Urteil des LSG Bayern vom 25.09.2008

LSG Bayern: befangenheit, einwilligung, alter, einverständnis, pflichtverteidiger, verfahrensmangel, aufschub, erlass, missbrauch, ausnahme

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 25.09.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Bayreuth S 10 SO 35/08
Bayerisches Landessozialgericht L 11 SO 72/08
Bundessozialgericht B 8 SO 66/08 B
I. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 01.08.2008 aufgehoben.
Die Streitsache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des Sozialgerichts Bayreuth vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig sind Beginn und Höhe der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) sowie evtl. die Gewährung einmaliger Leistungen.
Mit Bescheid vom 10.09.2007 bewilligte der Beklagte auf Antrag vom 24.08.2007 Leistungen der Grundsicherung im
Alter und bei Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.08.2007 bis 31.07.2008 unter Berücksichtigung des vom Kläger
zu zahlenden monatlichen Heizkostenabschlags i.H.v. 52 EUR abzügl. der im Regelsatz bereits beinhalteten Kosten
für die Wassererwärmung i.H.v. 8,66 EUR. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 19.06.2008 als verfristet zurück. Nach Hausbesuch bewilligte der Beklagte für die Zeit ab
01.03.2008 eine Heizkostenpauschale i.H.v. 49 EUR (Bescheid vom 21.08.2008). Über weitere Anträge auf
Übernahme der Kosten für die Anschaffung von Öfen und Ersatzbeschaffung bzw. Reparatur von Herd und
Waschmaschine vom 01.02.2008 hat der Beklagte bislang nicht entschieden.
Am 07.04.2008 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Bayreuth (SG) erhoben. Er habe am 30.09.2007
Grundsicherung beantragt und diese ab Oktober 2007 erhalten. Er habe Öfen anschaffen müssen, Herd und
Waschmaschine seien kaputt. Der Beklagte habe hierüber nicht entschieden. Es sei fraglich, ab wann und in welcher
Höhe der Anspruch bestehe. Das SG hat mit Schreiben vom 08.04.2008 die Akten des Beklagten angefordert. Eine
Einwilligung zur Beiziehung von Unterlagen verschiedener Sozialversicherungsträger und von Ärzten - nicht aber vom
Beklagten - hat der Kläger nicht unterschrieben, sich vielmehr hiergegen gewandt. Eine Bitte um Einwilligung in die
Beiziehung von Unterlagen des Beklagten und von ärztlichen Unterlagen hat er ebenfalls nicht unterschrieben.
Der Kläger hat zudem einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) gestellt ("Pflichtverteidiger") und
das Gericht wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Über diese beiden Anträge hat das SG nicht
entschieden, vielmehr nach kurzer Anhörungsfrist die Klage mit Gerichtsbescheid vom 01.08.2008 abgewiesen. Die
Streitsache weise keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher und rechtlicher Art auf. Die Begründetheit der Klage
könne jedoch nicht geprüft werden, sie sei daher abzuweisen. Der Kläger verhindere die Beiziehung der Akten des
Beklagten. Das Abwarten des Abschlusses eines noch offenen Widerspruchsverfahrens wegen der
Leistungsbewilligung sei nicht erforderlich, denn es sei nicht zu erwarten, dass er hernach sein Einverständnis in die
Beiziehung von Unterlagen des Beklagten erteilen werde. Er habe bereits jetzt eine Verschleppungsabsicht des
Gerichts gerügt.
Dagegen hat der Kläger Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Er habe die Bitte um Aufhebung der
Schweigepflicht insbesondere von Ärzten abgelehnt, die Beiordnung eines "Pflichtverteidigers" begehrt und einen
"Missbrauchsantrag" gegen das SG gestellt. Den Antrag auf Ablehnung des Senates wegen Besorgnis der
Befangenheit hat der Kläger zurückgenommen.
Der Kläger beantragt, den Gerichtsbescheid des SG F-Stadt vom 01.08.2008 aufzuheben und die Sache zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Akte des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) ist zulässig und i.S. der
Zurückverweisung an das SG begründet.
Der Gerichtsbescheid vom 01.08.2008 ist wegen wesentlicher Verfahrensfehler aufzuheben und die Streitsache ist zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückzuverweisen.
Der Senat kann die Sache an das SG zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache
selbst zu entscheiden (§ 159 Abs 1 Nr 1 SGG) oder das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet (§ 159 Abs 1
Nr 2 SGG).
Das vom SG durchgeführte Verfahren leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Ein Verfahrensmangel ist ein
Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift (Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 8.Aufl, § 159 Rdnr 3). Vorliegend hat der Kläger die zuständige Richterin am SG wegen der Besorgnis der
Befangenheit abgelehnt (§ 60 SGG i.V.m. § 44 Zivilprozessordnung -ZPO-). Nach § 47 ZPO hat ein abgelehnter
Richter vor Erledigung des Ablehnungsgesuches nur solche Handlungen vorzunehmen, die keinen Aufschub dulden.
