Urteil des LSG Bayern vom 08.09.2005

LSG Bayern: eintritt des versicherungsfalls, krankenversicherung, unechte rückwirkung, prüfung der sache, aufschiebende wirkung, wiederkehrende leistung, kapitalleistung, beitragspflicht, aussetzung

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 08.09.2005 (rechtskräftig)
Sozialgericht Bayreuth S 9 KR 330/04
Bayerisches Landessozialgericht L 4 KR 27/05
Bundessozialgericht B 12 KR 25/05 R
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 24. Januar 2005 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Beitragshöhe in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Die 1944 geborene Klägerin war vom 01.01. bis 30.09.2004 bei der Beklagten wegen Leistungsbezugs nach dem
Sozialgesetzbuch III und ist seit 01.10.2004 als Arbeitnehmerin pflichtversichert. Im Mai 1977 hatte der damalige
Arbeitgeber der Klägerin für sie bei der N. Lebensversicherung AG eine Lebensversicherung abgeschlossen, die zum
01.05. 2004 die Versicherung als Kapitalleistung einer betrieblichen Altersvorsorge (86.331,31 Euro) zahlte. Hiervon
unterrichtete die Versicherungsgesellschaft am 21.07.2004 die Beklagte.
Mit Bescheid vom 26.07.2004 stellte die Beklagte fest, dass die Kapitalleistung der Beitragspflicht zur Kranken- und
Pflegeversicherung unterliege. Dabei gelte ein 1/120 der Kapitalleistung als monatlicher Zahlbetrag der
Versorgungsbezüge, wobei die Kapitalleistung auf zehn Jahre verteilt werde. Der Betrag zur Krankenversicherung
belaufe sich monatlich ab 01.05.2004 auf 107,19 Euro und zur Pflegeversicherung auf 12,33 Euro (insgesamt 119,42
Euro). Für die Zeit vom 01.05.2004 bis 30.06.2004 ergebe sich ein Gesamtbetrag von 238,84 Euro, der binnen zweier
Wochen zu zahlen sei. Die Klägerin legte hiergegen am 27.07. 2004 Widerspruch ein; die Leistungen der betrieblichen
Altersversorgung seien bisher steuer- und abgabenfrei gewesen, ihr stehe deshalb Bestandsschutz zu.
Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 12.10.2004 den Widerspruch zurück. Nach der ab 01.01.2004
geltenden gesetzlichen Neuregelung seien auch Kapitalleistungen aus der betrieblichen Altersversorgung
beitragspflichtig. Inwieweit Muster-streitverfahren sich auf die Frage der Beitragspflicht auswirken würden, sei derzeit
ungewiss. Bis zur abschließenden Klärung seien jedoch die Beiträge, wie im Bescheid vom 23.07.2004 mitgeteilt, zu
entrichten. Eine aufschiebende Wirkung des Widerspruchs trete nicht ein.
Die Klägerin hat hiergegen am 28.10.2004 beim Sozialgericht Bayreuth (SG) Klage erhoben, mit der sie wieder
Bestandsschutz nach der früheren gesetzlichen Regelung fordert und die ungleiche Behandlung mit der
Beitragsgestaltung in der privaten Krankenversicherung sowie Rentenversicherung rügt.
