Urteil des LSG Bayern vom 17.12.2009

LSG Bayern: aufschiebende wirkung, vollstreckung, bayern, rente, versicherungsträger, aussetzung, erlass, vollstreckbarkeit, rückerstattung, hauptsache

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 17.12.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Würzburg S 8 R 742/08
Bayerisches Landessozialgericht L 19 R 936/09 ER
I. Der Antrag, die Vollstreckung aus dem Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 12.08.2009 auszusetzen, wird
abgelehnt. II. Die Antragstellerin hat der Antragsgegnerin die außergerichtlichen Kosten des Antragsverfahrens zu
erstatten.
Gründe:
I.
Das Sozialgericht Würzburg (SG) hat die Antragstellerin (Ast) mit Urteil vom 12.08.2009 verpflichtet, bei der
Antragsgegnerin (Ag) den Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung mit dem 01.01.2009 anzuerkennen und ab dem
01.02.2009 die entsprechenden gesetzlichen Leistungen zu gewähren. Das SG hatte sich auf die Ausführungen des
im Klageverfahren gehörten Sachverständigen Dr. R. gestützt, der ein tägliches Leistungsvermögen der Ag von nur
noch unter drei Stunden angenommen hat (Gutachten vom 15.06.2009). Gegenüber den Begutachtungen im
Verwaltungsverfahren sei ab Januar 2009 eine deutliche Verschlechterung eingetreten.
Die ASt hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt und beantragt, das Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen (L
19 R 844/09). Ferner hat sie am 03.11.2009 beantragt, die Vollstreckung des Urteils auszusetzen. Die erstinstanzliche
Entscheidung sei unrichtig, da den Schlussfolgerungen des Dr. R. nicht gefolgt werden könne. Auf die im
Klageverfahren eingebrachte Stellungnahme ihres sozialmedizinischen Dienstes vom 29.06.2009 zu den
Ausführungen des Dr. R. werde Bezug genommen. Eine evtl. spätere Rückforderung der überzahlten Urteilsrente
erscheine aufgrund der wirtschaftlichen Verhältnisse der Ag nicht erfolgversprechend. Denn die Ag sei derzeit
arbeitslos gemeldet. Sie beziehe keine Leistungen nach dem Zweiten oder Dritten Buch Sozialgesetzbuch und somit
keine existenzsichernden Leistungen. Ihr Ehemann, ein ehemaliger Vollerwerbslandwirt, sei bereits berentet. Bei
einem späteren Rentenbezug wäre eine Verrechnung der Urteilsrente nicht möglich, die zu Unrecht gezahlte Rente
könnte nicht zurückgezahlt werden. Damit wäre der ASt als Verwalterin des Vermögens der Versichertengemeinschaft
ein erheblicher Schaden zugefügt, der nur durch eine Aussetzung der Vollstreckung aus dem Endurteil vermieden
werden könne.
Die Ag ist dem Antrag entgegengetreten. Weder habe die Berufung offensichtlich Aussicht auf Erfolg noch sei der
Erfolg überwiegend wahrscheinlich. Dies ergebe sich jedenfalls nicht aus dem Umstand, dass der sozialmedizinische
Dienst der ASt der Einschätzung des Dr. R. nicht zu folgen vermochte.
II.
Der Antrag auf einstweilige Anordnung der Aussetzung der Vollstreckung ist zulässig, jedoch nicht begründet.
Nach § 154 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bewirkt die Berufung eines Versicherungsträgers Aufschub, soweit es
sich um Beträge handelt die für die Zeit vor Erlass des angefochtenen Urteils nachgezahlt werden sollen. Keine
aufschiebende Wirkung tritt dagegen kraft Gesetzes für die Zeit nach Erlass des Urteils ein, wenn ein
Versicherungsträger verurteilt wurde, dem Kläger eine Rente oder - wie hier - eine höhere Rente zu zahlen. Der
Versicherungsträger ist daher verpflichtet, die sogenannte "Urteilsrente" anzuweisen, die der Kläger aber wieder zu
erstatten hat, wenn das Urteil des Erstgerichts auf die Berufung hin oder in einem eventuellen Revisionsverfahren
aufgehoben wird.
