Urteil des LSG Bayern vom 05.11.2002
LSG Bayern: eltern, enzephalitis, schutzimpfung, autismus, psychoorganisches syndrom, versorgung, geistige behinderung, sicherheit, befragung, kinderarzt
Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 05.11.2002 (rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 16 VJ 1/99
Bayerisches Landessozialgericht L 15 VJ 4/00
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 30. Mai 2000 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. III. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger im Zusammenhang mit einer am 27.09.1989 stattgefundenen Masern-
Mumps-Schutzimpfung Versorgung nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG) in entsprechender Anwendung der
Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zusteht.
Der am 1988 geborene Kläger wurde am 27.09.1989, also im Alter von 16 Monaten und 3 Wochen, gegen Masern und
Mumps geimpft.
Mit Schreiben vom 28.11.1994 (eingegangen bei der Stadt G. am 29.11., beim Beklagten am 02.12.1994) beantragten
die Eltern des Klägers für diesen Versorgung nach dem BSeuchG: Der Kläger habe sich nach normaler Geburt bis zu
der Masern-Mumps-Impfung körperlich und geistig regelrecht entwickelt. Ca. 14 Tage nach dieser Impfung, die mit
dem zwischenzeitlich aus dem Verkehr genommenen Impfstoff "Rimparix" durchgeführt worden sei, seien gravierende
Verhaltensänderungen (Zittern am ganzen Körper, extreme Ängstlichkeit, Rückzug von Außenkontakten) und in der
Folge ein massiver Entwicklungsknick (Verlust motorischer Fähigkeiten, intellektueller Rückschritt) eingetreten. Die
nunmehr bestehenden Gesundheitsstörungen in Gestalt von Autismus, massiven Wahrnehmungsstörungen aller
Sinne und stark verzögerter/stagnierender psychomotorischer Entwicklung stellten Impfschadensfolgen dar und
begründeten den Anspruch auf Versorgung.
Der Beklagte zog u.a. die Schwerbehindertenakte des Klägers (festgestellte Behinderungen: psycho-motorische
Entwicklungsverzögerung sowie Verhaltens- und Wahrnehmungsstörungen; GdB 100; Merkzeichen "B", "G", "H",
"RF") bei, holte eine Vielzahl von ärztlichen Berichten ein und veranlasste die Befragung der Eltern des Klägers durch
die Versorgungsärztin Dr.H. (Versorgungsamt Nürnberg). Die Eltern gaben dabei am 23.04.1996 u.a. Folgendes an:
Eine knappe Woche nach der Impfung erkrankte der Kläger an einem leichten Exanthem mit leicht erhöhter
Körpertemperatur ca. 38 ° bis 38,5 °. Hautausschlag und erhöhte Temperatur hielten etwa zwei Tage an. In dieser
Zeit fühlte sich der Kläger etwas schlapp. Ein Arztbesuch erfolgte nicht. Zwischen dem 08. und 10.10.1989 fanden die
Eltern den Kläger nachts zitternd in seinem Bett sitzen. Sie nahmen ihn zu sich, das Zittern dauerte noch ca. drei bis
fünf Minuten. Die Eltern hatten eine gewisse Unruhe im Zimmer des Kindes bemerkt und aus diesem Grund nach ihm
geschaut. Der Kläger weinte oder schrie nicht und äußerte sich auch nicht auf Fragen. Ab diesem Zeitpunkt zog sich
der Kläger zurück, wollte nur noch auf den Schoß der Mutter und nicht mehr mit anderen Kindern spielen. Der
Zeitpunkt dieses Ereignisses ist genau bekannt, da der Bruder des Klägers am 12.10. seinen Geburtstag feierte. Am
14.10.1989 wollte der Kläger auf einem Abenteuerspielplatz seinen Buggy nicht mehr verlassen, er wehrte sich lebhaft
und schrie laut. Er nahm an diesem Tag auch keinen Kontakt zu seinen zu Besuch weilenden Großeltern auf. Zu
dieser Zeit fing er auf der Straße zu stolpern an. Er hörte auf zu spielen, fast vollständig zu sprechen und zeigte nur
noch zunehmend monotones Verhalten. Er verlernte viele ihm geläufige Tätigkeiten, z.B. das Schneuzen der Nase,
das Trinken mit dem Strohhalm, was er vor der Impfung beherrscht hatte. Vor der Impfung war der Kläger imstande
gewesen, Tiere zu benennen und zum Teil nachzuahmen, auch kleine Liedchen nachzusingen. Diese Fähigkeiten
gingen kurz nach der Impfung verloren, und zwar zunehmend. Mit Schreiben vom 24.04.1996 baten die Eltern um
Berichtigung des Protokolls über die Befragung vom 23.04.1996: Sie seien nicht sicher, ob sie den Kläger in der
betreffenden Nacht, als das Zittern auftrat, wie angegeben sitzend oder aber liegend in seinem Bett vorgefunden
hätten. Anlässlich der Befragung am 23.04.1996 legten die Eltern des Klägers u.a. das "Untersuchungsheft für Kinder"
sowie eine Kopie der von dem Kinderarzt Dr.N. geführten Patientenkarte des Klägers vor. Die von Dr.N. am
10.05.1990 durchgeführte Früherkennungsuntersuchung U 7 enthält bei "erfragte Befunde" keine Eintragungen - auch
nicht bei den Punkten zur altersgemäßen Sprache - und beschreibt die erhobenen Befunde als "unauffällig". Die
Patientenkarte enthält zum gleichen Datum die Eintragungen "alles o.B." sowie "verz. Sprachentwicklung".
