Urteil des LSG Bayern vom 18.07.2007

LSG Bayern: aufschiebende wirkung, unterkunftskosten, wohnfläche, rücknahme, wohnungsmarkt, rechtshängigkeit, umzug, abschlag, informationsstand, miete

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 18.07.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht München S 51 AS 1986/06 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 7 B 341/07 AS ER
I. Unter Abänderung des Beschlusses des Sozialgerichts München vom 14. März 2007 wird die aufschiebende
Wirkung des Widerspruchs der Beschwerdeführerin vom 18.02.2007 insoweit angeordnet, als sich die Rücknahme der
durch Bescheid vom 19.12.2006 ausgesprochene Leistungsbewilligung für die Monate März bis Mai 2005 auf einen
monatlichen Betrag von 44,15 EUR bezieht. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. II. Die
Beschwerdegegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beschwerdeführerin in beiden Rechtszügen
zu einem Sechstel. Auch insoweit wird der Beschluss des Sozialgerichts München vom 14. März 2007 abgeändert.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten wegen der Höhe der Kosten der Unter-kunft im Rahmen von Leistungen zur Sicherung des
Lebensunter-haltes nach dem SGB II.
Die 47-jährige Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Bf.) bezieht seit 13. Juni 2006 Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts von der Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin (Bg.). Sie lebt allein in einer Eineinhalb-Zimmer-
Wohnung mit einer Wohnfläche von 48 qm. Die Kaltmiete beträgt monatlich 690 Euro, an "kalten" Nebenkosten fallen
55 Euro im Monat an. Die Bg. hatte die Bf. im Lauf des Jahres 2006 mehrfach auf die nach ihrer Ansicht überhöhten
Kosten der Unterkunft hingewiesen, wobei ihr verdeutlicht wurde, sie müsste Bemühungen, eine angemessene
Wohnung zu finden, nachweisen.
Die Leistungsgewährung für das Jahr 2007 stellt sich in der Verwaltungschronologie folgendermaßen dar: Mit
Bescheid vom 29.08.2006 bewilligte die Bg. Leistungen zur Sicherung des Le-bensunterhaltes für die Monate Januar
und Februar 2007, wobei sie die tatsächlichen Unterkunftskosten der Leistungsberech-nung zugrunde legte. Mit
Bescheid vom 10.10.2006 erfolgte eine Erhöhung der Leistungen für die Monate Januar und Februar 2007, ohne dass
die Kosten der Unterkunft betroffen waren. Sodann erließ die Bg. einen auf den 29.11.2006 datierten Bescheid,
wonach ab dem 01.01.2007 die Grundmiete auf die angemessene Mietobergrenze der Stadt M. gesenkt werde. Am
gleichen Tag erließ sie einen Leistungsbescheid für den Zeitraum Januar bis einschließlich Mai 2007 unter
Heranziehung der nach ihrer Ansicht angemessenen Unterkunftskosten. Im Folgenden hob die Bg. mit Bescheid vom
19.12.2006 den Bescheid vom 29.11.2006 auf - gemeint war offenbar der Absenkungsbescheid. Wiederum mit
gleichem Datum 19.12.2006 bewilligte sie Leistungen für den Zeitraum Januar bis einschließlich Mai 2007, nunmehr
unter Zugrundelegung der tatsächlichen Unterkunftskosten. Dann aber erließ die Bg. einen neuerlichen
Absenkungsbescheid vom 13.02. 2007 für die Zeit ab 01.03.2007. Einen korrespondierenden Bewilligungsbescheid,
der die Absenkung umsetzte, erließ sie erneut am gleichen Tag. Gegen die Bescheide vom 13.02.2007 legte die Bf.
am 18.02.2007 Widerspruch ein.
Die Bf. hat zwei Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz ge-stellt. Für den ersten (Schriftsatz vom 12.12.2006 - S 51
AS 1986/06 ER) waren offenbar die Bescheide vom 29.11.2006 An-lass; damit hat die Bf. die zunächst unbefristete
Weiterbe-rücksichtigung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft bean-tragt. Den zweiten Antrag (S 51 AS 345/07 ER)
hat die Bf. mit Schriftsatz vom 17.02.2007 gestellt. Dieser ist als Reaktion auf die Bescheide vom 13.02.2007 zu
begreifen. Auch er ver-folgt das Ziel, Leistungen mögen auch künftig auf der Basis der tatsächlichen
Unterkunftskosten gewährt werden.
