Urteil des LSG Bayern vom 15.10.2002

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Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 15.10.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 15 AL 915/99
Bayerisches Landessozialgericht L 11 AL 327/01
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 17.07.2001 aufgehoben und die
Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 30.07.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
08.10.1999 abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist zwischen den Beteiligten die Gewährung von Insolvenzgeld (InsG).
Der am 1943 geborene Kläger war bei der Firma B. E. in F. beschäftigt. Sein Arbeitsverhältnis wurde durch Kündigung
des Arbeitgebers vom 14.10.1998 beendet.
Auf seine dagegen zum Arbeitsgericht Nürnberg erhobene Klage wurde im Versäumnisurteil vom 22.12.1998 - 2 Ca
9065/98 - festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen dem Kläger und der Firma E. erst zum 26.10.1998
aufgelöst wurde. Gleichzeitig wurde die Firma E. verurteilt, an den Kläger den noch ausstehenden Lohn für die Monate
September und Oktober 1998 in Höhe von 5.958,75 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden
Nettobetrag seit dem 03.12.1998 zu zahlen.
Mit Beschluss vom 27.01.1999 lehnte das Amtsgericht Nürnberg - Konkursgericht - den Antrag der AOK Bayern auf
Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen von Herrn B. E. mangels Masse ab (Az: 80 N 628/98).
Mit Schreiben vom 18.03.1999 teilte der Bevollmächtigte des Klägers diesem mit, der Gerichtsvollzieher habe im
Verlaufe des Zwangsvollstreckungsverfahrens festgestellt, dass Herr E. die eidesstattliche Versicherung abgegeben
habe. Die Beklagte müsse nun InsG erstatten. Falls er noch diesbezügliche Fragen habe, solle sich der Kläger an
seinen Bevollmächtigten wenden.
Am 21.04.1999 beantragte der Kläger daraufhin die Gewährung von InsG bei der Beklagten für den Zeitraum vom
01.09.1998 bis 14.10.1998.
Mit Bescheid vom 30.07.1999 lehnte die Beklagte den Antrag ab, da der Kläger die Antragsfrist des § 324 Abs 3 Satz
1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) versäumt habe.
Der hiergegen am 10.08.1999 eingelegte Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 08.10.1999).
Dagegen hat der Kläger am 18.10.1999 Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben.
Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 17.07.2001 verurteilt, dem Kläger InsG zu gewähren. Der Kläger habe seinen
Antrag innerhalb der Nachfrist des § 324 Abs 3 Satz 2 SGB III gestellt. Diese Nachfrist könne er in Anspruch
nehmen, da er die Ausschlussfrist von zwei Monaten gem § 324 Abs 3 Satz 1 SGB III aus Gründen versäumt habe,
die von ihm nicht zu vertreten wären. Der Kläger sei erst kurz vor Ende der Frist (am 29.03.1999) durch das Schreiben
seines Bevollmächtigten vom 18.03.1999 auf die Möglichkeit der Beantragung von InsG bei der Beklagten
hingewiesen worden. Beim Verstreichenlassen der Frist des § 324 Abs 3 Satz 1 SGB III sei kein Verschulden des
Klägers erkennbar, da er die Antragsfrist habe ausschöpfen dürfen. Unter Berücksichtigung seiner
Persönlichkeitsstruktur, der Abweisung des Insolvenzantrags durch das Amtsgericht Nürnberg erst am 27.01.1999
und dem Umstand, dass dem Kläger eine ausreichende Zeit zur Beratung und Überlegung zur Verfügung stehen
müsse, sei es ihm nicht zumutbar gewesen, innerhalb der verbliebenen Zeit bis zum Fristende einen Antrag auf
Gewährung von InsG zu stellen.
Gegen das ihr am 03.08.2001 zugestellte Urteil wendet sich die Beklagte mit der am 22.08.2001 beim Bayer.
Landessozialgericht (BayLSG) eingelegten Berufung.
Die Antragsfrist nach § 324 Abs 3 Satz 1 SGB III sei vom 28.01.1999 bis 27.03.1999 gelaufen. Durch das
Vollstreckungsprotokoll des Obergerichtsvollziehers K. vom 25.09.1999 und dem Schreiben seines Anwaltes vom
18.03.1999 sei der Kläger auf die Möglichkeit der Beantragung von InsG hingewiesen worden. Entgegen der
Auffassung des SG werde dem Kläger die Nachfrist des § 324 Abs 3 Satz 2 SGB III nach der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichtes (BSG) nicht eröffnet, wenn das von ihm nicht zu vertretene Antragshindernis während des
Laufs der Frist des § 324 Abs 3 Satz 1 SGB III weggefallen ist und es ihm unter den gegebenen Umständen bei
Anwendung der zumutbaren Sorgfalt möglich gewesen wäre, diese Antragsfrist einzuhalten. Zwischen der
Kenntnisnahme des Klägers von der Zahlungsunfähigkeit seines früheren Arbeitgebers hätte jedoch ein Zeitraum von
12 Tagen gelegen, innerhalb dessen es ihm ohne weiteres möglich gewesen wäre, einen Antrag auf InsG zu stellen.
Dazu hätte es lediglich eines Telefonanrufes bedurft, nicht jedoch einer Zusammenstellung und Beifügung von
Unterlagen. Diese hätten auch nachgereicht werden können. Auch das BSG gehe in seiner Rechtsprechung davon
aus, dass ein Zeitraum von knapp einer Woche ausreichend sei, um die Ausschlussfrist zu wahren.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Nürnberg aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen und wegen der grundsätzlichen Bedeutung die Revision zum BSG zuzulassen.