Das SG hat mit Urteil vom 24.01.2005 die Klage abgewiesen. Die der Klägerin ausgezahlten Versorgungsbezüge
(Renten der betrieblichen Altersversorgung) seien für sie als Pflichtversicherte mit einem 1/120 der Leistung monatlich
zu berücksichtigen. Für die Zeit ab 01.05.2004 unterliege der Versorgungsbezug der Klägerin für die Dauer von zehn
Jahren der Beitragspflicht zur Kranken- und Pflegeversicherung. Eine Aussetzung des Rechtsstreits und Vorlage an
das Bundesverfassungsgericht komme nicht in Betracht, das SG sei nicht von der Verfassungswidrigkeit der
gesetzlichen Neuregelung überzeugt. Ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz bestehe in der Erweiterung der
Beitragspflicht auf originäre Kapitalleistungen nicht, sie beseitige viel mehr Umgehungsmöglichkeiten bei der
Beitragspflicht für Versorgungsbezüge. Eine Gleichstellung der Klägerin mit privat Versicherten sei nicht geboten; die
private Versicherung beruhe auf anderen Prinzipien bei der Beitragsberechnung als die gesetzliche
Krankenversicherung. Insgesamt liege eine Grundrechtsverletzung nicht vor. Die Klägerin könne auch keinen
Bestandsschutz beanspruchen; der Gesetzgeber habe aufgrund der weiten Gestaltungsfreiheit im Sozialrecht die
Möglichkeit, eine Rechtsposition zum Nachteil des Versicherten für die Zukunft zu ändern. Das Vertrauen auf den
Fortbestand der gesetzlichen Vorschriften werde regelmäßig nicht geschützt, die Versicherten der gesetzlichen
Krankenversicherung mussten aufgrund der bisherigen Ungleichbehandlung von originären und anderen
Kapitalleistungen damit rechnen, dass auch originäre Kapitalleistungen beitragspflichtig würden. Der Gesetzgeber
habe bei der Änderung das Vertrauen des Einzelnen auf den Fortbestand der bestehenden Vergünstigung abgewogen
mit dem Interesse der übrigen Versichertengemeinschaft an einer Beitragsstabilität.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin vom 23.02. 2005, mit der sie zugleich die Aussetzung von
Beitragszahlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung aus der Direktversicherung beantragt. Die gesetzliche
Regelung verletze den Gleichheitssatz und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Der Senat hat mit Beschluss vom 21.07.2005 vorläufigen Rechtsschutz abgelehnt.
Die Klägerin stellt den Antrag,
das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 24.01.2005 und den Bescheid der Beklagten vom 26.07.2004 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.10.2004, soweit er den Beitrag für die Krankenversicherung betrifft,
aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden die Akten des SG und der Beklagten.
Auf deren Inhalt sowie den Inhalt der Sitzungsniederschrift wird im Übrigen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die frist- und formgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 144 Abs.1 Satz 2, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG),
aber unbegründet.
Die angefochtenen Entscheidungen sind nicht zu beanstanden. Gemäß §§ 226 Abs. 1 Nr. 3, 232a Abs. 4
Sozialgesetzbuch V (SGB V) werden bei versicherungspflichtig Beschäftigten und auch bei Beziehern von
Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Unterhaltsgeld, Kurzarbeitergeld oder Winterausfallgeld als beitragspflichtige
Einnahmen der Beitragsbemessung auch der Zahlbetrag der der Rente vergleichbaren Einnahmen
(Versorgungsbezüge) zu Grunde gelegt. Versorgungsbezüge sind gemäß § 229 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 SGB V Renten der
betrieblichen Altersversorgung einschließlich der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst und der
hüttenknappschaftlichen Zusatzversorgung. Dies gilt auch, wenn Leistungen dieser Art aus dem Ausland oder von
einer zwischenstaatlichen oder überstaatlichen Einrichtung bezogen werden. Tritt an die Stelle der
Versorgungsbezüge eine nicht regelmäßig wiederkehrende Leistung oder ist eine solche Leistung vor Eintritt des
Versicherungsfalls vereinbart oder zugesagt worden, so ist nach der ab 01.01.2004 geltenden Neufassung der
gesetzlichen Regelung (Gesetz vom 14.11.2003, BGBl I S. 2190) ein 1/120 der Leistung als monatlicher Zahlbetrag
der Versorgungsbezüge zugrundezulegen, längstens jedoch für 120 Monate.
Nach diesen gesetzlichen Vorschriften hat die Beklagte zutreffend den ausgezahlten Kapitalbetrag von 86.331,31
Euro durch 120 geteilt und das Ergebnis (719,42 Euro) gleichfalls zur Beitragsbemessung in der gesetzlichen
Krankenversicherung herangezogen.
Diese gesetzlichen Vorschriften sind für die Beklagte und das Gericht bindendes Recht (Art.20 Abs.3 Grundgesetz -
GG). Die Klägerin kann nicht mit ihrer Ansicht durchdringen, die Beitragsbelastung sei anders zu gestalten oder
andere Beteiligte im System der gesetzlichen Krankenversicherung seien höher zu belasten. Denn weder hat das
Gericht wegen des Grundsatzes der Gewaltenteilung (Art.20 Abs.2 Satz 2 GG) die Kompetenz, noch ist es dessen
Aufgabe, Gesetze zu ändern bzw. Gesetzesänderungen anzuregen. Es geht im Berufungsverfahren um die
Überprüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide und des angefochtenen Urteils. Die verfahrensrechtlich
allein in Betracht kommende Möglichkeit der Aussetzung des Verfahrens und Vorlage an das
Bundesverfassungsgericht (Art. 100 Abs. 1 GG) scheidet aus, da der Senat nicht von der Verfassungswidrigkeit der
gesetzlichen Neuregelung im Rahmen der hier durchgeführten pauschalen Prüfung der Sache- und Rechtslage
überzeugt ist.
