Urteil des LSG Bayern vom 22.06.2009

LSG Bayern: darstellung des sachverhaltes, erwerbsfähigkeit, unterliegen, rechtsgrundlage, leistungsanspruch, wechsel, erfüllung, behörde, sozialhilfe, bekanntgabe

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 22.06.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 20 AS 124/09 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 11 AS 198/09 B ER
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichtes Nürnberg vom 19.02.2009 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I. Die Antragstellerin (ASt) begehrt die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes
(Arbeitslosengeld II - Alg II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die ASt bezog seit 01.01.2005 Alg II, zuletzt mit Bescheid der Antragsgegnerin (Ag) vom 29.05.2008 für die Zeit bis
31.12.2008 (monatliche Leistung: 713,76 EUR einschließlich Kosten der Unterkunft in Höhe von 296,29 EUR).
Nachdem die Ag in Erfahrung gebracht hatte, dass die ASt keinerlei Mietzahlungen leisten würde, hob sie die
Bewilligung für die Zeit ab dem 01.07.2008 in Bezug auf die Unterkunftskosten auf (Bescheid vom 19.09.2008). Für
die Zeit ab dem 01.10.2008 verfügte die Ag die vollständige Aufhebung der Leistungsbewilligung, weil die ASt
aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht mehr als erwerbsfähig angesehen werden könne. Im Rahmen eines
Verfahrens des einstweiligen Rechtschutzes (S 20 AS 1098/08 ER) vor dem Sozialgericht Nürnberg (SG) gab die ASt
an, keine Mietzahlungen zu leisten, weil der Vermieter ihr geschiedener Ehemann sei, der ihr noch Unterhalt bzw.
Zahlungen aus dem Zugewinnausgleich schulde. Sie zahle daher im Gegenzug keine Miete. Im Hinblick auf diese
Sachlage erklärte sich die Ag bereit, zumindest die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (417,47 EUR)
vorerst weiter zu erbringen.
Nachdem weiterhin die Notwendigkeit bestand die Erwerbsfähigkeit der ASt zu überprüfen wurde die ASt zu einer
Untersuchung durch den ärztlichen Dienst der Ag eingeladen, zu der die ASt jedoch nicht erschien.
Mit Beschluss des Amtsgerichtes A. - Vormundschaftsgericht - vom 27.11.2008 wurde für die ASt eine vorläufige
Betreuerin bestellt, die der Ag mitteilte, dass sich die ASt zu einer Begutachtung in der geschlossenen Station des
Bezirksklinikums A. befinde. Ein Gutachten vom 12.01.2009 ergab, dass die ASt unter einer Psychose aus dem
schizophrenen Formenkreis im Stadium eines schizophrenen Residuums leide.
Den am 08.12.2008 gestellten Antrag auf Weiterbewilligung der Leistungen nach dem SGB II lehnte die Ag mit
Bescheid vom 04.02.2009 ab. In mehreren zivilgerichtlichen Verfahren sei festgestellt worden, dass die ASt aufgrund
ihrer psychischen Erkrankung geschäftsunfähig sei, und bei anhaltender Weigerung der ASt sich medizinisch
behandeln zu lassen, sei eine Besserung des Gesundheitszustandes nicht zu erreichen, so dass von einer
dauerhaften vollen Erwerbsminderung auszugehen sei, die einen Leistungsanspruch nach dem SGB II ausschließe.
Bereits am 02.02.2009 (Schreiben vom 30.01.2009) hat die ASt beim SG den Erlass einer einstweiligen Anordnung
beantragt und Widerspruch gegen den noch zu erlassenden Bescheid der Ag erhoben.
Das Landratsamt A. - Sozialhilfeverwaltung - hat der ASt mit Bescheid vom 17.02.2009 Hilfe zum Lebensunterhalt
nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für die Zeit ab dem 01.10.2008 (bis auf weiteres) bewilligt. Für
den Zeitraum von Oktober 2008 bis Dezember 2009 betrage der Anspruch 417,46 EUR.
Einen mit dem Scheiben vom 30.01.2009 geltend gemachten Schadensersatzanspruch gegen eine vormalige
Bevollmächtigte hat das SG als gesondertes Verfahren abgetrennt (S 20 AS 164/09 ER). Mit Beschluss vom
19.02.2009 hat es in Bezug auf diesen Anspruch die Unzulässigkeit des beschrittenen Rechtsweges festgestellt und
das Verfahren an das Landgericht A. verwiesen.
Im weiteren hat das SG - mangels nachvollziehbarer Begründung der ASt - die Anträge dahingehend ausgelegt, dass
die Ag zu verpflichten sei, das ihr zustehende Unterhaltsgeld von ihrem Ex- Ehemann bzw. einen
Unterhaltsvorschuss in der vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Höhe per Scheck auszubezahlen, hilfsweise die Ag
zu verpflichten, Leistungen nach dem SGB II zu zahlen.
