Urteil des LSG Bayern vom 15.12.2008

LSG Bayern: pflegezulage, hilflosigkeit, zustand, pflegebedürftigkeit, bwk, fremder, laminektomie, amputation, spondylarthrose, zusammenwirken

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 11 V 1/08
L 15 SB 84/07
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 15. Dezember 2008 wird
zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der 1917 geborene Kläger ist Schwerbeschädigter im Sinne von § 31 Abs.3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).
Er begehrt die Bewilligung einer Pflegezulage nach § 35 BVG mit Wirkung ab 01.07.2007.
Mit Bescheid vom 24.11.1976 sind als Schädigungsfolgen im Sinne von §§ 1 ff. BVG anerkannt worden: 1. Teilverlust
des linken Unterschenkels; 2. Weichteilnarben am rechten Ober- und Unterschenkel. Der Grad der Schädigungsfolgen
(GdS) ist gemäß § 30 Abs.1 und 2 BVG mit 60 bewertet worden.
Unabhängig hiervon hat der Beklagte nach dem Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen
(SGB IX) den GdB mit 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "G", "aG", "B" und "H"
festgestellt. Berücksichtigt sind hierbei nachstehende Gesundheitsstörungen: 1. Funktionsbehinderung der
Wirbelsäule, Spinalkanalstenose operiert, Teillähmung der Arme und Beine (Einzel-GdB 80); 2. Prostata-Erkrankung in
Heilungsbewährung (Einzel-GdB 50); 3. Teilverlust des linken Unterschenkels, Weichteilnarben am rechten Ober- und
Unterschenkel (Einzel-GdB 50); 4. vertebrobasiläre Insuffizienz (Einzel-GdB 50); 5. Entfernung der Gallenblase,
Restbeschwerden nach Lymphom, Dickdarmteilentfernung und Verdauungsstörungen (Einzel-GdB 20). Die
Feststellung des Anspruchs auf das Merkzeichen "H" gilt ab dem 25.07.2007.
Einen ursächlichen Zusammenhang des Wirbelsäulenleidens mit den Schädigungsfolgen und die Bewertung dieses
Leidens als Schädigungsfolge hat der Beklagte bereits mit Bescheid vom 27.10.1987 abgelehnt und an dieser
Entscheidung auch nach Überprüfung festgehalten.
In dem Verfahren nach dem BVG hat der Versorgungsärztliche Dienst des Beklagten mit Stellungnahme vom
20.09.2007 ausgeführt, dass die anerkannten Schädigungsfolgen für den Hilfsbedarf durch Dritte nicht von
gleichwertiger Bedeutung seien. Überwiegend werde der Hilfsbedarf durch die Paraparese der Beine sowie die
Funktionseinschränkung im Bereich der Wirbelsäule und der oberen Extremitäten bedingt. Die Voraussetzungen für
die Gewährung einer Pflegezulage nach § 35 BVG seien nicht gegeben, da der erforderliche Hilfsbedarf durch Dritte
überwiegend durch nicht schädigungsbedingte Erkrankungen bedingt sei.
Der Beklagte hat den Antrag vom 18.07.2007 auf Bewilligung von Pflegezulage nach § 35 BVG mit dem
streitgegenständlichen Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales Region Schwaben vom 26.09.2007
abgelehnt. Wie schon früher im Bescheid vom 08.02.2007 festgestellt, seien für den Eintritt der Hilflosigkeit bei dem
Kläger die anerkannten Schädigungsfolgen nicht ursächlich, so dass eine Pflegezulage nach § 35 BVG nicht zustehe.
Unter Auswertung des Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) vom 05.09.2007 habe nach
versorgungsärztlicher Stellungnahme inzwischen das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit sowie der Hilflosigkeit weiter
zugenommen. Dieser erhöhte Bedarf an fremden Hilfe- und Pflegeverrichtungen sei aber auf zunehmende
Bewegungseinschränkungen der Arme infolge der schädigungsfremden Spinalkanal-stenose sowie der Beine infolge
der Paraparese zurückzuführen. Die Schädigungsfolgen seien hierfür weiterhin nicht zumindest gleichwertig
ursächlich.
