Urteil des LSG Bayern vom 16.06.2009

LSG Bayern: hauptsache, erwerbsfähigkeit, erlass, akte, unfallfolgen, familie, arthrose, verdacht, zivilprozessordnung, entlassung

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 16.06.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Bayreuth S 3 U 5007/09 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 17 U 189/09 B ER
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Bayreuth vom 14.04.2009 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I. Streitig in dem Antragsverfahren ist die Verpflichtung der Antragsgegnerin (Ag) zur Gewährung einer
Verletztenrente.
Der 1965 geborene Antragsteller (Ast) erlitt am 11.11.2006 bei Baumfällarbeiten einen Unfall. Er zog sich eine Fraktur
des rechten Unterschenkels zu (vgl. Durchgangsarztbericht des Dr. H. vom 13.11.2006). Nach Entlassung aus der
stationären Behandlung am 21.12.2006 teilte der Durchgangsarzt Dr. H. der Ag mit, dass die Minderung der
Erwerbsfähigkeit (MdE) nach vorläufiger Schätzung über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus 20 vH betrage
(Bericht vom 02.01.2007).
Die Ag holte ein unfallchirurgisches Gutachten von Prof. Dr. H. ein, der als Unfallfolgen ein chronisches
Schmerzsyndrom des rechten Unterschenkels nach Unterschenkelschaftfraktur mit Kompartmentsyndrom, eine
Falschgelenkbildung am Wadenbeinschaft bei vollständiger Ausheilung des Schienbeinbruches, reizlose Narben -
jedoch Schwellneigung des körperfernen Unterschenkels und des Sprunggelenks rechts, eine schmerzbedingte
Bewegungseinschränkung des rechten oberen Sprunggelenkes und eine muskuläre Atrophie des rechten Beins
feststellte (Gutachten vom 21.10.2008). Die MdE durch die Verletzungsfolgen werde ab dem Tag nach dem Auslaufen
der Verletztengeldzahlung (29.09.2008) bis zum 08.10.2009 auf 10 vH eingeschätzt.
Der ebenfalls von der Ag gehörte Dr. K. kam in dem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 17.11.2008 zum
Schluss, dass beim Ast unfallbedingt ein chronisches Schmerzsyndrom nach stattgehabter Gewebeschädigung
infolge einer zwischenzeitlich verheilten Tibiafraktur mit Kompartmentsyndrom bestehe. Diese Unfallfolge rechtfertige
eine MdE in Höhe von 10 vH, wobei bei dieser Bewertung Überschneidungen mit dem unfallchirurgischen Fachgebiet
enthalten seien. In psychischer Hinsicht bestehe dem Eindruck nach eine bewusstseinsnahe verstärkte
Beschwerdeschilderung bei persönlichkeitsbedingter psychosomatischer Reaktionsweise.
Nach Einholung einer beratungsärztlichen Stellungnahme des Chirurgen Dr. B., der die Gesamt-MdE in Höhe von 10
vH einschätzte, erkannte die Ag mit Bescheid vom 17.12.2008 das Ereignis vom 11.11.2006 als Arbeitsunfall an und
lehnte die Gewährung einer Verletztenrente ab. Die Erwerbsfähigkeit sei nach Ende des Verletztengeldanspruches,
also ab 29.09.2008, nicht um wenigstens 20 vH gemindert. Die Unfallfolgen bezeichnete die Ag unter Übernahme der
von Prof. Dr. H. und Dr. K. festgestellten unfallbedingten Gesundheitsstörungen. Der Widerspruch des Ast blieb
erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 19.02.2009).