Ein Verstoß der gesetzlichen Neuregelung gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) ist bezüglich der Rügen der
Klägerin nicht zu erkennen. Der allgemeine Gleichheitssatz ist betroffen, wenn wesentlich Gleiches ungleich
behandelt wird. Darüber hinaus sieht das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß auch in der Gleichbehandlung von
wesentlich Ungleichem (Jarass/Pieroth, GG, Art.3, Rn.5, 28 ff. m.w.N.). Eine Beeinträchtigung des Gleichheitsrechts
des Betroffenen liegt vor, wenn er durch die Ungleichbehandlung benachteiligt wird. Eine Ungleichbehandlung
vergleichbarer Sachverhalte beziehungsweise die Gleichbehandlung völlig verschiedenartiger Sachverhalte verletzt
nur dann den Gleichheitssatz, wenn dies willkürlich geschieht. Der Gesetzgeber braucht im konkreten Fall nicht die
zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt vielmehr, wenn sich irgendein sachlich
vertretbarer zureichender Grund anführen lässt. Der Gesetzgeber ist also grundsätzlich frei, die Merkmale als
Vergleichspaar zu wählen, an denen er Gleichheit oder Ungleichheit der gesetzlichen Regelung orientiert. Er hat daher,
insbesondere bei der Massenverwaltung im Sozialrecht, eine weite Gestaltungsfreiheit. Als Differenzierungsgrund
kommt grundsätzlich jede vernünftige Erwägung in Betracht, wobei eine objektive Betrachtung geboten ist. Eine
zulässige Erwägung bzw. ein zulässiger Differenzierungsgrund kann nicht nur im eigentlichen Zweck der betreffenden
Regelung liegen, sondern auch in der Praktikabilität der Regelung, in finanziellen Gesichtspunkten (z.B. bei
Leistungsgesetzen), in der Rechtssicherheit und in der Grundkonzeption bzw. im System des betreffenden
Regelungsbereichs.
Der Gesetzgeber wollte mit der beitragsrechtlichen Erfassung der Kapitalabfindungen, d.h. der einmaligen Zahlungen
zur Abgeltung an sich zustehender laufender Leistungen, gemäß § 229 Abs. 1 Nr. 5 SGB V eine Gleichbehandlung
aller Kapitalabfindungen erreichen, die Versorgungsbezüge sind. Nach der bis 31.12.2003 geltenden gesetzlichen
Regelung waren Versorgungsleistungen, die von vornherein als einmalige Kapitalleistung zu erbringen waren, nicht
beitragspflichtig. Das Bundessozialgericht (BSG) hat die Beitragspflicht auch dann verneint, wenn innerhalb einer
bestimmten Frist vor Eintritt des Versicherungsfalls vereinbarungsgemäß anstelle einer laufenden Leistung eine
Kapitalabfindung beantragt werden konnte (BSG vom 30.03. 1995 SozR 3-2500 § 229 Nr. 10). Mit der Änderung des §
229 Abs. 1 SGB V ist jede Kapitalleistung, die als Versorgungsbezug zu werten ist, weil sie anstelle von
Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen aus früherer Beschäftigung oder Tätigkeit gewährt wird, beitragspflichtig. Es
kommt also nicht mehr darauf an, ob an sich zugesagte oder vereinbarte laufende Versorgungsbezüge kapitalisiert
werden, ein Wahlrecht zwischen einer laufenden oder einer einmaligen Leistung bestand und wann gegebenenfalls die
Entscheidung für eine Kapitalleistung getroffen wurde oder zu treffen war. Denn die Regelung erfasst auch originäre
Kapitalleistungen und soll hierdurch aus Gründen der Gleichbehandlung verhindern, dass die Beitragspflicht durch
entsprechende Vereinbarungen umgangen werden kann. Dies gilt auch, entgegen der Ansicht der Klägerin, für
Versorgungsbezüge aus dem Ausland.
