Urteil des LSG Bayern vom 13.11.2007
LSG Bayern: berufskrankheit, anerkennung, belastung, wahrscheinlichkeit, einwirkung, merkblatt, kausalität, entstehung, rechtsverordnung, auskunft
Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 13.11.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 8 U 350/04
Bayerisches Landessozialgericht L 3 U 287/06
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 04.08.2006 wird
zurückgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Anerkennung seiner Wirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit (BK) der Nr.2109 der Anlage 1
der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) oder als sonstige BK nach § 9 Abs.2 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB
VII) und die Gewährung von Leistungen nach § 3 BKV.
Der 1957 geborene Kläger war in der Zeit von Juli 1977 bis Juni 1996 als Galvanikarbeiter, von Juni 1996 bis Februar
2001 als Maschinenbediener und von Februar 2001 bis November 2001 an einem Leichtarbeitsplatz als
Drahthakenbieger bei der Firma W. , Metallwarenfabrik GmbH, L. , tätig. Seit Ende 2001 ist er arbeitslos.
Mit Schreiben vom 07.11.2002 beantragte der Kläger die Feststellung einer Berufskrankheit aufgrund seiner
Erkrankungen an der Wirbelsäule.
Zur Aufklärung des Sachverhalts zog die Beklagte eine Auskunft des Klägers vom 25.11.2002, eine Auskunft der
Firma W. vom 07.07.2003, ein Vorerkrankungsverzeichnis der AOK Bayern sowie Befundberichte der Dres.K. ,
Fachärzte für Allgemeinmedizin, vom 07.05.2003 bei und holte eine Stellungnahme des Technischen
Aufsichtsdienstes (TAD) vom 18.09.2003 sowie eine gewerbeärztliche Stellungnahme des Dr.K. , Facharzt für
Arbeitsmedizin, Gewerbeaufsichtsamt A. , vom 26.11.2003 ein.
Nach den Ausführungen des TAD war eine BK-relevante Exposition nicht gegeben, da keine gefährdende Tätigkeit im
Sinne der BK Nr.2108 ausgeführt worden sei.
Dr. K. führte aus, dass der Kläger an einem Lendenwirbelsäulen (LWS)-, Halswirbelsäulen (HWS)- und
Brustwirbelsäulen (BWS) - Syndrom erkrankt sei. Da die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht gegeben seien,
seien BKen nach den Nrn.2108 und 2109 der Anlage zur BKV nicht anzuerkennen.
Mit Bescheid vom 10.02.2004 lehnte die Beklagte einen Entschädigungsanspruch aus Anlass der
Halswirbelsäulenerkrankung ab. Eine Berufskrankheit nach der Nr.2109 der Anlage zur BKV liege nicht vor. Die
Tätigkeit des Klägers sei nicht mit einem langjährigen Tragen schwerer Lasten auf der Schulter verbunden gewesen,
so dass diese nicht geeignet gewesen sei, eine Erkrankung der Halswirbelsäule zu verursachen. Da die Erkrankung
nicht beruflich verursacht sei, komme auch eine Anerkennung nach § 9 Abs.2 SGB VII nicht in Betracht. Leistungen
nach § 3 der BKV seien ebenfalls nicht zu erbringen, weil die Gefahr der Entstehung einer Berufskrankheit bei einer
Weiterbeschäftigung im bisherigen Beruf nicht wahrscheinlich gewesen sei.
Den dagegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22.09.2004 als unbegründet
zurück.
Gegen diese Bescheide hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Augsburg (SG) erhoben und beantragt, den Bescheid
der Beklagten vom 10.02.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.09.2004 aufzuheben und die Beklagte
zu verurteilen, die Erkrankung des Klägers im Bereich der Halswirbelsäule als Berufskrankheit Nr.2109 der Anlage zur
BKV oder als sonstige Berufserkrankung nach § 9 Abs.2 SGB VII anzuerkennen und dem Kläger Verletztenrente bzw.
Leistungen nach § 3 BKV zu gewähren.