Den (Haupt-)Antrag hat das SG mit Beschluss vom 19.02.2009 als unzulässig zurückgewiesen, weil die ASt kein
entsprechendes Verwaltungsverfahren bei der Ag eingeleitet habe. Insoweit fehle bereits das Rechtschutzbedürfnis.
Darüber hinaus sei ein Anordnungsanspruch offensichtlich nicht gegeben, weil eine Rechtsgrundlage für die begehrten
Zahlungen nach dem SGB II nicht gegeben sei.
Den (Hilfs-)Antrag auf Verpflichtung der Ag zur Erbringung von Leistungen nach dem SGB II hat das SG als
unbegründet zurückgewiesen. Im Hinblick auf die psychische Erkrankung und die in diesem Zusammenhang
eingeholten Gutachten sowie den Umstand, dass die ASt im Rahmen mehrerer zivilgerichtlicher Verfahren als
geschäftsunfähig angesehen worden war, sprächen erhebliche Gesichtspunkte gegen die Erwerbsfähigkeit der ASt, so
dass die Erfolgsaussichten in einem Hauptsacheverfahren als äußerst gering anzusehen seien. Unzweifelhaft liege
jedoch ein Anordnungsgrund nicht vor, denn die ASt beziehe Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch
(SGB XII) in der Höhe, in der sie zuletzt durch die Ag erbracht worden seien. Eine vorläufige Regelung sei daher nicht
erforderlich, insbesondere weil die ASt auch nichts zum Vorliegen einer Notsituation vorgetragen habe.
Gegen diesen Beschluss hat die ASt am 26.03.2009 Beschwerde beim Bayerischen Landessozialgericht eingelegt
und geltend gemacht, dass der Sozialhilfeträger beabsichtige die Leistungen zum Juli 2009 einzustellen (Schreiben
vom 15.05.2009).
Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes wird auf die beigezogenen Akten der Ag sowie die Gerichtsakten erster
und zweiter Instanz verwiesen.
II.
Die form- und fristgerechte Beschwerde ist zulässig, §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das Rechtsmittel
erweist sich jedoch als nicht begründet.
Vorliegend begehrt die ASt die Auszahlung eines Unterhaltsvorschusses bzw. hilfsweise die Bewilligung von Alg II, so
dass für die Frage, ob der ASt diese Leistungen (vorläufig) zu erbringen sind, § 86b Abs 2 Satz 2 SGG die
maßgebliche Rechtsgrundlage für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes darstellt.
Eine einstweilige Regelung ist zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa
dann der Fall, wenn dem ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare
Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so
BVerfG vom 25.10.1998 BVerfGE 79, 69 (74); vom 19.10.1997 BVerfGE 46, 166 (179) und vom 22.11.2002 NJW
2003, 1236; Niesel, Der Sozialgerichtsprozess, 4. Aufl. RdNr. 643)
Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und
das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den der ASt sein
Begehren stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat der Ast glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 2 und 4 SGG iVm §
920 Abs 2, § 294 Zivilprozessordnung - ZPO -; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG 9.Aufl, § 86b Rn. 41).
Bereits das SG hat zu Recht und mit zutreffender Begründung die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes versagt,
so dass insoweit von einer weiteren Begründung abzusehen und auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses zu
verweisen ist (§ 142 Abs 2 Satz 3 SGG). In Bezug auf den geltend gemachten Unterhaltsvorschuss war der Eilantrag
unzulässig und die (vorläufige) Gewährung von Leistungen nach dem SGB II scheitert - unabhängig davon, dass
Anhaltspunkte für die Erwerbsfähigkeit der ASt fehlen - am fehlenden Anordnungsgrund, denn die ASt bezieht derzeit
Leistungen nach dem SGB XII in der Höhe, wie sie nach dem SGB II zustehen würden.
Eine andere Beurteilung ist auch nicht durch das Vorbringen geboten, die Sozialhilfeverwaltung beabsichtige die
Leistungen ab Juli 2009 einzustellen.
Der vorliegende Bescheid vom 17.02.2009 ist - entgegen dem unzutreffenden Hinweis der Sozialhilfeverwaltung - ein
Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, der nur nach den Vorschriften der §§ 45, 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB
X) aufgehoben werden kann.
Die auf materiell- rechtlichen Überlegungen beruhende verfahrensrechtliche Ausgestaltung der Sozialhilfe nach dem
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) ist mit der Einführung des SGB XII von der sozialgerichtlichen Rechtsprechung (vgl.
