Urteil des LSG Bayern vom 22.07.2010

LSG Bayern: wiedereinsetzung in den vorigen stand, allgemeine versicherungsbedingungen, krankenversicherung, beschwerdefrist, verschulden, vag, selbstbehalt, leistungsanspruch, zuschuss, bekanntgabe

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 22.07.2010 (rechtskräftig)
Sozialgericht München S 22 AS 336/10 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 7 AS 414/10 B ER
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 15.03.2010 wird zurückgewiesen.
II. Die außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Streitig ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes , ob die tatsächlichen Kosten einer privaten Kranken- und
Pflegeversicherung sowie ein jährlicher Selbstbehalt in der Krankenversicherung im Rahmen von Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu übernehmen sind.
Der im Jahr 1960 geborene Antragsteller ist seit 2001 selbstständig erwerbstätig und privat kranken- und
pflegeversichert. Ein Basistarif nach § 193 Abs. 5 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) und § 12
Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) wurde nicht vereinbart. Auf den Anfang 2010 gestellten Antrag hin bewilligte die
Antragsgegnerin mit Bescheid vom 02.02.2010 von Februar bis Juli 2010 Arbeitslosengeld II. Dabei wurden
monatliche Zuschüsse zur Krankenversicherung (126,05 Euro) und Pflegeversicherung (12,05 Euro) als Bedarf
berücksichtigt. Hiergegen wurde am 09.02.2010 Widerspruch hoben.
Den am 12.02.2010 beim Sozialgericht München gestellten Antrag auf Erlass einer einstelligen Anordnung lehnte das
Sozialgericht mit Beschluss vom 15.03.2010 ab. Es bestehe gemäß § 26. Abs. 2 Nr. 1 SGB II iVm § 12 Abs. 1c Satz
6 VAG lediglich ein Anspruch in Höhe eines Zuschusses, der dem Beitrag eines Bezieher von Arbeitslosengeld II in
der gesetzlichen Krankenversicherung entspreche. Eine planwidrige Gesetzeslücke liege nicht vor. Es bestehe auch
kein Anordnungsgrund, weil der Antragsteller in den Basistarif wechseln könne und im übrigen ausreichend
Krankenversicherungsschutz über § 193 Abs. 6 Sätze 5 und 6 VVG habe. Der Beschluss wurde dem
Bevollmächtigten des Antragstellers laut Empfangsbekenntnis am 18.03.2010 zugestellt.
Am 18.05.2010 hat der Bevollmächtigte des Antragstellers beim Sozialgericht München per Telefax Beschwerde
gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 15.03.2010 eingelegt und zugleich die Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand beantragt. Beim Landessozialgericht ist das Schreiben am 26.05.2010 (Dienstag) eingegangen.
Zur Begründung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wurde vorgetragen, dass die Bürovorsteherin
der Rechtsanwaltskanzlei im Fristenbuch den 14.04.2010 als Vorfrist sowie den 19.04.2010 als Fristablauf
eingetragen habe. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen sei die Akte weder bei der Vorfrist noch beim Fristablauf
vorgelegt worden. Erst bei der stichprobenhaften Kontrolle des Rechtsanwalts am 20.04.2010 sei festgestellt worden,
dass die Beschwerde nicht fristgerecht eingelegt worden war. Zur Glaubhaftmachung des Ablaufs wurde eine
anwaltliche Versicherung, eine eidesstattliche Versicherung der Bürovorsteher sowie Auszüge aus dem Fristenbuch
beigefügt.
Der Beschwerdeführer beantragt, nach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand den Beschluss des Sozialgerichts
München vom 15.03.2010 aufzuheben und die Beschwerdegegnerin zu verpflichten, dem Antragsteller einen
Zuschuss in tatsächlicher Höhe zur privaten Krankenversicherung (445,01 Euro monatlich) und zur privaten
Pflegeversicherung (24,11 Euro monatlich) sowie für den jährlichen Selbstbehalt in der privaten Versicherung in Höhe
von 560,- Euro zu gewähren.
Die Beschwerdegegnerin beantragt, den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abzulehnen, hilfsweise die
Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München zurückzuweisen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die
Beschwerde wurde nicht innerhalb der Monatsfrist nach § 173 SGG eingelegt, es bestehen jedoch ausreichende
Gründe für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG. In der Sache ist die Beschwerde
zurückzuweisen, weil das Sozialgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt hat.
Nach § 173 S. 1 SGG ist die Beschwerde binnen eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung beim
Sozialgericht schriftlich einzulegen. Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist
beim Landessozialgericht eingelegt wird. Der Beschluss des Sozialgerichts wurde am 18.03.2010 zugestellt. Er
enthielt eine zutreffende Rechtsmittelbelehrung. Gemäß § 64 Abs. 1 SGG beginnt die Monatsfrist mit dem Tag nach
der Zustellung am 19.03.2010 und endet gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 SGG am 18.04.2010. Da dies ein Sonntag war,
endete die Frist gemäß § 64 Abs. 3 SGG erst am Montag den 19.04.2010. Die Beschwerde, die am 18.05.2010 beim
Sozialgericht eingelegt wurde, war deshalb verfristet.
Hinsichtlich der Versäumung der Beschwerdefrist erfolgt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67
SGG.
Nach § 67 Abs. 1 SGG ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne
Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Nach § 67 Abs. 2 Satz 1 SGG ist der Antrag
binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen.
Nach der Erklärung des Bevollmächtigten des Antragstellers und der eidesstattlichen Versicherung der
Bürovorsteherin hat der Bevollmächtigte am 20.04.2010 festgestellt, dass die Beschwerde nicht fristgemäß eingelegt
wurde. An diesem Tag ist das Hindernis für die Einhaltung der Beschwerdefrist weggefallen. Der Antrag auf
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war gemäß § 67 Abs. 2SGG innerhalb eines Monats nach Wegfall des
Hindernisses beim zuständigen Landessozialgericht zu stellen. Die Frist beginnt gemäß § 202 SGG iVm § 222 ZPO
iVm § 187 Abs. 1 BGB am Tag nach dem Wegfall des Hindernisses (dies ist ein Ereignis, keine Bekanntgabe nach §
64 Abs. 1 SGG), mithin am 21.04.2010. (vgl. Keller in Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 9. Auflage 2008, § 64
Rn. 3). Die Frist endete gemäß § 64 Abs. 2 SGG am Donnerstag, den 20.05.2010.
Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist beim zuständigen Gericht zu stellen. Dies ist nach § 67 Abs. 4 Satz 1 SGG das
für die Beschwerde zuständige Landessozialgericht. Dort lag der Antrag auf Wiedereinsetzung erst am 26.05.2010
vor. Dies ist aber unerheblich, weil der Antrag auf Wiedereinsetzung durch die Nachholung der versäumten
Rechtshandlung (Beschwerdeerhebung) innerhalb des Monats nach Wegfall des Hindernisses nach § 67 Abs. 2 Satz
4 SGG entbehrlich wurde. Wenn der Wiedereinsetzungsantrag durch die auch beim Sozialgericht mögliche
Beschwerdeeinlegung insgesamt entbehrlich wird, kann es auf die Einhaltung der Frist für den
Wiedereinsetzungsantrag nicht mehr ankommen.
Der Antragsteller war ohne Verschulden verhindert, die Beschwerdefrist einzuhalten. Das Verschulden der Hilfsperson
seines Bevollmächtigten ist ihm nicht zuzurechnen. Ein Rechtsanwalt kann sich grundsätzlich darauf verlassen, dass
ausreichend geschultes und überwachtes Personal die Einhaltung der Fristen beachtet und die Akten rechtzeitig
vorlegt. Bei einer ausreichenden Organisation der Fristenüberwachung, insbesondere der zuverlässigen Führung eines
Fristenkalenders durch ausgewähltes Fachpersonal unter Erfassung einer Vorfrist und einer Endfrist ist von einem
fehlenden Verschulden auszugehen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig, a.a.O., § 67 Rn. 9b bis 9c). Diese Konstellation ist
durch die vorgelegten Erklärungen des Bevollmächtigten glaubhaft gemacht.
In der Sache hat die Beschwerde keinen Erfolg.
Das Beschwerdegericht schließt sich gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG der Begründung des Sozialgerichts an und
weist die Beschwerde aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück.