Der Widerspruch ist mit Widerspruchsbescheid vom 29.01.2008 zurückgewiesen worden. Nach § 35 BVG würden
Beschädigte eine Pflegezulage erhalten, solange sie infolge der Schädigung so hilflos seien, dass sie für eine Reihe
von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines
jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürften. Nach übereinstimmender versorgungsärztlicher Beurteilung sei die
vorliegende Hilflosigkeit auf die schädigungsfremden degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule und die dadurch
bedingte spinale Enge zurückzuführen. Den anerkannten Schädigungsfolgen komme für die Hilflosigkeit keine
annähernd gleichwertige Bedingung zu.
Im Rahmen des sich anschließenden Klageverfahrens hat das Sozialgericht Augsburg die Unterlagen des Klinikums I.
beigezogen. Dort ist als Hauptdiagnose eine Re-Stenosierung des Spinalkanals nach Laminektomie L3 bis L5, eine
hochgradige spinale und neuroforaminale Einengung in den Segmenten HWK 4/5, HWK 6/7 bei multisegmentaler
Spondylosis deformans und Spondylarthrose der HWS sowie eine absolute spinale Einengung im Segment BWK
10/11 und eine höhergradige spinale Einengung im Segment BWK 12/LWK 1 beschrieben. Die nach § 106 Abs.3 Nr.5
des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bestellte Sachverständige Dr. S. ist nach Hausbesuch mit Gutachten vom
06.09.2008 zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger hilflos sei. Ursächlich hierfür sei aber vorwiegend die
fortgeschrittene Erkrankung der Wirbelsäule. Hierdurch sei es zu einer Teillähmung beider Arme und Beine mit den
geschilderten Funktionseinbußen gekommen.
Der Kläger hat mit Schreiben vom 14.09.2008 hervorgehoben, dass er dauernd fremder Hilfe für das Aufstehen bzw.
Zu-Bett-Gehen sowie für das An- und Auskleiden bedürfe. Seine Einschränkungen diesbezüglich seien zumindest
gleichwertig durch die Schädigungsfolgen verursacht. Aufgrund seiner Kriegsverletzung sei es zwei Personen nicht
möglich gewesen, ihm von einem Stuhl auf den anderen zu helfen. Aufgrund seiner Amputation erleide er stärkere
Einschränkungen als Patienten mit dem gleichen Nervenleiden, die nicht amputiert seien. Im Vergleich zu diesen
benötige er mehr Hilfe und Unterstützung.
Dr. S. hat mit ergänzender Stellungnahme vom 12.10.2008 ausgeführt, dass die Probleme beim Gehen und Stehen
und die Schwäche in den Händen und Armen auch vorhanden wären, wenn der Kläger nicht unterschenkelamputiert
wäre. Die Schmerzen und Missempfindungen in den Beinen dürften zum Teil auch auf den Zustand nach der
Unterschenkelamputation zurückzuführen sein. Das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit sei jedoch fast ausschließlich auf
die Nichtschädigungsfolgen zurückzuführen.
Nach entsprechender Ankündigung hat das Sozialgericht Augsburg die Klage gegen den Bescheid vom 26.09.2007 in
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2008 mit Gerichtsbescheid vom 15.12.2008 abgewiesen und sich
hierbei im Wesentlichen auf die Ausführungen der gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. S. gestützt.
Die Berufung vom 14.01.2009 ging am 20.01.2009 beim Sozialgericht Augsburg ein. Zur Begründung hob der Kläger
hervor, dass er lediglich die Kostenerstattung der zusätzlich benötigten Hilfestellung beantrage. Es gehe darum, dass
durch seine (schädigungsbedingte) Behinderung der zusätzliche Pflegeaufwand ca. 15,00 bis 20,00 EUR pro Tag
betrage. Bei einem Nichtamputierten könnte z.B. der Einsatz eines neuen Kniegelenkes erwogen werden, um wieder
ein selbständiges Stehen zu ermöglichen. Dies sei natürlich bei einem Stumpf nicht möglich. Deshalb bitte er zu
berücksichtigen, dass die Probleme beim Abstützen und Stehen sehr wohl auf seine Amputation zurückzuführen
seien. Durch die Schwellung am Stumpf sei er nicht mehr prothesenfähig. Dr. S. habe seines Erachtens dem Stumpf
zu wenig Beachtung geschenkt, sondern seine Pflegebedürftigkeit nach der Pflegestufe II beurteilt, so dass sein
eigentliches Anliegen nicht beachtet und auch vor Gericht nicht verhandelt worden sei.