Mit Beschlüssen jeweils vom 14.03.2007 hat das Sozialgericht beide Anträge abgelehnt. Der zweite Antrag, so das
Sozialge-richt, sei wegen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässig. Die Ablehnung des ersten Antrags ist dagegen
mit der Begründung erfolgt, an der Rechtmäßigkeit der Bescheid bestünden keine ernstlichen Zweifel.
Gegen den Beschluss des Sozialgerichts in der Sache S 51 AS 1986/06 ER (erster Antrag) hat die Bf. mit Schriftsatz
vom 17.04.2007 Beschwerde eingelegt. Das Sozialgericht, so die Bf., habe den angemessenen Quadratmeterpreis
nicht ordnungsgemäß berechnet. Es habe ihre "erstklassigen" Schriftsätze nicht hinreichend zur Kenntnis genommen
und berücksichtigt.
Die Bf. beantragt, ihr vorläufig - bis zur "rechtsfehlerfreien Ermittlung des angemessenen Quadratmeterpreises" - ab
01.03.2007 die tatsächliche Kaltmiete in Höhe von 690 Euro monatlich weiterzugewähren.
Die Bg. beantragt ohne weitere Begründung, die Beschwerde zurückzuweisen.
Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Akten der Bg. sowie die Akten des Sozialgerichts
und des Baye-rischen Landessozialgerichts verwiesen. Diese waren alle Ge-genstand der Entscheidungsfindung.
II.
Die zulässige Beschwerde hat nur zu einem geringen Teil Er-folg. Im Wesentlichen hat das Sozialgericht den Antrag
der Bf. zu Recht abgelehnt.
Das Sozialgericht ist zutreffend von einem Antrag auf Anord-nung der aufschiebenden Wirkung ausgegangen. Denn
die Bg. hat-te mit Bescheid vom 19.12.2006 Leistungen in der von der Bf. gewünschten Höhe bis einschließlich Mai
2007 zuerkannt. Hin-sichtlich der Monate März bis Mai 2007 ist diese Leistungsbe-willigung dann zu Ungunsten der
Bf. abgeändert worden (Bewil-ligungsbescheid vom 13.02.2007). Vor diesem Hintergrund wäre in der Hauptsache die
reine Anfechtungsklage statthaft; begehrt wird nur die Aufhebung des die Rücknahme aussprechenden Bescheides
vom 13.02.2007. Nicht Streitgegenstand sind Leis-tungszeiträume nach Mai 2007; denn der Bescheid vom
13.02.2007, der die Rücknahme der vorherigen Leistungsbewilligung ausgesprochen hatte und auf den sich das
Eilrechtsschutzbegehren der Bf. ganz offensichtlich bezieht, traf keine Regelungen darüber hinaus.
Dadurch, dass das Sozialgericht in das Verfahren S 51 AS 1986/06 ER die Anordnung der aufschiebenden Wirkung
des Wider-spruchs vom 18.02.2007 integriert hat, hat es das Rechts-schutzbegehren der Bf. voll ausgeschöpft;
materiell geht es nur noch darum. Deshalb kommt es nicht darauf an, ob das Sozialgericht die Frage der doppelten
Rechtshängigkeit im Hinblick auf das Verfahren S 51 AS 345/07 ER korrekt beurteilt hat.
Auch in der Sache ist die Entscheidung des Sozialgerichts größten Teils richtig. Zutreffend hat es die
Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bescheids vom 19.12.2006 herausgearbeitet. Insofern wird auf seine
Begründung Bezug genommen und von einer eigenen Begründung abgesehen. Jedoch scheint nach der im Verfahren
des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen Prüfungsintensität die Leistungsbewilligung vom 19.12.2006 zu weit ge-
hend zurückgenommen worden zu sein. Es spricht Einiges dafür, dass die Bg. und das Sozialgericht die Grenze der
Angemessen-heit von Kosten der Unterkunft zu niedrig berechnet haben; in die konkrete Leistungsberechnung muss
deswegen wohl ein höhe-rer Betrag als "angemessene Kosten der Unterkunft" eingehen.