Das SG hat die einschlägigen Röntgen- und Kernspinaufnahmen beigezogen und auf Antrag des Klägers nach § 109
Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Gutachten des Dr.S. , Arzt für Orthopädie, vom 29.11.2005 eingeholt.
Dr.S. hat im Ergebnis festgestellt, dass eine berufliche Verursachung der Erkrankungen der Halswirbelsäule nicht
angenommen werden könne.
Mit Gerichtsbescheid vom 04.08.2006 hat das SG die Klage abgewiesen. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen für
die Anerkennung der Berufskrankheit der Nr.2109 würden offensichtlich deutlich verfehlt, da die erforderliche
außerordentliche Belastung der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter beim
Kläger nicht gegeben sei.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt. Dr.S. habe bestätigt, dass die Erkrankungen des Klägers mit
großer Wahrscheinlichkeit durch berufliche Belastungen entstanden seien.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 04.08.2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom
10.02.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.09.2004 aufzuheben und festzustellen, dass beim ihm
eine Berufskrankheit nach der Nr.2109 der Anlage 1 zur BKV oder eine sonstige Berufserkrankung nach § 9 Abs.2
SGB VII vorliegt sowie Leistungen nach § 3 BKV zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 04.08.2006 zurückzuweisen.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen und zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den
Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten, der Gerichtsakten, der Akten unter den Az.: S 8 U 349/04, L 3 U 298/06
sowie den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Mit Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs.2
Sozialgerichtsgesetz ).:
Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom
04.08.2006 ist nicht zu beanstanden, weil der Kläger gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Feststellung einer
Berufskrankheit nach der Nr.2109 der BKV oder nach § 9 Abs.2 SGB VII hat. Der Kläger hat auch keinen Anspruch
auf die Gewährung von Leistungen nach § 3 BKV.
Der Anspruch des Klägers richtet sich nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), da die
Berufskrankheit vor Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches Siebtes Buch (SGB VII) am 01.01.1997 eingetreten sein
soll und der Kläger die Gewährung von Leistungen vor dem 01.01.1997 geltend macht (Art.36 Unfallversicherungs-
Einordnungsgesetz - UVEG -, §§ 212, 214 SGB VII). Rechtsgrundlage für die Anerkennung der BK wäre demnach bis
zum 31.12.1996 551 RVO. Für die Zeit danach der ihn aufgrund des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes vom
07.08.1996 ablösende § 9 SGB VII, der sich jedoch hinsichtlich der hier relevanten Regelungsinhalte nicht
unterscheidet.
Berufskrankheiten sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des
Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten
Tätigkeiten erleidet (§ 551 Abs.1 Satz 2 RVO). Eine solche Bezeichnung nimmt die BKVO mit den Listenkrankheiten
vor.
Hierzu gehören nach Nr.2109 der Anlage zur BKV bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch
langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für
die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.
Mit der Aufnahme einer Krankheit in die Liste der Berufskrankheiten wird indessen nur die mögliche Ursächlichkeit
einer beruflichen Schädigung generell anerkannt und die Erkrankung als solche für entschädigungswürdig befunden.
Im Einzelfall ist für das Vorliegen des Tatbestands der Berufskrankheit ein ursächlicher Zusammenhang zwischen
den versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und
zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich.
Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen
einschließlich deren Art und Ausmaß im Sinne des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der
Entschädigungspflicht grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit,
ausreicht (vgl. BSG, Urteil vom 27.06.2000, B 2 U 29/99 R).
