Urteil des LSG Bayern vom 07.02.2002

LSG Bayern: soziale sicherheit, clausula rebus sic stantibus, rente, marokko, wartezeit, abkommen, versicherungsverhältnis, arbeitsunfall, rückwirkung, form

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 07.02.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 12 RJ 157/01
Bayerisches Landessozialgericht L 5 RJ 455/01
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 19. Juni 2001 wird
zurückgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Gewährung einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland.
Der im Juli 1940 geborene Kläger ist marokkanischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in seinem Heimatland. Nach
seinen Angaben war er vom 17.01.1962 bis 31.05.1965 als Gedingeschlepper in einem Steinkohlebergwerk in Essen
versicherungspflichtig beschäftigt. Mit Bescheid vom 15.12.1969 erstattete die Landesversicherungsanstalt Westfalen
(LVA) Beiträge für die Zeit vom 17.01.1962 bis 04.12.1966. Auf Nachfrage erklärte die LVA, die Erstattungsunterlagen
vor 1972 und somit auch die Unterlagen des Versicherten seien vernichtet worden.
Den ersten Antrag auf Rentenleistungen vom 29.02.2000 lehnte die LVA Schwaben ab, die Klage blieb erfolglos
(Bescheid vom 12.04.2000/Widerspruchsbescheid vom 14.11.2000, Sozialgericht Augsburg, S 12 RJ 814/00,
rechtskräftiger Gerichtsbescheid vom 18.06.2001). Der Antrag auf Beitragserstattung vom 18.04.2000 wurde
abgelehnt (Bescheid vom 24.05.2000); über den Widerspruch hat die Beklagte noch nicht entschieden.
Den streitgegenständlichen Rentenantrag vom 16.11.2000, ebenfalls gerichtet an die Bundesknappschaft (Eingang:
27.11.2000), gab diese - wie bisher - zuständigkeitshalber an die LVA Schwaben ab. Der letzte Beitrag sei zur
Arbeiterrentenversicherung entrichtet, die allgemeine Wartezeit der knappschaftlichen Rentenversicherung sei nicht
erfüllt. Die Beklagte lehnte den Antrag unter Hinweis auf die Erstattung im Bescheid vom 15.12.1969 ab (Bescheid
vom 10.01.2001, Widerspruchsbescheid vom 26.02.2001).
Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Augsburg (SG) hat der Kläger vorgetragen, er habe in Deutschland einen
Arbeitsunfall erlitten. Da er ein ungebildeter Mensch sei und er das Geld wegen schlechter finanzieller Lage sowie
zum Unterhalt seiner Kinder dringend gebraucht habe, habe er damals die Erstattung erbeten.
Durch Gerichtsbescheid vom 19.06.2001 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Beitragserstattung im Jahre 1969
habe das Versicherungsverhältnis nach der Vorschrift des § 1303 Abs. 7 RVO (ab 01.01.1992: § 210 Abs. 6 Satz 2
und 3 SGB VI) vollständig aufgelöst, Ansprüche auf Rente aus den erstatteten Versicherungszeiten seien
ausgeschlossen. Der Kläger habe mehrmals bestätigt, die Erstattungszahlung erhalten zu haben. Sein Vortrag, er
habe nicht gewusst, dass eine Beitragserstattung alle Ansprüche aus der Rentenversicherung entfallen lasse,
überzeuge das Gericht nicht. Jedem Laien auch mit einfacher Persönlichkeitsstruktur müsse in diesem
Zusammenhang ohne weiteres klar sein, dass ein Anspruchsverlust eintrete, wenn Versicherungsbeiträge aus der
Rentenversicherung erstattet werden. Bei einer privaten Lebensversicherung gelte nichts anderes. Auch wenn eine
Beitragserstattung nicht erfolgt wäre, bestünde kein Anspruch auf eine Rentenleistung. Die bei allen denkbaren
Rentenansprüchen geforderte Mindestwartezeit von fünf Jahren (vgl. §§ 50 Abs.1 Satz 1 Nr. 1, 55 Abs. 1 SGB VI) sei
bei einer Versicherungszeit vom 17.01.1962 bis 04.12.1966 nicht erfüllt. Beiträge zur Rentenversicherung in Marokko
seien nicht entrichtet worden.
Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt. Er trägt - wie bisher - vor, er sei in Deutschland invalide geworden. Das
Geld aus der Erstattung habe er zu seiner Pflege und zur Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse in der Familie
benötigt.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Augsburg vom 19.06.2001 sowie des
Bescheides vom 10.01.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.02.2001 zu verurteilen, ihm aufgrund
des Antrags vom 16.11.2000 Regelaltersrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 19.06.2001 zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig.
Soweit der Kläger im gerichtlichen Verfahren einen Unfall in Deutschland als Arbeitsunfall geltend macht, ist das
Begehren unzulässig. Zuständig für ein solches Feststellungsverfahren ist die Bergbau-Berufsgenossenschaft, sofern
der Kläger den Unfall bei seiner angegebenen Beschäftigung im Kohlebergwerk in der Zeit vom 17.01.1962 bis
31.05.1965 erlitten hat.