In einem auf Veranlassung des Beklagten am 15.01.1997 erstatteten versorgungsärztlichen Gutachten vertrat der
Neurologe und Psychiater Dr.W. die Auffassung, die beim Kläger bestehenden Gesundheitsstörungen (geistige
Behinderung mit Verhaltensstörungen, Harn- und Stuhlinkontinenz, Sprachstörung, Koordinationsstörungen der Arme
und Beine mit muskelhypotoner Schwäche) seien wahrscheinlich eine Folge der Masern-Mumps-Schutzimpfung vom
27.09.1989. Dem widersprache Prof.Dr.M. in einer auf Veranlassung des Beklagten erstatteten gutachtlichen
Stellungnahme vom 18.08. 1997. Seiner Auffassung nach fehlten Hinweise auf eine akut-entzündliche Erkrankung des
Zentralnervensystems im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung. Die Ursache der Entwicklungsverzögerung und
der Verhaltensstörung sei ungeklärt. Der Kinderarzt Dr.S. schloss sich dem in der versorgungsärztlichen
Stellungnahme vom 06.10.1997 an.
Mit Bescheid vom 23.10.1997 lehnte es der Beklagte ab, dem Kläger Versorgung nach dem BSeuchG zu gewähren.
Er stützte sich dabei auf die Stellungnahmen von Prof.Dr.M. und Dr.S ...
Auf den Widerspruch des Klägers holte der Beklagte u.a. eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Neurologen
und Psychiaters Dr.M. vom 07.04.1998 ein. Der Sachverständige vertrat die Auffassung, auch eine blande bzw.
symptomarme Enzephalopathie oder Enzephalitis nach der Impfung sei nicht nachzuweisen. Im Übrigen sei nach
einer blanden Enzephalopathie nicht mit einem sehr schweren Hirnschaden zu rechnen. Bei einem schweren
psychopathologischen Befund, wie er beim Kläger bestehe, hätten außerdem zentral-neurologische Abweichungen,
EEG-Veränderungen und neuroradiologische Auffälligkeiten festgestellt werden müssen, was jedoch nicht der Fall
gewesen sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 29.10.1998 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Es fehle bereits am Nachweis
eines Impfschadens, d.h. einer über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden Gesundheitsstörung. Nach
den maßgeblichen "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und im
Schwerbehindertenrecht" (AHP) kämen als Impfschäden nach einer Masern-Schutz-Impfung entzündliche
Erkrankungen des Zentralnervensystems in Betracht, wenn sie innerhalb von sieben bis 14 Tagen nach der Impfung
aufgetreten seien, eine Antikörperbildung nachweisbar sei und andere Ursachen der Erkrankung ausschieden. Die
zeitnahen ärztlichen Unterlagen enthielten keinerlei Feststellungen über die für eine Enzephalitis typischen Symptome
wie Temperaturanstieg mit Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit, epileptische Anfälle, Bewusstseinstrübung (oft
zunächst mit Unruhe), zentrale Lähmungen und cerebelläre Koordinationsstörungen. Das von den Eltern geschilderte
einmalige Zittern des Klägers sei vieldeutig und könne nicht als Impfkomplikation im Sinne einer Enzephalopathie
angesehen werden. Außerdem sei in verschiedenen ärztlichen Berichten dargelegt, dass das Kontaktverhalten des
Klägers bis zum 18. Lebensmonat, d.h. bis November 1989, unauffällig gewesen sei. Ein zu diesem Zeitpunkt
aufgetretener Entwicklungsrückstand habe nichts mehr mit der Impfung vom 27.09.1989 zu tun. Das erst später
einsetzende schwere psychopathologische Krankheitsbild des Klägers sei Ausdruck eines frühkindlichen Autismus,
der bei den unauffälligen neurologischen, neurophysiologischen und neuroradiologischen Befunden mit der Impfung
nicht in Zusammenhang gebracht werden könne.
