Urteil des LSG Bayern vom 17.10.2003

LSG Bayern: krankengeld, ärztliches gutachten, ablauf der frist, krankenkasse, rehabilitation, arbeitsunfähigkeit, erwerbsunfähigkeit, hernie, lumbago, erwerbsfähigkeit

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 17.10.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 18 KR 146/99
Bayerisches Landessozialgericht L 4 KR 101/01
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts München vom 22. Februar 2001 und des
Bescheides vom 9. Juni 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Oktober 1998 verurteilt, dem
Kläger Krankengeld vom 26. Mai bis 29. Juni 1998 zu bezahlen. II. Die Beklagte hat dem Kläger die
außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist der Anspruch auf Krankengeld vom 26.05. bis 29.06.1998.
Der 1943 geborene Kläger war vor seiner 1991 beginnenden Arbeitslosigkeit zuletzt als Schlosser tätig. Er war von der
Beklagten vom 16.02. bis 09.09.1998 wegen Anspruchs auf Krankengeld versichert. Die praktische Ärztin Dr. K.
erstellte am 05.01.1998 eine Erstbescheinigung, mit der sie Arbeitsunfähigkeit vom 05.01.1998 bis voraussichtlich
einschließlich 19.01.1998 wegen Hernie inguinalis (Leistenbruch) attestierte, und am 19.01.1998 eine
Folgebescheinigung über Arbeitsunfähigkeit voraussichtlich bis einschließlich 02.02.1998 wegen Hernie inguinalis und
Lumbago. Mit den Folgebescheinigungen vom 02.02. 1998, 17.02.1998 und 16.03.1998 attestierte sie durchgehende
Arbeitsunfähigkeit wegen der letztgenannten Erkrankungen bis 20.03.1998. Die Beklagte gewährte Krankengeld ab
16.02.1998.
Auf Anfrage der Beklagten gab die Ärztin Dr. K. am 20.02.1998 mit zwei Formblättern Auskunft über den
Gesundheitszustand des Klägers. Sie bescheinigte Arbeitsunfähigkeit bis auf weiteres, gab im ersten Schreiben als
Diagnose "fachärztliche Befunde, klinische Untersuchung" an und es handle sich um eine chronische Erkrankung.
Das Restleistungsvermögen wurde mit "leichte Arbeiten, unterhalbschichtig und im Wechsel stehend und sitzend"
eingestuft; es sei nicht absehbar, ab wann der Versicherte wieder leichte bzw. mittelschwere Tätigkeiten auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten könne. Im zweiten Schreiben wurden als Diagnosen angegeben: LWS-Lumbago,
Hernie inguinalis, psychosomatischer Formenkreis mit endogener Depression und chronische Gastritis. Die Frage der
vorgesehenen Therapie beantwortete die Ärztin mit den Stichworten "physikalisch-medikamentös-operativ". Es
bestehe eine erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit, es sei eine Rehabilitation erforderlich. Sie
empfahl eine "MDK-Einladung".
Die Beklagte erteilte am 11.03.1998 nach Anhörung des Klägers einen Bescheid, mit dem sie die Erwerbsfähigkeit als
erheblich gefährdet oder gemindert bezeichnete. Der Kläger solle innerhalb einer Frist von zehn Wochen ab Erhalt
dieses Schreibens den beigefügten Antrag der Landesversicherungsanstalt Oberbayern über die Beklagte einreichen.
Sie sei nach den gesetzlichen Bestimmungen gehalten, die Krankengeldzahlung solange einzustellen, bis der Antrag
gestellt werde. Die Ärztin Dr. K. bat die Beklagte zunächst telefonisch, den Rehabilitationsantrag zurückzustellen,
erklärte sich aber am 13.05.1998 bereit, den Antrag mit dem Kläger auszufüllen. Die Beklagte erinnerte den Kläger am
25.05.1998 telefonisch noch einmal an die Antragstellung. Er gab an, er habe am 28.05.1998 einen Termin bei der
Ärztin Dr. K ...
Er beantragte mit Schreiben vom 28.05.1998 bei der Beklagten unter Beifügung eines Auszahlscheines Krankengeld.
Er habe aus terminlichen Gründen den Rehabilitationsantrag nicht stellen können; er werde dies nachholen, sobald die
Arztpraxis am 18.06.1998 eröffnet sei.
Mit Bescheid vom 09.06.1998 stellte die Beklagte fest, der Kläger habe bis jetzt keinen Antrag auf Rehabilitation
gestellt, somit werde die Krankengeldzahlung mit dem 25.05.1998 eingestellt.
Mit Schreiben vom 23.06.1998 zeigte er bei der Beklagten die freiwillige Mitgliedschaft an und beantragte erneut
Krankengeld. Er reichte am 30.06.1998 bei ihr den Antrag auf Leistungen zur Rehabilitation für Versicherte der
Landesversicherungsanstalt Oberbayern ein. Die Beklagte gewährte ihm wieder Krankengeld ab 30.06. 1998. Mit
Widerspruch vom 15.07.1998 machte er geltend, die Fristversäumnis bei der Antragstellung sei auf eine
krankheitsbedingte Leistungsunfähigkeit und kurze Konzentrationsschwäche zurückzuführen.
Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 19.10.1998 den Widerspruch zurück. Der Kläger habe den Antrag
auf Rehabilitationsleistungen bis 25.05.1998, dem Ablauf der gesetzten Zehn- Wochen-Frist, nicht gestellt, so dass
die Krankengeldzahlung mit diesem Tag einzustellen gewesen sei.
Der Kläger hat hiergegen beim Sozialgericht München (SG) am 09.03.1999 Klage erhoben. Das SG hat mit Urteil vom
22.02.2001 die Klage unter Bezugnahme auf den Widerspruchsbescheid abgewiesen.
Der Kläger hat mit der Berufung vom 29.06.2001 geltend gemacht, das SG habe einem vergleichbaren Antrag in
einem anderen Rechtsstreit stattgegeben. Seit Juni 1999 sei er schwerbehindert.
Er beantragt sinngemäß, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts München vom 22.02.2001
sowie des Bescheides vom 09.06.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.10.1998 zu verurteilen,
ihm für die Zeit vom 26.05. bis 29.06.1998 Krankengeld zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden die Akten der Beklagten, der LVA
Oberbayern und des Sozialgerichts. Auf den Inhalt dieser Akten und die Sitzungsniederschrift wird im Übrigen Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§ 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Der Wert des
Beschwerdegegenstandes übersteigt 1.000,00 DM (§ 144 Abs.1 Satz 1 Nr.1 SGG a.F.). Das streitige Krankengeld
beträgt nach Angaben der Beklagten 560,66 Euro.
Die Berufung ist begründet.
Der Kläger hat im streitigen Zeitraum vom 26.05. bis 29.06.1998 einen Anspruch auf Krankengeld. Gemäß § 44 Abs.
1 Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankengeld, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig
macht oder sie auf Kosten der Krankenkasse stationär in einem Krankenhaus, einer Vorsorge- und
Rehabilitationseinrichtung behandelt werden. Arbeitsunfähigkeit liegt nach der allgemeinen Begriffsbestimmung der
Rechtsprechung vor, wenn der Versicherte seine zuletzt ausgeübte Erwerbstätigkeit oder eine ähnlich geartete
Tätigkeit nicht mehr oder nur auf die Gefahr hin verrichten kann, seinen Zustand zu verschlimmern (Kassler
Kommentar-Höfler, § 44, Rdnr.10 mit weiteren Hinweisen auf die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
(BSG)).
Aufgrund der beiden Schreiben der praktischen Ärztin Dr. K. vom 20.02.1998 an die Beklagte ist davon auszugehen,
dass der Kläger auch im streitigen Zeitraum wegen LWS-Lumbago, Hernie, chronischer Gastritis und endogener
Depression arbeitsunfähig gewesen ist. Dies wird auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen. Denn sie hat den
Kläger mit Bescheiden vom 11.03.1998 und 09.06.1998 darauf hingewiesen, dass die Krankengeldzahlung solange
eingestellt werde, bis der Antrag auf Leistungen der Rehabilitation gestellt werde.
Die Beklagte beruft sich im vorliegenden Fall zu Unrecht auf den Wegfall des Krankengelds gemäß § 51 Abs.3 i.V.m.
Abs.1 SGB V. Nach dieser Regelung kann die Krankenkasse Versicherten, deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem
Gutachten erheblich gefährdet oder gemindert ist, eine Frist von zehn Wochen setzen, innerhalb der sie einen Antrag
auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu stellen haben (§ 51 Abs.1 SGB V). Stellen Versicherte innerhalb
der Frist den Antrag nicht, entfällt der Anspruch auf Krankengeld mit Ablauf der Frist. Wird der Antrag später gestellt,
lebt der Anspruch auf Krankengeld mit dem Tag der Antragstellung wieder auf (§ 51 Abs.3 SGB V). Sinn und Zweck
dieser Vorschrift ist es, den Übergang vom Krankengeld zu anderen Leistungen, insbesondere zu den Leistungen der
Rentenversicherungsträger zu regeln. § 51 Abs.1 SGB V soll im Interesse der Versicherten und der
Versichertengemeinschaft die Rehabilitationszwecke fördern. Bei Abs.3 handelt es sich auch um eine
Schutzvorschrift zu Gunsten der Krankenkassen, die mit dem Krankengeld die höhere Leistung gewährt haben. Da die
Leistungen der Rentenversicherungsträger antragsabhängig sind, benötigen die Krankenkassen die Vorschrift des §
51 SGB V, um sich von der Leistungspflicht befreien zu können (Kassler Kommentar-Höfler, § 51, Rdnr.2 mit weiteren
Nachweisen).