Das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers ist nicht entfallen. Zwar ist die Ansicht vertretbar, dass Bescheide, die
wiederholte Anträge erneut ablehnen, entsprechend § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens werden. Damit wäre der
Bescheid vom 10.01.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.02.2001 Gegenstand des Verfahrens
vor dem SG mit dem Aktenzeichen S 12 RJ 814/00 geworden. Das dem Berufungsverfahren zugrunde liegende SG-
Verfahren mit dem Aktenzeichen S 12 RJ 157/01 wäre dann wegen Rechtshängigkeit unzulässig geworden (vgl. § 94
SGG). Das SG hat jedoch § 96 SGG übersehen und entschieden (vgl. Gerichtsbescheid vom 18.6.2001 im Verfahren
S 12 RJ 814/00). Wegen Rechtskraft dieser Entscheidung kann der wesentliche Verfahrensmangel nicht mehr mit
einem Rechtsmittel gerügt werden, auch ein Antrag auf Urteilsergänzung ist wegen Ablaufs der Monatsfrist verfristet
(vgl. § 140 Abs. 1 SGG). Damit hat der Kläger (wieder) ein Rechtsschutzbedürfnis, da ein belastender Verwaltungsakt
aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG) überprüfbar sein muss und der dem § 96 SGG
zugrunde liegende Gedanke der Prozessökonomie nicht mehr greifen kann (vgl. auch Meyer-Ladewig, SGG, 6.
Auflage 1998, § 96, Rn 9, 11c, 12).
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Wie das SG zutreffend entschieden hat, hat der Kläger keinen Anspruch auf
die von ihm begehrten - weiteren - Leistungen der Rentenversicherung, hier auf Regelaltersrente.
Dem Kläger steht keine Rente zu, weil er die für sämtliche Rentenleistungen erforderliche Wartezeit von fünf Jahren
(allgemeine Wartezeit nach § 50 SGB VI) nicht erfüllt. Zwar hat der Kläger in der Zeit von 17.01.1962 - 04.12.1966
Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet. Ob damit die erforderliche Wartezeit von 60
Kalendermonaten erreicht worden ist, kann dahinstehen, da er aus diesen Beiträgen keine Rechte mehr herleiten
kann. Denn durch die mit Bescheid vom 15.12.1969 erfolgte Beitragserstattung, die auch der Kläger nicht bestreitet,
wurde das bisherige Versicherungsverhältnis aufgelöst. Ansprüche aus den bis zur Erstattung zurückgelegten
rentenrechtlichen Zeiten bestehen nicht mehr (vgl. § 1303 Abs. 7 RVO, der für Erstattungen vor dem 01.01.1992
anwendbar ist). Die Beitragserstattung hat zur rückwirkenden Auflösung des Versicherungsverhältnisses in seiner
Gesamtheit geführt (vgl. BSGE 49, 63, 65). Der für Beitragserstattungen nach dem 31.12.1991 anwendbare § 210
Abs. 6 S. 2 und 3 SGB VI hat bezüglich der Verfallswirkung von Beitragszeiten keine Änderung herbeigeführt.
Aus der bis 31.05.1979 geltenden Regelung des § 1315 Abs. 1 Nr. 1 RVO ergibt sich nichts anderes. Nach dieser
Vorschrift konnten Renten an versicherte Ausländer nicht ausgezahlt werden, wenn diese sich freiwillig gewöhnlich im
Ausland - wie hier in Marokko - aufhielten; die Rente ruhte in voller Höhe. Damit konnte der Kläger zur damaligen Zeit
die zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichteten Beiträge lediglich in Form der Beitragserstattung nach § 1303
RVO verwerten. Etwas anderes galt damals auch nicht kraft eines Sozialversicherungsabkommens. Denn zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Marokko wurde erst im Jahre 1981 ein Abkommen über die
Soziale Sicherheit abgeschlossen (Abkommen vom 25.3.1981, in Kraft getreten am 01.08.1986, BGBl. II S. 552,
772).
Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorschrift des § 1315 Abs. 1 Nr. 1 RVO für mit dem Grundgesetz unvereinbar
erklärt. Es verstosse gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, dass Ausländern im Ausland ihre Rente nicht
ausgezahlt und ihnen auch kein Anspruch auf eine angemessene Erstattung der Beiträge in angemessener Höhe
eingeräumt werde (vgl. BVerfGE 51, 1 (29)).