Vom Senat wurden die Versorgungs- und Schwerbehinderten-Akten des Beklagten beigezogen, ebenso die
erstinstanzlichen Streitakten.
Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 18.03.2009 an seiner Auffassung festgehalten, dass die Berufung unbegründet
sei. Der Kläger hat sich hierzu innerhalb der gesetzten Frist bis 30.04.2009 nicht mehr geäußert.
In der mündlichen Verhandlung vom 10.11.2009 ist für den Kläger niemand erschienen.
Er beantragt sinngemäß, den Beklagten zu verurteilen, ab 01.07.2007 eine Pflegezulage nach § 35 Abs.1 BVG zu
bewilligen.
Der Bevollmächtigte des Beklagten beantragt, die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird gemäß § 202 SGG in Verbindung mit § 540 der Zivilprozessordnung (ZPO)
sowie entsprechend § 136 Abs.2 SGG auf die Unterlagen des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter
Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 und 151 SGG zulässig, jedoch
unbegründet. Das Sozialgericht Augsburg hat die Klage gegen den Bescheid vom 26.09.2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 29.01.2008 zutreffend mit Gerichtsbescheid vom 15.12.2008 abgewiesen.
Vorab wird zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 153 Abs.2 SGG auf die zutreffenden Gründe der
angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung Bezug genommen.
Ergänzend weist der Senat nochmals auf § 35 Abs.1 Satz 1 BVG hin: Solange der Beschädigte infolge der
Schädigung so hilflos ist, dass er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des
täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf, wird eine Pflegezulage von 266,00 EUR (Stufe
I) monatlich gezahlt.
Wird durch eine schädigungsunabhängige Gesundheitsstörung im Zusammenwirken mit Schädigungsfolgen ein
Zustand der Hilflosigkeit begründet oder dessen Ausmaß verändert, so sind hierfür die Schädigungsfolgen ursächlich
im Rechtssinn, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den jeweiligen Zustand der Hilflosigkeit annähernd
gleichwertig sind (VV zu § 35 BVG Abs.2 Satz 1). Hierzu hat das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom
25.04.1961 - 11 RV 660/59 bereits grundlegend ausgeführt, dass die Pflegezulage nicht dazu dient, besonders
schwere Folgen einer Schädigung auszugleichen. Sie ist nur zu gewähren, wenn der Beschädigte infolge der
Schädigung hilflos ist (Förster in Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Auflage, Rz.12 zu § 35 BVG m.w.N.).
Hiervon ausgehend sind auch für den erkennenden Senat die gutachterlichen Ausführungen der erstinstanzlich
gehörten Sachverständigen Dr. S. mit Gutachten vom 06.09.2008 sowie ergänzender Stellungnahme vom 12.10.2008
in sich schlüssig und überzeugend. Dies ergibt sich zum einen aus den beigezogenen Schwerbehinderten-Akten des
Beklagten. Mit einem Einzel-GdB von 80 steht bei dem Kläger die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit
operierter Spinalkanalstenose und Teillähmung der Arme und Beine weit im Vordergrund der Funktionsstörungen. Die
Prostata-Erkrankung in Heilungsbewährung, die vertebrobasiläre Insuffizienz sowie die Entfernung der Gallenblase,
Restbeschwerden nach Lymphom sowie Dickdarmteilentfernung und Verdauungsstörungen wirken sich ebenfalls
erheblich auf die bei dem Kläger bestehende Pflegebedürftigkeit aus. Der schädigungsbedingte Teilverlust des linken
Unterschenkels mit Weichteilnarben am rechten Ober- und Unterschenkel ist hierbei von untergeordneter Bedeutung
und nicht annähernd gleichwertig mitursächlich für die bei dem Kläger bestehende Hilflosigkeit.