Mit der dagegen erhobenen Klage hat der Kläger u.a. geltend gemacht, es seien ausreichende Hinweise für das
Vorliegen einer Enzephalopathie oder Enzephalitis vorhanden. Das Zittern könne auch ein Krampfanfall gewesen sein.
In Verbindung mit dem zeitnahen Entwicklungsknick und den weiteren pseudopsychotischen Symptomen beweise
dies das Auftreten eines Impfschadens in Gestalt einer Erkrankung des Zentralnervensystems. Die nunmehr
vorliegenden massiven Gesundheitsstörungen seien dessen wahrscheinliche Folge.
Das Sozialgericht hat u.a. die den Kläger betreffende Versorgungsakte (BSeuchG) und Schwerbehindertenakte des
Beklagten, den einschlägigen Mutterpass, die Krankenunterlagen des Klinikums A. sowie der Psychiatrischen Klinik
der Universität E. und ärztliche Unterlagen des Dr.N. beigezogen.
Im Auftrag des Sozialgerichts hat der Kinderarzt Prof.Dr.K. am 29.08.1999/04.04.2000 ein Gutachten nach ambulanter
Untersuchung des Klägers und anamnestischer Befragung der Eltern erstattet. Der Sachverständige gelangte darin zu
der Auffassung, das nächtliche Zittern des Klägers zwischen dem 08. und 10.10. 1989 nebst anschließendem
deutlichen Entwicklungsknick ließe, soweit die diesbezüglichen anamnestischen Angaben der Eltern als zutreffend
angesehen würden, mit Sicherheit den Rückschluss auf eine damals aufgetretene postvakzinale Enzephalitis zu. Bei
dem für die Schutzimpfung gegen Masern verwendeten Impfstoff habe es sich um Lebendviren gehandelt, bei deren
Verwendung ein derartiger Impfschaden auftreten könne. Die postvakzinale Inkubationszeit sei gewahrt gewesen. Ein
frühkindlicher Autismus im engeren Sinn, wie er von der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität E. im Mai 1995
in die Diskussion eingeführt worden sei und bei dem es sich um ein nicht mit der Impfung in Zusammenhang zu
bringendes Krankheitsbild handeln würde, liege mit Sicherheit nicht vor. Entgegen den neuroradiologischen
Befundungen zeigten die 1991 und 1992 gefertigten Computer- und Kernspintomographien des Schädels eine leicht
verminderte Hirnmasse als weiteres Indiz der Enzephalitis.
Der Beklagte hat sich hierzu unter Vorlage einer gutachtlichen Stellungnahme des Arztes für Mikrobiologie und Kinder-
/Jugendmedizin Prof.Dr.S. vom 02.01.2000 geäußert. Prof. Dr.S. hielt eine während der postvakzinalen
Inkubationszeit aufgetretene Enzephalitis nicht für bewiesen und ordnete die Gesundheitsstörungen des Klägers
einem eigenständigen, impfunabhängigen Krankheitsbild im Sinne eines frühkindlichen psychoorganischen Syndroms
(Ruf-Bächtiger) zu.
In der mündlichen Verhandlung vom 30.05.2000 hat das Sozialgericht die Großeltern des Klägers O. und M. S. , R.
und L. W. sowie die Eltern des Klägers A. und Dr.J. W. als Zeugen zu dem Beweisthema "Gesundheitszustand des
Klägers in den Jahren 1988 und 1989" vernommen.
