1993
zugesprochenen Leistungen nach dem Zivilblindenpflegegeldgesetz bzw. Bayerischen Blindengeldgesetz nicht mehr
höher als das öffentliche Interesse an einer Stornierung der der Klägerin an sich nicht zustehenden Leistungen
einzuschätzen. Die Klägerin hat nichts vorgetragen, was in finanzieller Hinsicht die Notwendigkeit begründen könnte,
ihr die Leistungen nach dem Blindengeldgesetz für die Zukunft zu belassen.
Der Beklagte hat auch ausreichende Ermessenserwägungen in diesem Zusammenhang angestellt, die im
angefochtenen Bescheid auch in hinreichender Weise dargelegt wurden.
Gemäß Art.7 Abs.1 Satz 2 BayBlindG kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung
abweichend von § 45 Abs.3 Satz 1 SGB X bis zum Ablauf von vier Jahren nach seiner Bekanntgabe
zurückgenommen werden. Diese Frist wurde hier eingehalten. Die Bestimmung findet auch Anwendung. Der Bescheid
vom 29.03.1993 wurde erst am 05.04.1993 zur Post gegeben und damit erst im Laufe des April der Klägerin bekannt
gegeben. Die während der Geltung des Zivilblindenpflegegeldgesetzes einschlägige zweijährige Ausschlussfrist des §
45 Abs.3 Satz 1 SGB X erstreckte sich damit bis in den Geltungsbereich des zum 01.04.1995 in Kraft getretenen
Bayerischen Blindengeldgesetzes und wurde durch die dort kodifizierte vierjährige Ausschlussfrist des Art.7 Abs.1
Satz 2 ersetzt.
Scheitert eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit, so ist stets zu prüfen, ob der insoweit fehlerhafte
Rücknahmebescheid nicht zumindest die Voraussetzungen für eine Rücknahme mit Wirkung nur für die Zukunft erfüllt
(Kasseler Kommentar, Rdnr.17 zu § 45 SGB X). Diese sind hier gegeben. Das angefochtene Urteil und die
angefochtenen Bescheide waren daher entsprechend zu korrigieren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Für die Zulassung der Revision besteht kein Anlass, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs.2 Nrn. 1 bis 2 SGG
nicht vorliegen.