Auch das Klinikum I. hat mit Arztbrief vom 13.04.2007 als Hauptdiagnosen eine Re-Stenosierung des Spinalkanals
nach Laminektomie L3 bis L5, eine hochgradige spinale und neuroforaminale Einengung in den Segmenten HWK 4/5,
HWK 6/7 bei multisegmentaler Spondylosis deformans und Spondylarthrose der HWS sowie eine absolute spinale
Einengung in Segment BWK 10/11 und eine höhergradige spinale Einengung im Segment BWK 12/LWK 1
beschrieben. An Nebendiagnosen ist u.a. der Zustand nach Unterschenkelamputation links mit prothetischer
Versorgung sowie der Zustand nach Prostata-Operation 1996 erwähnt.
Die D.-Klinik D. hat mit Arztbrief vom 31.08.2008 eine nunmehr inkomplette Querschnittslähmung bei
Spinalkanalstenose diagnostiziert und hervorgehoben, dass bei Aufnahme in die Klinik nun auch eine Parese mit
Schwäche vornehmlich im rechten Bein bestanden hat. Nach Abwägung des Risikos habe man sich zu einem
konservativen Vorgehen entschieden.
Für den Senat ist vor allem von Bedeutung, dass der Kläger auch ohne die Schädigungsfolgen nicht mehr gehfähig
bzw. auf einen Rollstuhl angewiesen ist (vgl. Gutachten Dr. S. vom 06.09.2008). Er kann aufgrund der
schädigungsfremden Lähmungserscheinungen sein linkes Bein im Knie nicht mehr ausstrecken. Der Umstand, dass
sich der Kläger nach eigener Einschätzung noch auf den Beinen halten könnte, wäre er nicht unterschenkelamputiert,
betrifft nur den Bereich der Stehfähigkeit. Aber auch insoweit hindern ihn objektiv vor allem die Funktionsstörungen im
Bereich der Wirbelsäule und der oberen Extremitäten (rechts deutlich stärker als links).
Die Zusammenschau aller aktenkundigen Unterlagen ergibt, dass der bei dem Kläger bestehende
schädigungsbedingte Teilverlust des linken Unterschenkels samt Weichteilnarben am rechten Ober- und
Unterschenkel von untergeordneter Bedeutung ist bei dem Eintreten der Hilflosigkeit bzw. Pflegebedürftigkeit.
Der Senat verkennt nicht, dass sich der Gesamtpflegeaufwand bei dem Kläger durch die anerkannten
Schädigungsfolgen etwas höher darstellt als bei einem Nichtamputierten. § 35 Abs.1 BVG ermöglicht es jedoch nicht,
den hieraus resultierenden Mehrbedarf, den der Kläger mit 15,00 bis 20,00 EUR kalendertäglich beziffert wissen will,
zu übernehmen. Unabhängig davon, dass eine Pflegezulage der Stufe I derzeit eine monatliche Leistung von 266,00
EUR bedingen würde und der von dem Kläger geforderte Betrag umgerechnet weit über den Sätzen einer Pflegezulage
nach der Stufe I liegen würde, hat der Gesetzgeber keine Möglichkeit vorgesehen, einen schädigungsbedingten
Mehranteil an Hilfeleistungen herauszurechnen und zu entschädigen. Wie bereits erwähnt, kommt es darauf an, dass
die Schädigungsfolgen für das Eintreten der Hilflosigkeit wesentlich oder zumindest annähernd gleichwertig
mitursächlich sind. Dies ist jedoch bei dem Kläger im Hinblick auf seine gravierenden schädigungsfremden
Funktionseinbußen zweifelsfrei nicht der Fall.
Nach alledem ist die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 15.12.2008
zurückzuweisen. Die Anwesenheit des Klägers oder eines Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vom
10.11.2009 ist hierbei nicht erforderlich gewesen (§ 110 Abs. 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG).