Urteil des LSG Bayern vom 19.04.2001
LSG Bayern: verfassungskonforme auslegung, umzug, rückforderung, belgien, eugh, verordnung, sozialversicherung, grenzgänger, sozialpolitik, vergleich
Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 19.04.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 9 Kg 131/95
Bayerisches Landessozialgericht L 14 KG 12/96
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 4. März 1996 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist zwischen den Beteiligten nurmehr, ob dem Kläger für das Jahr 1995 Kindergeld zusteht.
Der Kläger, ein Selbständiger und lediglich privat kranken- und pflegeversichert, bezog für den am 08.01.1988
geborenen Sohn M ... und für die am 23.12.1991 geborenen Zwillinge C ... und O ... Kindergeld. Für das Jahr 1994
erhielt er ungekürztes Kindergeld in Höhe von DM 420,00 monatlich.
Im Dezember 1994 zeigte der Kläger unter anderem an, nach Belgien umgezogen zu sein, weiterhin aber in A ...
versteuert zu werden. Eine Rückfrage beim Einwohnermeldeamt bestätigte, dass die Familie am 17.08.1994 nach
Belgien verzogen war.
Ohne Anhörung erließ die Beklagte den streitgegenständlichen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom
25.01.1995. Durch den Umzug im August 1994 bestehe kein Wohnsitz mehr in der Bundesrepublik. Gemäß § 48
Abs.1 SGB X werde die Bewilligung für die Monate September bis Dezember 1994 aufgehoben und DM 1.680,00 (4 x
DM 420,00) zurückgefordert. Gleichzeitig lehnte sie Kindergeld für das Jahr 1995 in monatlicher Höhe von DM 360,00
ab, da gemäß Art.73 EG-VO 1408/71 keine Beiträge zur Sozialversicherung in der Bundesrepublik geleistet würden
bzw. keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bestehe.
Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 16.05.1995 zurückgewiesen. Der Kläger habe den Umzug
grob fahrlässig verspätet angezeigt, so dass die rückwirkende Aufhebung gemäß § 48 Abs.1 Satz 2 Nr.4 SGB X
zulässig sei, zumal der Kläger die Kenntnis des Merkblattes über Kindergeld im Dezember 1991 ausdrücklich
unterschriftlich bestätigt habe.
Mit seiner Klage verfolgte der Kläger sein Anliegen weiter, beschränkte seinen Anspruch auf gerichtlichen Hinweis
jedoch auf den Zeitraum bis Dezember 1995. Zur Begründung führte er an, dass sich durch den Umzug in eine zehn
Kilometer von A ... angemietete Unterkunft nichts geändert habe, weder am in A ... bestehenden
Beschäftigungsverhältnis noch an der dort stattfindenden Besteuerung. Notwendig sei eine angemessene
Berücksichtigung der aktuellen und grenzüberschreitenden Gegebenheiten.
Da der Kläger im April 1995 angezeigt hatte, sein Einkommen habe sich wider Erwarten gebessert, weshalb das
Kindergeld ab Januar 1995 neu zu berechnen sei, nahm die Beklagte die Entscheidung über Bewilligung von
Kindergeld gemäß § 45 Abs.2 Nr.3 SGB X ab Januar 1995 mit Bescheid vom 24.08.1995 zurück.
Mit Urteil vom 04.03.1996 wies das Sozialgericht die Klage ab. Der Kläger habe weder nach dem
Bundeskindergeldgesetz - BKGG - (in der Fassung bis 31.12.1995 - a.F.) noch nach dem Recht der Europäischen
Gemeinschaft einen Anspruch auf Kindergeld. Auch die rückwirkende Aufhebung des Kindergeldes für das Jahr 1994
und die Rückforderung der Beklagten hielt es für rechtmäßig.
Mit dem Rechtsmittel der Berufung moniert der Kläger weiterhin die zu Unrecht vorenthaltenen Kindergeldzahlungen.