Nach § 51 Abs.1 Satz 1 SGB V setzt die Fristsetzung durch die Krankenkasse voraus, dass ein ärztliches Gutachten
vorliegt. Nach allgemeinem Sprachgebrauch und wegen der Funktion des ärztlichen Gutachtens innerhalb des § 51
SGB V, mit dem eine Grundlage für die Fristsetzung geschaffen werden soll, erfüllen bloße Atteste oder
Bescheinigungen die an ein ärztliches Gutachten zu stellenden begrifflichen Anforderungen nicht. Das
Bundessozialgericht (BSG) hat mit Urteil vom 07.08.1991 (BSGE 69, 187) zu der entsprechenden Vorschrift im alten
Recht (§ 183 Abs.7 Satz 1 Reichsversicherungsordnung) entschieden, dass eine ärztliche Stellungnahme nur dann
ein Gutachten ist, wenn darin - jedenfalls summarisch - die erhobenen Befunde wiedergegeben werden und sich der
Arzt - soweit es sich um ein sozialmedizinisches Gutachten handelt - zu den nach seiner Auffassung durch die
festgestellten Gesundheitsstörungen bedingten Leistungseinschränkungen und ihrer voraussichtlichen Dauer äußert.
Dies ergibt sich nach Auffassung des BSG auch aus der Funktion des ärztlichen Gutachtens im Rahmen der
Vorschrift. Es soll als Grundlage für die Verwaltungsentscheidung der Krankenkasse dienen, ob dem Erkrankten
wegen Erwerbsunfähigkeit eine Frist zur Beantragung von Rehabilitationsmaßnahmen gesetzt werden kann. Deshalb
hat es alle medizinischen Gesichtspunkte zu enthalten, die die Beurteilung zulassen, ob Erwerbsunfähigkeit
anzunehmen ist oder nicht. Diese Entscheidung, die rechtlicher Natur ist, obliegt der Krankenkasse und nicht dem
Arzt. Da die Rechtmäßigkeit der Fristsetzung aber auch von dem Inhalt des Gutachtens abhängt, muss dieses aus
sich heraus verständlich und für diejenigen, die die Verwaltungsentscheidung möglicherweise überprüfen,
nachvollziehbar sein. Dies wäre aber nicht gewährleistet, wenn der Arzt sich darauf beschränken würde, nur das
Ergebnis seiner Überlegungen in der Form mitzuteilen, dass er Erwerbsunfähigkeit bejaht.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Krankenkasse, selbst wenn sie aufgrund des ärztlichen Gutachtens
Erwerbsunfähigkeit bejaht, nicht verpflichtet ist, dem Versicherten stets eine Frist zur Stellung des
Rehabilitationsantrages zu setzen. Sie hat insoweit einen Ermessensspielraum. Daher muss sie alle Umstände des
Einzelfalles sorgfältig abwägen und sich insbesondere bewußt sein, dass die Verwaltungsentscheidung nicht nur zum
Wegfall des Krankengeldanspruches führen und die Kassenmitgliedschaft beenden kann, sondern für den
Versicherten darüber hinaus in der Regel entscheidende Bedeutung hat. Konsequenz des Vorgehens der
Krankenkasse kann für den Versicherten ein Ausscheiden aus dem Berufsleben und der Verlust des Arbeitsplatzes
sein. Diese sorgfältige Abwägung der genannten Umstände ist aber nur möglich, wenn der Krankenkasse eine
fundierte ärztliche Stellungnahme, also ein Gutachten mit Befunden, Diagnose und eingehender Beurteilung des
Leistungsvermögens vorliegt.
Dies ist hier nicht der Fall. Die Schreiben von Dr. K. enthalten als medizinisch verwertbare Tatsachen lediglich die
zum Teil schon bekannten Diagnosen und den Hinweis auf einen chronischen Verlauf der Erkrankung. Medizinische
Befunde und konkrete Angaben über die Funktionseinschränkungen werden nicht mitgeteilt. Sie hat offensichtlich
auch von anderen Ärzten erhobene Befunde nicht beigefügt, sondern stattdessen eine Begutachtung durch den
Medizinischen Dienst der Krankenversicherung empfohlen. Dem ist jedoch die Beklagte nicht nachgekommen, so
dass außer den angegebenen Diagnosen und des pauschalen Hinweises auf eine physikalische, medikamentöse und
operative Therapie konkret verwertbare medizinische Sachverhalte nicht mitgeteilt worden sind. Hierbei ist es
unerheblich, ob dass Fehlen von Befunden unter Angabe der durch die Gesundheitsstörungen bedingten
Leistungseinschränkungen auf die unzureichende Befunderhebung oder Mitteilung durch die Ärztin oder auf den als
Formular konzipierten Fragebogen der Beklagten zurückzuführen ist.
Da es im vorliegenden Fall an einem Gutachten im Sinne des § 51 Abs.1 SGB V fehlt, läßt sich die Richtigkeit der
ärztlichen Äußerung nicht überprüfen. Damit hat die Beklagte dem Kläger ermessensfehlerhaft eine Frist zur Stellung
eines Antrages auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gesetzt mit der Folge, dass der Anspruch auf das
Krankengeld nicht entfallen ist (§ 51 Abs.3 SGB V).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs.2 Nr.1, 2 SGG).