Dagegen hat der Ast am 18.03.2009 Klage beim Sozialgericht (SG) Bayreuth erhoben und gleichzeitig den Erlass
einer einstweiligen Anordnung beantragt, die Ag zur Zahlung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH
rückwirkend ab dem 29.09.2008 zu verpflichten. Das Gutachten des Dr. K. sei das Papier nicht wert, auf das es
geschrieben worden sei. Das Gutachten des Prof. Dr. H. werde ebenfalls stark angezweifelt. Es sei der Verdacht auf
Knorpelschaden bei posttraumatischer Arthrose nach Unterschenkelfraktur festgestellt worden (Hinweis auf
Überweisungsschein der Chirurgin A. B. vom 02.03.2009). Dr. H. sei in der Mitteilung vom 02.01.2007 von einer MdE
in Höhe von 20 vH ausgegangen. Das Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) habe mit Bescheid vom
05.11.2008 einen Grad der Behinderung (GdB) von 20 festgestellt. In einer nervenärztliche Stellungnahme des
ärztlichen Dienstes des ZBFS vom 23.03.2009 werde für das Schmerzsyndrom und die seelische Störung zusammen
ein Einzel-GdB von 20 und unter Berücksichtigung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 11.03.2009 auf
dem chirurgischen Fachgebiet (Einzel-GdB von 20) ein Gesamt-GdB von 30 vorgeschlagen.
Mit Beschluss vom 14.04.2009 hat das SG den Erlass einer einstweiligen Anordnung mangels glaubhaft gemachten
Anordnungsanspruchs abgelehnt. Allgemein gehaltene Einwände gegen die von der Ag eingeholten Gutachten
reichten nicht aus. Bei summarischer Prüfung erwiesen sich die von Prof. Dr. H. und Dr. K. erstellten Gutachten als
schlüssig und folgerichtig. Der vom ärztlichen Dienst des ZBFS festgestellte Einzel-GdB von 20 auf dem
nervenärztlichen Gebiet berücksichtige nicht nur das chronische Schmerzsyndrom, sondern auch eine beim Ast
unfallunabhängig bestehende seelische Störung. Der Einzel-GdB von 20 könne daher nicht in Beziehung gesetzt
werden zu dem als Unfallfolge anerkannten Schmerzsyndrom. Hinsichtlich der versorgungsärztlichen Bewertung auf
dem chirurgischen Gebiet mit einem Einzel-GdB von 20 sei darauf hinzuweisen, dass die versorgungsmedizinischen
Grundsätze für die Feststellung des GdB nicht mit den Erfahrungswerten gleichzusetzen seien, die Grundlage für die
Bewertung der MdE aufgrund der Folgen eines Arbeitsunfalls seien. Die versorgungsmedizinischen Grundsätze seien
in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht anwendbar. Die anzustellende summarische Prüfung gebiete es, dem von
der Chirurgin A. B. geäußerten Verdacht auf Knorpelschaden bei posttraumatischer Arthrose im Antragsverfahren
nicht nachzugehen.
Hiergegen hat der Ast Beschwerde eingelegt. Prof. Dr. H. und Dr. K. berücksichtigten nicht, dass er wegen der
Gefäßerkrankung Gehstrecken über 50m nicht schmerzfrei zurücklegen könne. Es sei immer ein Ruheschmerz
vorhanden. Er habe sehr schwere soziale Anpassungs- und Persönlichkeitsstörungen. Die anhaltende
Muskelschwäche gehe bis zur Steh- und Gehunfähigkeit. Es werde auf ein Gutachten des Chirurgen Dr. B. verwiesen,
das dieser am 07.04.2009 für das SG in dem Verfahren S 8 SB 566/08 erstellt habe. Dr. B. habe einen Gesamt-GdB
von 20 festgestellt. Es werde um eine schnelle Entscheidung gebeten, da am 29.09.2009 der Anspruch auf
Arbeitslosengeld auslaufe. Er könne weiterhin keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Der materielle Verlust sei auf weit
über 1.500 EUR monatlich zu beziffern. Er habe eine Familie mit drei Kindern zu versorgen. Er werde keine
Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch beziehen.
Der Ast beantragt, den Beschluss des SG vom 14.04.2009 aufzuheben und die Ag zu verpflichten, ihm wegen der
Folgen des Arbeitsunfalls vom 11.11.2006 Verletztenrente ab dem 29.09.2008 nach einer MdE von 20 vH zu
gewähren.
Die Ag beantragt, die Beschwerde gegen den Beschluss des SG vom 14.04.2009 zurückzuweisen.