Die diesbezügliche Prüfung gliedert sich gedanklich in drei Schritte: Zunächst ist abstrakt zu bestimmen, welche
Beträge je nach Haushaltsgröße in der Bezugsregion als Unterkunftskosten angemessen sind. Dann muss die
konkrete Wohnung in der S.straße, M. , damit verglichen werden. Wird dabei die Unangemessenheit der innegehabten
Wohnung festgestellt, bleibt im Rahmen einer konkreten Betrachtung zu klären, ob und inwieweit der Bf. ein Umzug
unzumutbar gewesen sein könnte; im Rahmen dessen müssen insbesondere die vorhandenen angemessenen
Wohnungsalternativen herausgefiltert werden.
Bei der Ermittlung der Angemessenheitsgrenze hat die Bg. zu-treffend auf den räumlichen Bereich der
Landeshauptstadt Mün-chen abgestellt (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 07.11. 2006 - B 7b AS 10/06 R). Sie war
nicht gehalten, regional noch weiter zu differenzieren; beispielsweise musste sie keine Angemessenheitsgrenze nur
für S. errechnen.
Was die Wohnungsgröße anbelangt, liegt die Grenze der Angemes-senheit für einen Ein-Personen-Haushalt bei 50 qm
Wohnfläche (vgl. 81.1 der Wohnraumförderungsbestimmungen 2003, AllMBl. S.971). Nach Ansicht des Senats muss
diese maximale Wohnungs-größe zur Berechnung der Angemessenheitsgrenze herangezogen werden. Die Bg. hätte
nicht eine Wohnfläche von nur 45 qm zugrunde legen dürfen. Die in M. für Ein-Personen-Haushalte geltende
Angemessenheitsgrenze erhält man, indem man diese Fläche mit dem Wohnstandard, der sich im Quadratmeterpreis
äußert, in Beziehung setzt. Bezüglich des Wohnstandards ist zu beachten, dass dem Hilfebedürftigen lediglich ein
einfacher und im unteren Segment liegender Ausstattungsgrad der Wohnung zusteht (BSG, a.a.O.). Der Mietspiegel
2007 für M. steht zwar online noch nicht zur Verfügung. Dennoch lässt sich mit hinreichender Sicherheit feststellen,
dass der von der Bg. angenommene Quadratmeterpreis von 8,83 Euro nicht zu niedrig angesetzt ist. Die Bf. selbst
hat nämlich im erstinstanzlichen Verfahren als Anlage A 20 einen Internetbeitrag der SZ übersandt, wonach laut
aktuellem Mietspiegel durchschnittlich 9,30 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter zu zahlen seien. Da die
Angemessenheitsgrenze aber nicht anhand des durchschnittlichen Wohnstandards zu errechnen ist, muss ein
erheblicher Abschlag gemacht werden. Auch wenn man ins Kalkül zieht, dass kleinere Wohnungen regelmäßig relativ
teurer sind als größere, erscheinen 8,83 Euro pro Quadratmeter realistisch. Multipliziert man diesen Wert mit der
maximal akzeptablen Wohnfläche von 50 qm, ergeben sich um 44,15 Euro höhere angemessene Kosten der
Unterkunft, als es die Bg. und das Sozialgericht ermittelt haben. Da die tatsächlichen Kosten der Unterkunft, welche
der Bf. entstehen, immer noch weit darüber liegen, müssen die so errechneten angemessenen Kosten in die
Leistungsberechnung Eingang finden (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II; gegen das so genannte Alles-oder-Nichts-
Prinzip Bundessozialgericht, Urteil vom 07.11.2006 - B 7b AS 10/06 R).
Wenn die Bf. eine umfassende Beweiserhebung zum angemessenen Quadratmeterpreis und dessen unangreifbare,
centgenaue Fixierung fordert, verkennt sie den Sinn des Verfahrens des einst-weiligen Rechtsschutzes; insoweit ist
sie auf das Klageverfah-ren zu verweisen. Dagegen vermag die Bf. nicht mit dem Argu-ment durchzudringen, für sie
sei jeder Euro, den sie mehr an Leistungen erhalte, von existenzieller Bedeutung. Denn dass der angemessene
Mietpreis letztendlich weit unter dem liegt, was die Bf. momentan zu zahlen hat, begegnet keinen Zweifeln; die
Wohnung erscheint definitiv zu teuer. So bleibt der Bf. auf jeden Fall eine erhebliche Deckungslücke, egal in welcher
Höhe die angemessene Miete endgültig festgestellt würde.