Beim Kläger sind bereits die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllt. Für den begründeten Verdacht auf
Vorliegen einer bandscheibenbedingten Berufskrankheit der HWS ist der Nachweis einer langjährigen,
außergewöhnlich intensiven mechanischen Belastung der HWS erforderlich. Ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung
bandscheibenbedingter Erkrankungen der HWS ist anzunehmen, wenn Lastgewichte von 50 kg und mehr regelmäßig
auf der Schulter getragen werden. Dies gründet sich auf epidemiologische Studien über das vermehrte Auftreten von
bandscheibenbedingten Erkrankungen der HWS, welche bei Transportarbeitern in Schlachthöfen gewonnen wurden,
die Lastgewichte von 50 kg und mehr trugen. Ein typisches Beispiel für eine derartige, die HWS gefährdende Tätigkeit
ist das Tragen auf der Schulter, wie es für Fleischträger beschrieben wurde (vgl. Müsch, Berufskrankheiten, S.189
m.w.N.). Das im Vergleich zum Merkblatt für die Berufskrankheit nach Nr.2108 Berufskrankheiten-Verordnung höhere
Lastgewicht begründet sich mit dem Umstand, dass auf der Schulter die Last achsennah einwirkt und der Hebelarm,
der bei der Belastung der Lendenwirbelsäule durch Heben oder Tragen schwerer Lasten zu berücksichtigen ist, entfällt
(vgl. Merkblatt zu der BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV, BArbBl 10-2006, S. 30 ff.).
Das Tragen von Lastgewichten von 50 kg und mehr auf der Schulter oder das Tragen dieser Lasten mit einer
gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten ist nach den Feststellungen
des Technischen Aufsichtsdienstes, die mit den Aussagen des Arbeitgebers übereinstimmen, nicht gegeben. Nach
Besichtigung des Arbeitsplatzes am 15.09.2003 hat der TAD festgestellt, dass der Kläger in der Zeit von 1992 bis
2001 lediglich mit dem Transport von Kleinteilen mit einem Gewicht von weniger als 1 kg befasst war. In der Zeit von
1977 bis 1992 war er mit der Bestückung von Warenträgern mit Rosten, Gittern, Körben und Untergestellen
beschäftigt. Die vom Kläger transportierten Gegenstände wie z. B. Roste und Gitter, hatten ein Gewicht von weniger
als 10 kg, die Körbe ebenfalls ein Gewicht von weniger als 10 kg, die Untergestelle hatten ein Gewicht von 10 bis 15
kg. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellungen. Eine BK-relevante Exposition ist somit nicht
gegeben. Eine gefährdende Tätigkeit im Sinne der BK Nr.2109 lag beim Kläger nicht vor.
Auch die Voraussetzungen für die Anerkennung der Erkrankung an der Halswirbelsäule wie eine Berufskrankheit nach
§ 9 Abs.2 SGB VII liegen nicht vor. Nach § 9 Abs.2 SGB VII hat der Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die
nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie
eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen
Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung als Berufskrankheit erfüllt
sind.
Neue medizinische Erkenntnisse, dass die Tätigkeit des Klägers eine erhebliche Gefährdung beinhaltet hätte, sind
nicht gegeben. Eine berufliche Verursachung der Erkrankung des Klägers ist zudem nicht hinreichend wahrscheinlich.
Der Kläger leidet nach den Feststellungen des gewerbeärztlichen Dienstes an einem LWS-Syndrom, HWS-Syndrom
und BWS-Syndrom. Die Halswirbelsäule ist mithin nicht besonders betroffen. Die Bandscheibenschäden an der
Halswirbelsäule heben sich vom Degenerationszustand belastungsferner Abschnitte nicht deutlich ab (vgl.
Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage, S.579).
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf vorbeugende Maßnahmen nach § 3 BKV. Voraussetzung dafür ist das
Vorliegen einer konkret-individuellen Gefahr für das Eintreten der Berufskrankheit. Dies erfordert u.a. den Nachweis
beruflicher Wirbelsäulenbelastungen, die nach Art und Intensität die Voraussetzungen der BK-Nrn.2108/2109 erfüllen.
Lediglich die geforderte Mindestdauer der Einwirkung muss nicht bereits vorliegen.
Dementsprechend sind die Voraussetzungen für vorbeugende Maßnahmen nach § 3 BKV in der Regel nur gegeben,
wenn eine Anerkennung einer BK nach den Nrn.2108/2109 ausgeschlossen ist, weil ein Zwang zum Unterlassen der
gefährdenden Tätigkeiten - noch - nicht vorliegt oder der die übrigen Tatbestandsmerkmale noch nicht vollständig
erfüllt sind. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben.
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 04.08.2006 war somit
zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision gem. § 160 Abs.2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.