Zur Beendigung des Rechtsstreits machte der Senat folgenden Vergleichsvorschlag: Die Beklagte verzichtet auf die
Rückforderung des Kindergeldes für die Zeit von September bis Dezember 1994. Gleichzeitig nimmt der Kläger die
Berufung zurück. Grundlage dieses Vorschlages war einerseits die formell-rechtliche Überlegung, dass die Beklagte
für die Aufhebung und Rückforderung das Anhörungsverfahren nicht durchgeführt hatte, so dass bei verstrichener
Jahresfrist für die Rückforderung keine Rechtsgrundlage mehr bestünde. Andererseits habe der Kläger unter
Beachtung der Urteile des Bundesverfassungsgerichts vom 30.12.1999 und des Europäischen Gerichtshofs vom
30.01.1997 materiell keinen Anspruch auf Kindergeld für das Jahr 1995. Während die Beklagte den
Vergleichsvorschlag annahm, beharrte der Kläger auf seinem Anspruch auf Kindergeld für das Jahr 1995. Daraufhin
teilte der Senat den Beteiligten mit, dass nurmehr der Kindergeldanspruch für das Jahr 1995 streitig sei und erbat die
jeweilige Einverständniserklärung zur Entscheidung im schriftlichen Verfahren. Hierin willigten die Beteiligten ein.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 04.03.1996 abzuändern und die Beklagte unter Abänderung des
Bescheides vom 25.01.1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.05.1995 sowie unter Aufhebung
des Bescheides vom 24.08. 1995 zu verurteilen, ihm für das Jahr 1995 Kindergeld zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Dem Senat lagen zur Entscheidung die Kindergeldakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge vor.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird wegen der Einzelheiten hierauf Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß § 143 f. des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist
zulässig, sachlich aber nicht begründet. Der Kläger hat für das Jahr 1995 weder nach §§ 1 Abs.1, 2 Abs.5
Bundeskindergeldgesetz (BKGG a.F.) noch nach Art.73 der EG-Verordnung 1408/71 (EG-VO) Anspruch auf
Kindergeld.
Anspruch auf Kindergeld nach dem BKGG a.F. hatte nur, wer als Anspruchsberechtigter gemäß § 1 Abs.1 seinen
Wohnsitz im Inland hatte und auch die Kinder im Inland wohnten (§ 2 Abs.5 BKGG a.F.). Durch den Umzug des
Klägers ins nahe Belgien ist dies seit Herbst 1994 nicht mehr der Fall und wird vom Kläger auch nicht bestritten, so
dass sich breite Ausführungen zum Wohnsitz erübrigen. Er beharrt aber auf seiner Meinung, dass diese Rechtsfolge
für ihn als "Grenzgänger" und nach wie vor im Inland Steuerpflichtigen nicht eintreten dürfe, wie dies durch die
Neuregelung des Kindergeldrechts ab 01.01.1996 bereits beachtet werde. Dieser Rechtsauffassung kann der Senat
nicht folgen, da das BKGG a.F. als geltendes Recht bis 31.12.1995 anzuwenden ist und das Territorialitätsprinzip
dieses Gesetzes strikte Beachtung fordert. An diesem Ergebnis ändert auch die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 30.12.1999 (SozR 3-1200 § 30 Nr.20) nichts. Zwar hat das BVerfG insoweit
entschieden, dass der Gleichheitsgrundsatz des Art.3 Abs.1 Grundgesetz eine verfassungskonforme Auslegung des
auch für das Kindergeldrecht zu beachtenden Wohnsitzbegriffes des § 30 Abs.1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB
I) gebiete, dass dem Anspruch eines zuvor in Deutschland beitragspflichtigen Grenzgängers auf Arbeitslosengeld der
Auslandswohnsitz jedenfalls dann nicht entgegenstehen dürfe, wenn die übrigen Leistungsvoraussetzungen erfüllt
seien. Seiner Entscheidung hat das oberste Gericht vorangestellt, dass eine durch § 30 Abs.1 SGB I bewirkte
Ungleichbehandlung der Personen mit Auslandswohnsitz im Vergleich zu solchen mit Inlandswohnsitz sachlich
durchaus gerechtfertigt sein kann. Denn es ist ein verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstandendes Ziel
nationaler Sozialpolitik, sozial-relevante Tatbestände im eigenen Staatsgebiet zu formen und zu regeln. Insoweit hat
es auf seine Entscheidung Bezug genommen (Beschluss vom 02.07.1998 - NJW 1998, S.2963/ 2964), die
Nichtanrechnung von Zeiten der Kindererziehung im Ausland verfassungsrechtlich zu billigen. Zum
Verfassungsverstoß im konkreten Ausgangsfall kam es aber nur, weil es sich um einen Grenzgänger als einem im
Inland beschäftigte und versicherte Person handelte und vor allem, weil diese zwangsweise in das nationale
Sicherungssystem des Beschäftigungsortes einbezogen war. Bei dieser Fallkonstellation ist es nachvollziehbar, dass
das BVerfG den Wechsel des Anknüpfungspunktes zwischen Beitragserhebung und Leistungsberechtigung
beanstandete. Ausschlaggebendes Kriterium war demnach, dass der Anspruchsberechtigte voll (beitragspflichtig,
pflichtversichert) in das soziale System integriert war. Dies ist beim Kläger, der lediglich privat kranken- und
pflegeversichert ist, gerade nicht der Fall. Erst recht kann dies nicht gelten in der gewährenden Sozialversicherung,
deren einzige Anspruchsvoraussetzung für die gewährende Leistung und einzig gewichtiger sachlicher Grund der
Wohnsitz ist, während dort der Leistungsberechtigung die zwangsweise Beitragserhebung vorausging.
Auch nach dem Recht der Europäischen Gemeinschaft ist der Kläger nicht anspruchsberechtigt. Die dem Kindergeld
entsprechende Familienleistung des Art.73 EG-VO steht einem Selbständigen wie dem Kläger nur zu, wenn er
zunächst die Legaldefinition des Art.1 Buchstabe a ii) EG-VO erfüllt und darüber hinaus die Anforderungen des
persönlichen Geltungsbereichs der Verordnung, wie ihn der Mitgliedstaat Deutschland in Anhang I C Unterabschnitt b
für Selbständige bestimmt für den Fall, dass ein deutscher Träger der zuständige Träger für die Gewährung von
Familienleistungen ist: Als Selbständiger im Sinne der Verordnung gilt, "wer eine Tätigkeit als Selbständiger ausübt
und - in einer Versicherung der selbständig Erwerbstätigen für den Fall des Alters versicherungs- oder beitragspflichtig
ist oder - in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig ist". Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat
in seinem Urteil vom 30.01.1997 (SozR 3 6050 Art.73 Nr.10) in zwei Fällen von freiwillig versicherten Selbständigen
ausdrücklich entschieden, dass die Selbständigeneigenschaft insbesondere von der Zugehörigkeit zu einem
Altersrentenversicherungssystem abhängt, wenn für die Gewährung der Familienleistungen ein deutscher Träger
zuständig ist. Der Kläger, der nicht einmal freiwillig versichert ist, gehört nicht zu gerade diesem
Versicherungssystem und ist daher nicht anspruchsberechtigt. Im Übrigen ist der Senat an die Rechtsprechung des
EuGH gebunden. Diese Bindung gilt selbst für das Bundesverfassungsgericht.
Dass der deutsche Gesetzgeber gerade im Hinblick auf die EuGH-Rechtsprechung zu Familienleistungen eine
Änderung der Kindergeldberechtigung ab 01.01.1996 vorgenommen hat, ändert an der Beachtung der Rechtslage bis
31.12.1995 nichts.
Daher war die Berufung mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.