Da es sich im § 324 Abs 3 SGB III um materiell-rechtliche Ausschlussfristen handle, sei die Beklagte gehalten,
Nachsicht bei der Versäumung dieser Ausschlussfrist zu üben. Der Kläger habe nach Zugang des Schreibens vom
18.03.1999 unter Berücksichtigung der normalen Postlaufzeiten zunächst seine Unterlagen für den Antrag
zusammenzustellen gehabt. Da ein Versicherter grundsätzlich nach § 324 Abs 3 SGB III zwei Monate Zeit für die
Antragstellung zur Verfügung habe, sei nicht ersichtlich, warum der Kläger, der kurz vor Fristablauf des § 324 Abs 3
Satz 1 SGB III von dem möglicherweise eingetretenen Insolvenzereignis erfahren habe, sofort den Antrag stellen
müsse. § 324 Abs 3 SGB III stelle im Übrigen eine spezialgesetzliche Regelung des Rechtsinstituts der
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dar. Es sei deshalb nicht einzusehen, weshalb dem Kläger in § 324 Abs 3
SGB III kürzere Überlegungsfristen eingeräumt werden sollten, als bei der Versäumung von Rechtsmittelfristen bzw
Antragsfristen, in denen § 67 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Monatsfrist eröffnet. Da das BSG die Frage des
Wegfalls des Hindernisses innerhalb der Antragsfrist nicht abschließend geklärt hat, werde angeregt, die Revision
wegen der grundsätzlichen Bedeutung zuzulassen.
Die Beteiligten haben sich im Termin zur Erörterung des Sachverhalts vom 12.09.2002 mit einer Entscheidung des
Berufungsverfahrens durch den Berichterstatter ohne weitere mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, die Prozessakten des Arbeitsgerichtes Nürnberg, des SG und
des BayLSG wird ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 151 SGG) ist auch im Übrigen zulässig (§ 144 SGG). Im
Einverständnis mit den Beteiligten konnte die Entscheidung ohne weitere mündliche Verhandlung durch den
Berichterstatter ergehen (§§ 124 Abs 2, 155 Abs 3 und 4 SGG).
In der Sache erweist sich die Berufung auch als begründet, denn das SG hat im angefochtenen Urteil vom 17.07.2001
die Beklagte zu Unrecht zur Zahlung von InsG an den Kläger vom 01.09.1998 bis 14.10.1998 verurteilt, da der Kläger
die Antragsfrist des § 324 Abs 3 SGB III versäumt hat.
InsG ist innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Monaten nach dem Insolvenzereignis zu beantragen (§ 324 Abs 3
Satz 1 SGG). Hat der Arbeitnehmer die Frist aus Gründen versäumt, die er nicht vertreten hat, so wird InsG geleistet,
wenn der Antrag innerhalb von zwei Monaten nach Wegfall des Hinderungsgrundes gestellt wird (§ 324 Abs 3 Satz 2
SGG). Der Arbeitnehmer hat die Versäumung der Frist zu vertreten, wenn er sich nicht mit der erforderlichen Sorgfalt
um die Durchsetzung seiner Ansprüche bemüht hat (§ 324 Abs 3 Satz 3 SGB III).
Nachdem das Amtsgericht Nürnberg - Insolvenzgericht - den Antrag der AOK Bayern auf Eröffnung des
Insolvenzverfahrens gegen die Firma E. am 27.01.1999 mangels Masse abgelehnt hatte (= Insolvenzereignis iSd §
183 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB III), begann die Antragsfrist nach § 324 Abs 3 Satz 1 SGB III am 28.01.1999 zu laufen
und endete am 27.03.1999. Der Kläger hatte durch das Schreiben seines Bevollmächtigten vom 18.03.1999, in dem
dieser ihn auf die Möglichkeit der Beantragung von InsG bei der Beklagten hingewiesen hatte, von der
Antragsmöglichkeit erfahren. Er hat jedoch erst am 21.04.2001 und somit außerhalb der Ausschlussfrist des § 324
Abs 3 Satz 1 SGB III einen entsprechenden Antrag bei der Beklagten gestellt.