Der Erlass eines Gerichtsbescheides gehört hierzu eindeutig nicht. Im Gerichtsbescheid selbst hat die abgelehnte
Richterin auch keine Ausführungen zu einem evtl. Missbrauch des Ablehnungsrechts durch den Kläger gemacht. Das
Ablehnungsgesuch des Klägers ist vielmehr einfach ebenso übergangen worden wie der gestellte Antrag auf
Bewilligung von PKH, denn nur dahin ist die Bitte des Klägers um einen "Pflichtverteidiger" auslegungsfähig.
Das SG hat zudem auch nicht in der Sache entschieden. Es hat lediglich ausgeführt, eine Beiziehung der Akten des
Beklagten sei nicht möglich gewesen und daher hätte eine Prüfung des Begehrens des Klägers nicht erfolgen können.
Dabei hat es nicht berücksichtigt, dass evtl. mit der Klageerhebung bereits die Einwilligung in die Beiziehung der
Akten des Beklagten als erteilt angesehen werden kann - das SG hat dies auch mit Schreiben vom 08.04.2008 getan
- und dass der Kläger lediglich der Beiziehung von Unterlagen anderer Sozialversicherungsträger und insbesondere
der Beiziehung ärztlicher Unterlagen widersprochen hat. Der Beiziehung der Akten des Beklagten hatte er nicht
widersprochen. Auch die weiteren Ausführungen, ein noch offenes Widerspruchsverfahren müsse nicht abgewartet
werden, weil der Kläger sein Einverständnis in die Beiziehung der Beklagtenakte auch dann nicht erteilen werde, sind
für den Senat nicht nachvollziehbar.
Nach alledem ist das Verfahren an das SG zurückzuverweisen. Dabei hat der Senat sein Ermessen dahingehend
auszuüben, ob er die Sache selbst entscheiden oder zurückverweisen will. Die Zurückverweisung soll die Ausnahme
sein (Meyer-Ladewig aaO § 159 Rdnr 5). In Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten an der
Sachentscheidung sowie den Grundsätzen der Prozessökonomie und dem Verlust einer Tatsacheninstanz hält der
Senat es wegen des vom Kläger gestellten Ablehnungsgesuches für angezeigt, den Rechtsstreit an das SG
zurückzuverweisen. Das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art 101 Grundgesetz) ist vorliegend ggf. verletzt. Der
Anspruch auf den gesetzlichen Richter auch in der ersten Instanz darf dem Kläger nicht verwehrt werden. Das SG
wird für den Fall, dass der Widerspruch tatsächlich verfristet ist, zumindest die Tatsachen zu ermitteln haben, die für
eine Entscheidung über die Bewilligung einer Heizkostenpauschale im Rahmen des zum Gegenstand des
gerichtlichen Verfahrens gewordenen Bescheides vom 21.08.2008 (im Gegensatz zur Übernahme der tatsächlichen
Heizkosten mit Bescheid vom 10.09.2007) erforderlich sind. Auch wird zur Untätigkeitsklage wegen der bisher nicht
erfolgten Entscheidung über die Anträge vom 01.02.2008 vom SG Stellung genommen werden müssen und zu klären
sein, ob ggf. ein unabdingbarer, nicht gedeckter Bedarf besteht (§§ 37, 42 Satz 2 SGB XII). Von einer Spruchreife ist
daher im Zeitpunkt der Entscheidung des Senates nicht auszugehen.
Das SG wird nach Entscheidung über das Ablehnungsgesuch oder bei Annahme eines missbräuchlichen
Ablehnungsgesuches mit entsprechenden Ausführungen in einem Urteil - ein Gerichtsbescheid erscheint wegen der
zumindest tatsächlichen Problematik und der nach Auffassung des SG fehlenden Antragstellung nicht als die
geeignete Entscheidungsform - und nach Entscheidung über den Antrag auf Bewilligung von PKH noch über die
Möglichkeit zur Beiziehung der Beklagtenakte ohne ausdrückliche Einwilligungserklärung oder nach entsprechend
formulierter Einwilligungserklärung befinden und ggf. in einer mündlichen Verhandlung auf eine sinnvolle
Antragstellung hinwirken müssen.
Eine besondere Eilbedürftigkeit der Entscheidung ist nicht zu erkennen.
Die Kostenentscheidung - auch unter Einbeziehung des Berufungsverfahrens - bleibt dem SG im Rahmen einer
erneuten Sachentscheidung vorbehalten.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.