Die Neuregelung des Auslandsrentenrechts bestimmte mit Rückwirkung ab 01.06.1979, dass auch ein im Ausland
lebender ausländischer Versicherter eine Rente für die im Bundesgebiet zurückgelegten Beitragszeiten beanspruchen
konnte, beschränkt auf 70 % der inländischen Rente. Eine Übergangsregelung für solche Personen wie den Kläger,
deren Beitragserstattung - und damit der Verlust jedweder Ansprüche aus den zurückgelegten Beitragszeiten - zuvor
abgeschlossen war, traf das Gesetz nicht (vgl. Gesetz über die Anpassung der Renten der gesetzlichen
Rentenversicherung - RAG - vom 01.12.1981, BGBl I S. 1205 sowie Art. 2 § 41 b ArVNG).
Schließlich kann es dahinstehen, ob der Kläger - gegebenfalls hilfsweise - eine Aufhebung des Erstattungsbescheides
begehrt. Denn Rechtsgrundlagen für eine solche Aufhebung sind nicht ersichtlich.
So kommt eine nachträgliche Anfechtung wegen Willensmängeln gemäß §§ 116 ff. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
nicht in Betracht. Denn der Kläger kann seinen Erstattungsantrag nicht gemäß § 119 BGB wegen Irrtums anfechten,
da er sich bei der Stellung seines Antrags weder über den Inhalt seiner Erklärung geirrt hat noch die von ihm
abgegebene Erklärung nicht abgeben wollte (vgl. BSG SozR Nr. 16 zu § 1232 RVO). Ebenso sind die Rechtsinstitute
der "clausula rebus sic stantibus" und des "Wegfalls der Geschäftsgrundlage" nicht anwendbar, weil eine bloße
nachträgliche Veränderung der Vor- und Nachteile einer Beitragserstattung für deren Anwendung nicht ausreicht (vgl.
BSG, a.a.O.).
Die Regelung des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG hilft dem Kläger nicht weiter. Daraus ergibt sich kein Anspruch auf
Aufhebung einer bindenden Verwaltungsentscheidung allein deswegen, weil das Bundesverfassungsgericht die ihr
zugrunde liegende gesetzliche Regelung für nichtig bzw. unvereinbar mit dem GG erklärt hat.
Ebensowenig könnte die Beklagte aufgrund des Antrags vom November 2000 verpflichtet werden, den
Erstattungsbescheid nach § 45 SGB X zurückzunehmen. Zwar ist § 45 SGB X grundsätzlich auf Verwaltungsakte
anwendbar, die vor Inkrafttreten des SGB X am 01.01.1981 ergangen sind (vgl. Art. 2 § 40 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Die
Aufhebung scheitert jedoch an Art. 2 § 40 Abs. 2 Satz 2 SGB X. Danach können solche Verwaltungsakte nach § 45
SGB X nicht aufgehoben werden, die am 31.12.1980 bereits bestandskräftig waren und bei denen auch nach § 1744
RVO in der vor dem 01.01.1981 geltenden Fassung eine neue Prüfung nicht vorgenommen werden konnte. Der
Erstattungsbescheid vom 15.12.1969 ist nach § 77 SGG bestandskräftig geworden, der Kläger hat nach eigenen
Angaben die Leistungen empfangen. Die Voraussetzungen für eine neue Überprüfung nach § 1744 Abs. 1 Ziffern 1 bis
6 RVO (aufgehoben mit Wirkung vom 01.01.1981) ist offensichtlich nicht gegeben.
Auch aus dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Marokko über Soziale
Sicherheit kann der Kläger keine Ansprüche auf eine Rente bzw. eine höhere Beitragserstattung herleiten. Dieses
Abkommen regelt zwar nunmehr - auch für die Rentenansprüche - die Gleichstellung der Personen mit Wohnsitz in
Marokko mit denen, die in Deutschland leben (vgl. Art. 5 Abk.). Aber auch dann, wenn der Kläger in Deutschland
leben würde, stünde ihm wegen der durchgeführten Beitragserstattung keine Rente zu.
Letztendlich sind auch die Voraussetzungen für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch nicht gegeben.
Voraussetzung wäre, dass der erstattungspflichtige Versicherungsträger (hier die LVA Westfalen) den Kläger
unzutreffend oder gar nicht beraten hätte und dieser Umstand ursächlich für den Entschluss des Klägers gewesen
wäre, sich die Beiträge erstatten zu lassen und seine Rentenanwartschaft aufzugeben. Dies hat der Kläger nicht
nachgewiesen. Sein Vortrag, er habe die Erstattung aus Unwissenheit, Geldmangel und wirtschaftlicher Not verlangt,
reicht dafür nicht aus. Jedem Laien muss in diesem Zusammenhang ohne weiteres klar sein , dass ein
Anspruchsverlust dann eintritt, wenn Versicherungsbeiträge aus der gesetzlichen Rentenversicherung erstattet
werden. Tritt ein neuer Versicherungsfall auf, ohne dass ein neues Vertragsverhältnis eingegangen worden ist und
Beiträge entrichtet worden sind, ist der Betroffene nicht versichert, Ansprüche bestehen nicht.
Nach alledem steht dem Kläger kein Anspruch auf Rentenleistungen zu. Die Berufung war daher als unbegründet
zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, sind nicht ersichtlich.