BayLSG, Beschluss vom 14.03.2007 - L 8 B 48/07 SO/ER; Beschluss vom 15.12.2008 - L 8 B 1002/08 SO ER) nicht
fortgeführt worden, insbesondere weil auch der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, dass die Regelungen der §§ 44
bis 50 SGB X im Rahmen des SGB XII Anwendung zu finden haben. Auch kann der Hinweis der Sozialhilfeverwaltung
nicht als Nebenbestimmung iSd § 32 SGB X verstanden werden, denn zum einen ist dem Hinweis zu entnehmen,
dass die Sozialhilfeverwaltung gerade davon ausging, eines Widerrufsvorbehaltes bedürfe es nicht, so dass der Wille
der Behörde, einen Bescheid mit einer Nebenbestimmung zu erlassen, nicht zu erkennen ist. Zum anderen dürfte sich
eine solche Nebenbestimmung als rechtswidrig erweisen, denn die Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt ist eine
gebundene Entscheidung, die mit einer Nebenbestimmung nur versehen werden kann, wenn dies durch
Rechtsvorschrift zugelassen ist oder das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen sicher gestellt werden soll (§
32 Abs 1 SGB X).
Eine Rechtsvorschrift, die einen uneingeschränkten Widerrufsvorbehalt zuließe, gibt es nicht und die
Sicherstellungsfunktion rechtfertigt eine Nebenbestimmung nur, soweit die Erfüllung geringfügiger tatbestandlicher
Vorsetzungen des Anspruches sichergestellt werden soll, nicht jedoch wenn - wie vorliegend die Frage der vollen
Erwerbsminderung - eine wesentliche Anspruchsgrundlage noch nicht geklärt ist. Soweit darüber hinaus der künftige
Fortbestand der gesetzlichen Voraussetzungen eines Dauerverwaltungsaktes gesichert werden soll, ist dies allenfalls
für Verhältnisse in Betracht zu ziehen, die einem häufigen Wechsel unterliegen (vgl. hierzu im einzelnen Engelmann in
von Wulffen, SGB X, § 32 Rn.10), so dass auch die Frage der vollen Erwerbsminderung nicht Gegenstand einer
Nebenbestimmung sein kann, zumal eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse über § 48 SGB X
erfasst werden kann.
Vorliegend gibt es jedoch keinerlei Anhaltspunkte, dass die Sozialhilfeverwaltung belegen könnte, der Bescheid vom
17.02.2009 wäre zu Unrecht ergangen (§ 45 SGB X) oder es sei in Bezug auf die fehlende Erwerbsfähigkeit der ASt
eine wesentliche Besserung (§ 48 SGB X) eingetreten.
Darüber hinaus erschiene nur denkbar, dass die Sozialhilfeverwaltung der ASt wegen fehlender Mitwirkung die
laufenden Leistungen nach den §§ 60, 66 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) entziehen könnte. Bislang ist jedoch
nicht dargelegt, dass die Sozialhilfeverwaltung die Voraussetzungen für eine solche Entziehung der Leistungen
geschaffen hat, insbesondere, dass die ASt über die konkrete und zumutbare Mitwirkungspflicht schriftlich - unter
Hinweis auf die Rechtsfolgen - belehrt worden ist. Das von der ASt vorgelegte Schreiben vom 15.05.2009 genügt
diesen Anforderungen - aus der Sicht des Senates - jedenfalls nicht. Zudem ist aus dem Schreiben des
Landratsamtes ersichtlich, dass der weitere Bezug von Leistungen nach dem SGB XII nicht seitens der
Sozialhilfeverwaltung in Frage gestellt wird, weil die Erwerbsminderung der ASt von dort in Zweifel gezogen würde; ob
der Sozialhilfeträger die Leistungen tatsächlich einstellt, hängt derzeit allein von einem Verhalten der ASt ab, und es
gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass es der ASt objektiv unmöglich wäre, die geforderten Angaben zu machen. Die
Dringlichkeit der Angelegenheit ist daher nicht zu erkennen, soweit es die ASt selbst in der Hand hat, den weiteren
Leistungsbezug durch den Sozialhilfeträger sicher zu stellen.
Im Ergebnis ist somit eine Existenzgefährdung der ASt zum jetzigen Zeitpunkt nicht belegt, so dass eine vorläufige
Regelung, die Ag zu Leistungen nach dem SGB II zu verpflichten, mangels Anordnungsgrundes nicht geboten ist.
In diesem Zusammenhang kann offen bleiben, ob auch ein Anordnungsanspruch nicht bereits deshalb
ausgeschlossen ist, weil der Ablehnungsbescheid der Ag vom 04.02.2009 - mangels wirksamer Erhebung eines
Widerspruches - bestandskräftig geworden ist und einen Leistungsanspruch der ASt bindend ausschließt (§ 77 SGG).
Ein vorsorglicher Widerspruch - wie der vom 30.01.2009 gegen einen noch zu erlassenden Bescheid - ist unzulässig
(vgl. Leitherer in Meyer- Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 84 Rn. 4c), und nach Lage der Akten ist nicht
nachvollziehbar, ob die ASt nach Bekanntgabe des Bescheides vom 04.02.2009 diesen mit einem Rechtsbehelf
angegriffen hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und folgt aus dem Unterliegen
der ASt. Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.