Auf Antrag oder von Amts wegen kann jedoch der Vorsitzende des für die Berufung zuständigen Senats des
Landessozialgerichts gemäß § 199 Abs 2 Satz 1 SGG durch einstweilige Anordnung die Vollstreckung aus dem Urteil
aussetzen, soweit - wie hier - die Berufung gemäß § 154 Abs 2 SGG keine aufschiebende Wirkung hat.
Die Entscheidung erfordert eine Folgenabwägung nach entsprechender Maßgabe der Vorschriften der
Zivilprozessordnung. Für das Berufungsverfahren ist grundsätzlich darauf abzustellen, ob die Vollstreckung einen
nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde (Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 09.10.2008 - L 3 U 593/08
ER, Beschlüsse des LSG Bayern vom 27.08.2008 - L 2 U 236/08 ER und 27.05.2009 - L 18 R 178/09 ER - mwN).
Dem Interesse des Gläubigers entspricht es, dass es grundsätzlich bei der Vollstreckbarkeit des erstinstanzlichen
Urteils verbleibt. Allerdings ist dem Versicherungsträger ausnahmsweise die Möglichkeit eröffnet, darzutun und
glaubhaft zu machen, dass ihm in der konkreten Vollstreckungssituation nicht zu ersetzende Nachteile entstehen.
Ausnahmsweise sind bei der Folgenabwägung die Erfolgsaussichten der Berufung zu berücksichtigen, wenn diese
offensichtlich fehlen oder offensichtlich bestehen (Beschluss des LSG Bayern vom 02.03.2009 - L 17 U 453/08 ER -
mwN).
Ein nicht zu ersetzender Nachteil liegt nur vor, wenn der durch die Vollstreckung eingetretene Schaden nachträglich
nicht mehr rückgängig gemacht und nicht ausgeglichen werden kann. Soweit es um die Schwierigkeiten bei der
Rückgängigmachung einer gegebenenfalls zu Unrecht gewährten Urteilsrente geht, sind konkrete Tatsachen geltend
und glaubhaft zu machen, die im Falle der Ag auf solche Schwierigkeiten schließen lassen. Nicht ausreichend ist ein
allgemein gehaltener Hinweis auf eine mögliche Überzahlung, deren Rückerstattung nicht realisierbar wäre.
Ein Nachteil im obengenannten Sinn ist von der ASt nicht glaubhaft gemacht worden. Die ASt hat lediglich allgemein
auf eine eventuell entfallende Rückforderungsmöglichkeit hingewiesen. Sie hat lediglich dargetan, dass die Ag derzeit
keine Leistungen nach dem Zweiten oder Dritten Buch Sozialgesetzbuch bezieht. Dies allein genügt jedoch nicht, um
die Möglichkeit einer Erstattung überzahlter Beträge prüfen zu können. Hierzu sind die gesamten Einkommens- und
Vermögensverhältnisse der Ag und auch die ihres Ehemanns durch die ASt glaubhaft darzutun. Daran fehlt es
vorliegend.
Anhaltspunkte dafür, dass das Rechtsmittel in der Hauptsache offensichtlich Aussicht auf Erfolg hat, bestehen nicht.
Eine von der erstinstanzlichen Entscheidung abweichende Bewertung der Leistungsfähigkeit führt allein noch nicht
dazu, dass der Berufung offensichtlich oder auch nur überwiegend wahrscheinlich Erfolgsaussichten zukommen (vgl.
auch Beschluss des LSG Bayern vom 20.04.2009 - L 13 R 57/09 ER).
Diese Anordnung ist unanfechtbar; sie kann jederzeit aufgehoben werden (§ 199 Abs 2 Satz 3 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.