Mit Urteil vom 30.05.2000 hat das Sozialgericht den Beklagten verpflichtet, mit Wirkung ab November 1994 beim
Kläger einen "Hirnschaden mit Intelligenzdefekt, mit Sprachstörung, Wahrnehmungsstörungen, hirnorganischen
Verhaltensstörungen und mit geringen motorischen Störungen" als Folge eines Impfschadens im Sinne der
Entstehung anzuerkennen und Versorgung nach einer MdE um 100 v.H. zu gewähren: Durch die glaubhaften
Aussagen der Zeugen sei bewiesen, dass sich der Kläger bis zu der Masern-Mumps-Schutzimpfung vom 27.09.1989
körperlich und geistig altersentsprechend entwickelt hätte und zeitnah zu der Impfung ein deutlicher
Entwicklungsknick aufgetreten sei. Zusammen mit dem von den Eltern des Klägers glaubhaft bestätigten nächtlichen
Zittern zwischen dem 08. und 10.10.1989, das als enzephalitisches Symptom bzw. als sogenannter Initialkrampf
anzusehen sei, beweise dies mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Auftreten einer Enzephalitis
innerhalb der postvakzinalen Inkubationszeit und damit einen Impfschaden. Entgegen dem Einwand des Beklagten
müsse eine Enzephalitis nicht zwingend mit Temperaturanstieg, Nackensteifigkeit, epileptischen Anfällen,
Bewusstseinstrübung, zentralen Lähmungen und ähnlichen gravierenden Symptomen einhergehen. Gerade im
Säuglings- und frühesten Kleinkindalter pflege, wie der Sachverständige Prof.Dr.K. dargelegt habe, die Mehrzahl der
Enzephalitiden keineswegs mit diesen dramatischen Symptomen zu verlaufen. Ein genuiner Autismus sei beim
Kläger ebenso auszuschließen wie ein frühkindliches psychoorganisches Syndrom (Ruf-Bächtiger). Da auch sonst
keine Ursachen für die streitigen Gesundheitsstörungen des Klägers zu finden seien, bestehe kein Zweifel an deren
wahrscheinlichem Zusammenhang mit der postvakzinalen Enzephalitis. Es sei auch nicht ausgeschlossen, dass bei
Akutereignissen, wie dem nächtlichen Zittern des Klägers im Oktober 1989, die bei den Eltern zunächst nur einen
mäßigen Eindruck hinterlassen hätten, der Dauerschaden trotzdem erheblich sein könne. Die Minderung der
Erwerbsfähigkeit (MdE) sei nach der überzeugenden Beurteilung des Sachverständigen Prof.Dr.K. mit 100 v.H. zu
bewerten und entsprechend seit dem Monat der Antragstellung Versorgung zu gewähren.
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte unter Vorlage eines in seinem Auftrag von Prof.Dr.K. (Universitäts-Kinderklinik
W.) am 03.01.2001 erstatteten Gutachtens Berufung eingelegt: Bei dem nächtlichen Körperzittern könne es sich
anstatt eines cerebralen Krampfanfalles im Rahmen einer Impfenzephalitis ebenso gut um sogenannte
Schlafmyoklonien (physiologische Muskelzuckungen im Schlaf) oder myoklonische Syndrome gehandelt haben, die
bei einer großen Zahl neurometabolischer und degenerativer Erkrankungen vorkämen. Das seinerzeitige Zittern des
Klägers sei vieldeutig. Der sichere Nachweis einer postvakzinalen Enzephalitis sei nicht erbracht. Im Übrigen sei das
Vorliegen eines genuinen, nicht mit der Schutzimpfung in Zusammenhang stehenden Autismus beim Kläger nicht
ausgeschlossen. Prof. Dr.K. sei als Pädiater (Kinderarzt) für diesen Ausschluss, der eine kinderpsychiatrische
Beurteilung verlange, nicht kompetent. Ähnliches gelte für die durch Prof.Dr.K. erfolgte Auswertung der kraniellen
Computer- und Kernspintomographien und die dabei von ihm im Unterschied zu den neuroradiologischen
Auswertungen festgestellte Minderung der Hirnmasse. Begriffe wie "blande Enzephalopathie" und "Entwicklungsknick"
seien im Übrigen Relikte aus der Zeit der gesetzlichen Pocken-Schutzimpfung. Sie dürften nicht unkritisch auf andere
Impfungen übertragen werden und würden in den AHP auch nur unter der Rubrik "Pocken-Schutzimpfung" aufgeführt.
Der Senat hat die den Kläger betreffende Versorgungsakte (BSeuchG) des Beklagten beigezogen und eine
ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Prof.Dr.K. vom 22.07.2001 eingeholt. In Erwiderung auf das vom
Beklagten vorgelegte Gutachten des Prof.Dr.K. hat der Sachverständige u.a. dargelegt, dass der Eintritt eines
Entwicklungsknicks gerade bei symptomarmen Enzephalitiden ein wichtiges Diagnosekriterium sei. Dieses sei auch
nicht nur für den Bereich der Pockenschutzimpfung relevant, sondern gelte für alle Enzephalitiden, gleich welcher
Ursache. Dass beim Kläger kein genuiner Autismus vorliege, sei aufgrund der Feststellungen während der ambulanten
Untersuchung des Klägers und wegen verschiedener weiterer Tatsachen so offensichtlich, dass hierfür eine
kinderpsychiatrische Begutachtung nicht erforderlich erscheine; im Übrigen befinde sich in den Akten ein Bericht des
Kinderpsychiaters Prof.Dr.W. , der bereits 1995 nach Untersuchung des Klägers bei diesem einen genuinen Autismus
ausgeschlossen habe. Im Übrigen sei es eine alte pädiatrische Erfahrung, dass Röntgenbilder und andere bildgebende
Darstellungen, sofern von Kollegen aus der Erwachsenenmedizin befundet, pädiatrisch nachbefundet werden sollten.