Es bestehe keine Veranlassung, von der Entscheidung des SG abzuweichen.
Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird auf die beigezogene Akte der Ag und die Akte des SG sowie die Akte des
vorliegenden Antragsverfahrens Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet und daher zurückzuweisen. Zutreffend hat das SG die beantragte
einstweilige Anordnung abgelehnt.
Gegenstand der einstweiligen Anordnung ist vorliegend der Erlass einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs 2 Satz
2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da es dem Ast um die Einräumung eines vorläufigen Rechtszustandes geht. Im
Einzelnen begehrt er die vorläufige Zahlung von Geldleistungen in Hinblick auf eine voraussichtlich zu erbringenden
Verletztenrente. Nach § 86b Abs 2 Satz 2 SGG kann das Gericht zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Eine Regelungsanordnung setzt einen Anordnungsanspruch, also einen
materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes
verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der
Anordnung begründet, voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2
Satz 4 SGG iVm § 920 Abs 2 Zivilprozessordnung).
Grundsätzlich ist für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in
der Hauptsache abzustellen. Allerdings ist der Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs 4 Grundgesetz insofern
Rechnung zu tragen, als in den Fällen, in denen es um existentiell bedeutsame Leistungen für den Antragsteller geht,
den Gerichten eine lediglich summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage verwehrt ist. Die Gerichte haben unter
diesen Voraussetzungen die Sach- und Rechtslage abschließend zu prüfen. Ist dem Gericht in einem solchen Fall
eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer
Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher
zuzumuten ist (BVerfG Beschluss vom 02.05.2005 - 1 BvR 569/05 = NVwZ 2005, 927, BVerfG Beschluss vom
22.11.2002 - 1 BvR 1586/02 = NJW 2003, 1236, 1237).
Ob der Ast wegen der Folgen des Unfalls vom 11.11.2006 Verletztenrente nach § 57 Abs 1 Satz 1 Siebtes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB VII) beanspruchen kann, ist nach dem derzeitigen Stand des Verfahrens ungeklärt. Nach
dieser Vorschrift haben Versicherte nur dann Anspruch auf Verletztenrente, wenn deren Erwerbsfähigkeit infolge des
Versicherungsfalls (hier: Arbeitsunfalls) über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH
gemindert ist. Nach den von der Ag eingeholten Gutachten ergibt sich eine MdE von 10 vH, so dass eine
rentenberechtigende MdE nicht erreicht wird. Die gutachterlichen Äußerungen zur Höhe des GdB sind - auch soweit
sie sich auf unfallbedingte Gesundheitsstörungen beziehen - für die Einschätzung der Unfallfolgen nicht
heranzuziehen. Denn im Gegensatz zur MdE bewertet der GdB das Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen in allen
Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Eine abschließende Klärung der
Folgen des Unfalls vom 11.11.2006, insbesondere hinsichtlich der vom Ast geltend gemachten Schmerzbelastung
und Einschränkung der Wegefähigkeit, ist in Anbetracht der gebotenen Eilbedürftigkeit des Antragsverfahrens nicht
möglich.
Bei der demnach anzustellenden Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, dass der Ast Gründe, die eine
Eilbedürftigkeit - also die Vorwegnahme der Entscheidung der Hauptsache - rechtfertigen könnten, nicht glaubhaft
gemacht hat. Es ist nicht erkennbar, aus welchen Gründen ihm ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache
nicht zumutbar sein soll. Eine bevorstehende existenzgefährdende finanzielle Notlage wurde nicht glaubhaft gemacht.
Der pauschale Hinweis auf den zukünftigen Wegfall des Arbeitslosengeldanspruches reicht hierfür nicht aus. Allein die
mit der Durchführung des Hauptsacheverfahrens notwendig verbundenen zeitlichen Nachteile genügen nicht, die
Eilbedürftigkeit einer einstweiligen Anordnung zu rechtfertigen. Dies zugrunde gelegt hat das Interesse des Ast an
einer vorläufigen Zahlung der Verletztenrente gegenüber dem Interesse der Ag an der Vermeidung ungerechtfertigter
Leistungen zurückzutreten.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Die Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).