Der Gleichheitssatz ist, ebenfalls entgegen der Meinung der Klägerin, auch nicht dadurch verletzt, dass in der privaten
Krankenversicherung Versorgungsbezüge bei der Beitragsbemessung nicht erfasst werden. Denn die
Beitragsgestaltung in der privaten Krankenversicherung beruht auf anderen Prinzipien als in der gesetzlichen
Krankenversicherung.
Ebenso wenig ist mit dem Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung und der Anwendung auf die Versorgungsbezüge
der Klägerin das Rechtstaatsprinzip beziehungsweise der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt (Art. 20 Abs. 2,
3 GG). Eine unechte Rückwirkung ist in aller Regel zulässig. Der Gesetzgeber hat aufgrund der weiten
Gestaltungsfreiheit im Sozialrecht die Möglichkeit, eine Rechtsposition zum Nachteil der Versicherten für die Zukunft
zu ändern. Eine unechte Rückwirkung ist ausnahmsweise unzulässig, wenn das Gesetz einen Eingriff vornimmt, mit
dem der Betroffene nicht zu rechnen brauchte, wobei das Vertrauen auf den Fortbestand gesetzlicher Vorschriften
regelmäßig nicht geschützt wird, und zudem das Vertrauen des Betroffenen schutzwürdiger ist als die mit dem
Gesetz verfolgten Anliegen. Beide Voraussetzungen, die zusammen vorliegen müssen, sind hier nicht erfüllt. Denn
die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung mussten aufgrund der seit langer Zeit eingeleiteten Reformen
der gesetzlichen Krankenversicherung, die auch die Finanzierung der Leistungen der Krankenversicherung betroffen
haben, mit einer stärkeren Heranziehung zur Finanzierung der Leistungen rechnen. Außerdem ist das Anliegen des
Gesetzgebers, ein höheres Maß an Beitragsgerechtigkeit bei der Behandlung von Kapitalabfindungen zu erreichen,
mit dem Grundsatz der solidarischen Finanzierung (§ 3 SGB V) und dem Versicherungsprinzip zu vereinbaren. Ob und
in welchen Umfang Übergangsregelungen notwendig sind, ergibt sich aus einer Abwägung des gesetzlichen Zwecks
mit der Beeinträchtigung der Betroffenen. Hierbei ist gleichfalls zu berücksichtigen, dass dem Gesetzgeber ein
erheblicher Spielraum zur Verfügung steht. Es spielt dabei eine Rolle, wie gewichtig die Beeinträchtigung ist
angesichts des Motivs des Gesetzgebers, die Kapitalabfindungen als Versorgungsbezüge gleich zu behandeln. Unter
dem Gesichtspunkt der Beitragsgerechtigkeit und der beabsichtigten Verhinderung von Umgehungsmöglichkeiten ist
insoweit ein Verstoß gegen das Rechtstaatsprinzip nicht zu erkennen (Jarass/Pieroth, a.a.O., Art. 20 Rn.69, 73, 73a).
Dies gilt ebenso hinsichtlich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, auch im Hinblick auf die Eigentumsgarantie
(Art. 14 Abs. 1 GG). Denn die von der Klägerin angegriffene gesetzliche Neuregelung ist zur Erreichung der oben
genannten Ziele geeignet und erforderlich. Es ist auch nicht zu erkennen dass die Mehrbelastung an Beiträgen in der
gesetzlichen Krankenversicherung für die Klägerin unzumutbar wäre. Denn der aufgrund der Neuregelung sich
ergebende Monatsbeitrag ab 01.05.2004 in Höhe von 107,19 Euro ist für die Gewährung einer Vollversicherung gegen
Krankheit nicht unangemessen hoch.
Auch in der juristischen Kommentarliteratur werden Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des § 119 Abs.1 Satz 2
SGB V nicht geäußert (Kasseler Kommentar - Peters, § 229 SGB V, Rn.15; Maaßen/Schermer/Wiegand/Zipperer,
SGB V, § 229, Rn.7; Hauck/Noftz, SGB V, § 229, Rn.13).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Die Revision wird gem. § 160 Abs.2 Nr.1 SGG zugelassen.