Wie das Sozialgericht zutreffend ausführt, besteht kein Anordnungsgrund, weil durch das Ruhensverbot nach § 193
Abs 6 Sätze 5 und 6 VVG ausreichender Krankenversicherungsschutz besteht.
Es besteht auch kein Anordnungsanspruch.
Nach der eindeutigen gesetzlichen Vorgabe in § 26 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB II iVm § 12 Abs. 1c Sätze 5 und 6 VAG
besteht nur ein Anspruch auf einen Zuschuss in Höhe des Betrages, der von der Behörde auch für einen Bezieher von
Arbeitslosengeld II in der gesetzlichen Krankenversicherung zu zahlen wäre. Es ist Sache des Antragstellers
rechtzeitig einen Wechsel in den Basistarif vorzunehmen (nach § 204 VVG unter Anrechnung der aus dem bisherigen
Vertrag erworbenen Rechte und Altersrückstellungen) und bei Hilfebedürftigkeit nur mit der Hälfte der Beiträge des
Basistarifs belastet zu sein. Dass es eine gesetzgeberische Fehlleistung ist, diesen halben Basistarif im Rahmen der
Grundsicherung für Arbeitssuchende nur teilweise zu bezuschussen, dürfte nicht zweifelhaft sein. Ein
Leistungsanspruch entsteht daraus jedoch nicht (vgl. BayLSG Beschluss vom 21.04.2010, L 7 AS 201/10 B ER und
BayLSG Beschluss vom 29.10.2010, L 16 AS 27/10 B ER). Zu Recht verweist im übrigen das Sozialgericht Berlin in
seinem Urteil vom 27.11.2009, S 37 AS 31127/09, dort Rn. 43, darauf hin, dass es sich bei den Betroffenen
regelmäßig um den arbeitsmarktnahen Personenkreis der selbständig Erwerbstätigen handelt, für den typisierend
unterstellt werden kann, dass sie zumindest bei Ausübung eines Minijobs über die Einkommensbereinigung und die
unterstellt werden kann, dass sie zumindest bei Ausübung eines Minijobs über die Einkommensbereinigung und die
Freibeträge nach §§ 11, 30 SGB II Reserven zur Eigenbeteiligung am Beitrag der privaten Krankenversicherung
haben.
Das Beschwerdegericht sieht auch keinen Anordnungsanspruch in § 21 Abs. 6 SGB II in der ab 28.05.2010 gültigen
Fassung (BGBl 2010, S. 671, 672). Der Sache nach könnte es sich bei der Differenz zwischen dem halben Basistarif
und dem Betrag, der für gesetzlich krankenversicherte Hilfebedürftige zu leisten wäre, um einen unabweisbaren,
laufenden, nicht nur einmaligen besonderen Bedarf im Sinn von § 21 Abs. 6 SGB II handeln. Es sprechen jedoch
systematische Gründe gegen einen derartigen Anspruch: Wenn in § 26 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB II iVm § 12 Abs. 1c
Sätze 5 und 6 VAG ein Leistungsanspruch für die konkrete Bedarfssituation im Einzelnen vorgegeben und begrenzt
ist, können diese Anspruchsgrenzen nicht durch ein Ausweichen auf einen anderen Anspruch ausgehebelt werden. Es
handelt sich dann nicht um einen Einzelfall im Sinn von § 21 Abs. 6 SGB II n.F.
Für die Übernahme des jährlichen Selbstbehalts in Höhe von 580,- Euro ist zumindest ein Anordnungsgrund nicht
glaubhaft. Dass eine notwendige medizinische Behandlung wegen des Selbstbehalts nicht erfolgt, ist weder
vorgetragen noch sonst erkennbar. Es obliegt dem Antragsteller, in den (halben) Basistarif zu wechseln (vgl. § 204
Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz Nr. 1b VVG) und dabei einen Tarif ohne Selbstbehalt zu wählen (vgl. Allgemeine
Versicherungsbedingungen 2009 für den Basistarif). Ob in einem hier nicht erkennbaren Notfall ein Darlehen nach § 23
Abs. 1 SGB II möglich wäre, das sofort mit bis zu 10 % der Regelleistung zu tilgen wäre, braucht hier nicht
entschieden werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.