Entgegen der Auffassung des Klägers begann die Antragsfrist nach § 324 Abs 3 Satz 1 SGB III nicht erst mit dem
Zeitpunkt der Kenntnis von der Möglichkeit der Beantragung von InsG bei der Beklagten zu laufen. Der Gesetzgeber
hat im SGB III die Regelung getroffen, dass bei nicht zu vertretender Versäumung der zweimonatigen Antragsfrist des
§ 324 Abs 3 Satz 1 SGB III eine weitere Zweimonatsfrist in § 324 Abs 3 Satz 2 SGB III eröffnet ist, die zwar erst mit
dem Wegfall des Hindernisses zu laufen beginnt, aber voraussetzt, dass die Frist des § 324 Abs 3 Satz 1 SGB III
unvertretbar versäumt worden ist. Fällt das Hindernis jedoch - wie im vorliegenden Fall - schon während des Laufes
der Frist des § 324 Abs 3 Satz 1 SGB III weg, so ist die weitere Frist des § 324 Abs 3 Satz 2 SGB III nicht eröffnet.
Maßgeblich bleibt vielmehr die erste Frist. Diese Rechtsauffassung, die das BSG in ständiger Rechtsprechung zur
wortgleichen Bestimmung des § 141 e Abs 1 AFG in der Fassung des 5.AFG-ÄndG vom 23.07.1979 (BGBl I, 1189)
vertreten (vgl BSGE 55, 284; BSG vom 16.11.1984 - 10 RAr 17/83; BSG vom 10.04.1985 - 10 RAr 11/84) und der
sich das BayLSG angeschlossen hat, aufzugeben, besteht kein Anlass. Ein Antragsteller kann eine ihm gesetzlich
eingeräumte Frist zwar voll ausnutzen, dh seinen Antrag erst am letzten Tag dieser Frist stellen. Das bedeutet aber
nicht, dass diese Frist unterbrochen oder gehemmt wird, wenn der Berechtigte während ihres Laufes zeitweise
unverschuldet an der Antragstellung gehindert ist. So ist etwa auch für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
bei Versäumung einer gesetzlichen Verfahrensfrist nach § 67 SGG die unverschuldete Versäumung Voraussetzung
für die Wiedereinsetzung. Auch hier beginnt die einmonatige Antragsfrist mit dem Wegfall des Hindernisses. War das
Hindernis jedoch schon während des Laufes der eigentlichen Frist weggefallen, so ist die Versäumung zu vertreten,
wenn es dem Berechtigten unter den gegebenen Umständen bei Anwendung der ihm zumutbaren Sorgfalt möglich
gewesen wäre, die Frist einzuhalten. Würde man der Rechtsansicht des Klägers folgen, dass die weitere Frist des §
324 Abs 3 Satz 2 SGB III in jedem Fall mit dem Wegfall des Hindernisses eröffnet wird, gleichgültig, ob dieser
Zeitpunkt vor oder nach Ablauf der Frist des § 324 Abs 3 Satz 1 SGB III liegt, würde dies wieder zu der früheren
Rechtsauffassung des BSG führen, dass bei nicht zu vertretender Unkenntnis - jedenfalls eines
Ablehnungsbeschlusses - eine Antragsfrist von zwei Monaten erst mit der tatsächlichen Kenntnis beginnt. Dies
entspricht jedoch nicht der gesetzlichen Fassung des § 324 Abs 3 SGB III. Da der Kläger mit seinem Antrag vom
21.04.1999 die Frist des § 324 Abs 3 Satz 1 SGB III versäumt hatte, hätte ihm die weitere Frist des § 324 Abs 3 Satz
2 SGB III nur zur Verfügung gestanden, wenn er die Frist des § 324 Abs 3 Satz 1 SGB III aus Gründen, die von ihm
nicht zu vertreten sind, versäumt hat. Weil er dabei jede Fahrlässigkeit zu vertreten hat, wäre das nur der Fall
gewesen, wenn er ohne fahrlässig zu handeln, diese Frist nicht einhalten konnte (vgl BSG aaO). Nachdem der Kläger
jedoch durch das Schreiben seines Bevollmächtigten vom 18.03.1999 von der Möglichkeit der Beantragung von InsG
bei der Beklagten erfahren hatte, war es ihm bis zum Ablauf der Antragsfrist des § 324 Abs 3 Satz 1 SGB III am
27.03.1999 möglich, einen entsprechenden Antrag zu stellen, ohne dazu weitere Unterlagen oder Beweismittel
vorlegen zu müssen (vgl BSG vom 14.08.1984 - 10 RAr 18/83).
Wegen Versäumung der Frist des § 324 Abs 3 Satz 1 SGB III hat der Kläger gegen die Beklagte keinen Anspruch auf
Gewährung von InsG. Das Urteil des SG vom 17.07.2001 war deshalb aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid
der Beklagten vom 30.07.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.10.1999 abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG), da das BSG in den oben
genannten Entscheidungen die hier streitige Rechtsfrage zum wortgleichen § 141 e Abs 1 AFG aF bereits geklärt hat.