Der Ansatz nur der angemessenen Kosten der Unterkunft schei-tert auch nicht an einem unzureichenden
Informationsstand sei-tens der Bf. Zwar gilt allgemein die Maxime, dass, solange Hilfesuchende nichts von dem
Umstand wissen, dass ihre Unter-kunftskosten zu hoch sind, ihnen grundsätzlich die tatsächli-chen Kosten
weitergewährt werden müssen. In der Regel ver-schaffen Leistungsträger den Hilfesuchenden durch einen ent-
sprechenden Hinweis diese Kenntnis. Im vorliegenden Fall be-gegnet keinen Zweifeln, dass die Bf. rechtzeitig vor
dem 01.03.2007 ausreichend unterrichtet war. Der Umstand, dass die Kaltmiete zu niedrig beziffert wurde, macht die
Unterrichtung nicht hinfällig. Denn der Hinweis soll die Hilfesuchenden le-diglich in die Lage versetzen, sich effizient
am Wohnungsmarkt zu betätigen. Für diesen Zweck erscheint die Mitteilung von höchster Priorität, dass die
gegenwärtigen Kosten der Unter-kunft unangemessen sind; denn diese veranlasst die Hilfesuchen-den erst, sich
überhaupt nach einer anderen Wohnung umzusehen. Die Mitteilung der angemessenen Höhe soll dagegen nur bewir-
ken, dass die Hilfesuchenden ihre Nachfrage auf die richtigen Wohnungen lenken. Im vorliegenden Fall liegen keine
Anhalts-punkte vor, die Bf. hätte irgendwelche konkreten Anstrengungen unternommen, um eine angemessene
Wohnung zu finden; sie ist offenbar vielmehr davon überzeugt, nicht ausziehen zu müssen. Wer sich aber jeglicher
Bemühungen enthält, kann sich nicht darauf berufen, er sei durch unzureichende Information am Wohnungsmarkt
fehlgeleitet worden.
Schließlich darf nicht davon ausgegangen werden, es sei in der fraglichen Zeit keine adäquate Wohnung konkret
verfügbar gewe-sen. § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II stellt eine Vermutung auf, wo-nach innerhalb von sechs Monaten
nach Erkennen der Unangemes-senheit Unzumutbarkeit gegeben ist. Diese Frist wird vom Ge-setzgeber grundsätzlich
als ausreichend für entsprechende Kos-tensenkungsmaßnahmen angesehen. Sie stellt allerdings nur eine
Regelvorschrift dar, so dass in Einzelfällen davon abgewichen werden kann; die objektive Beweislast trifft jedoch die
Bf. Entsprechende Nachweise, die belegen könnten, dass während der Sechs-Monats-Frist ein Umzug oder eine
Untervermietung entwe-der nicht möglich oder nicht zumutbar war, hat die Bf. nicht vorgelegt. Zeitungsausschnitte
oder andere Quellen, die nur generelle Aussagen treffen, genügen nicht. Nur dann ist davon auszugehen, eine
angemessene Wohnung sei tatsächlich nicht verfügbar, wenn die Bf. konkrete und objektivierbare Nachweise über
wiederum konkrete vergebliche Bemühungen vorlegt. Auch darüber ist die Bf. hinreichend aufgeklärt worden.
Die Bf. darf sich bei ihrer Suche nach einer angemessenen Woh-nung nicht auf solche beschränken, die exakt die
Größe von 48 qm aufweisen oder größer sind. Zumutbar sind ihr vielmehr auch Umzüge in kleinere Wohnungen. Diese
Faktizität vermengt die Bf. in ihrer Beschwerdeschrift offenbar mit der abstrakten Ermittlung der
Angemessenheitsgrenze; nur dort darf nicht auf kleinere Wohnungen abgestellt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwen- dung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht weiter anfechtbar (§ 177 SGG).