Dies habe er getan. Dabei habe sich die ebenfalls alte Erfahrung bestätigt, dass im Falle hirngeschädigter Kinder
diskretere e-vacuo-Mechanismen, aus denen auf eine Minderung der Hirnmasse zu schließen sei, übersehen bzw.
wenig beachtet würden. Entscheidungserhebliche Bedeutung käme dem seiner Auffassung nach aber nicht zu, weil
es, wie allseits bekannt, genügend Hirnschäden ohne pathologische CT-bzw. MRT-Befunde gäbe.
Der Beklagte hat sich hierzu unter Vorlage einer weiteren Stellungnahme des Prof.Dr.K. vom 10.12.2001 geäußert.
Der Kläger hat einen Bericht der Gemeinschaftspraxis für Laboratoriumsmedizin und Mikrobiologie Dr.B. vom
26.06.2002 vorgelegt, in dem als Resultat einer bei ihm durchgeführten Bestimmung von Masern-Antikörpern ein Wert
von 1.000 festgestellt und ausgeführt ist, Werte über 500 seien als positiv im Sinn einer bestehenden Immunität
gegen Masern zu werten.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 30.05.2000 aufzuheben und die Klage gegen den
Bescheid vom 23.10.1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.10.1998 abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung des Beklagten zurückzuweisen, weil das angefochtene Urteil der Sach- und
Rechtslage entspreche.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie
auf den Inhalt der zu Beweiszwecken beigezogenen Akten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist zulässig (§§ 143, 151 SGG). Sie ist jedoch nicht
begründet.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger aus Anlass des bei diesem
bestehenden Hirnschadens mit Intelligenzdefekt, Sprachstörung, Wahrnehmungsstörungen, hirnorganischen
Verhaltensstörungen und geringen motorischen Störungen Versorgung nach einer MdE von 100 v.H. zu gewähren.
Das ist dann der Fall, wenn es sich bei diesen Gesundheitsstörungen um Folgen der Masern-Mumps-Schutzimpfung
vom 27.09.1989 handelt.
Dies hat das Sozialgericht mit Recht bejaht.
Nach § 51 Abs.1 des - seit 01.01.2001 durch das hier noch nicht einschlägige Infektionsschutzgesetz (IfSG)
ersetzten - BSeuchG i.V.m. dem BVG erhält derjenige, der durch eine Impfung, die u.a. gesetzlich vorgeschrieben ist,
einen Impfschaden erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des Impfschadens auf Antrag
Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Voraussetzung im Einzelnen dafür ist, dass die
vorgeschriebene Impfung die Gesundheitsstörungen wahrscheinlich verursacht hat. Wahrscheinlich in diesem Sinn ist
die Kausalität dann, wenn wenigstens mehr für als gegen sie spricht, d.h., die für den Zusammenhang sprechenden
Umstände mindestens deutlich überwiegen. Die Impfung als schädigende Einwirkung, der Impfschaden - das ist ein
über die übliche Impfreaktion hinausgehender Gesundheitsschaden - und die Schädigungsfolge (Dauerleiden) müssen
nachgewiesen, nicht nur wahrscheinlich sein (BSG, 19.03.1986, 9a RV 2/84, und 26.06.1985, 9a RVi 3/83 = BSG,
SozR 3850 Nr.9 und 8).
Diese Voraussetzungen sind erfüllt.
Bei der Masern-Mumps-Schutzimpfung, der sich der Kläger am 27.09.1989 unterzog, hat es sich unstreitig um eine
gesetzlich vorgeschriebene Impfung gehandelt.
Auch der Nachweis eines Impfschadens ist vor allem durch die umfangreichen Ermittlungen des Sozialgerichts mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erbracht.
In Übereinstimmung mit diesem hält es der Senat für gesichert, dass der Kläger innerhalb der für eine Schutzimpfung
mit Masern-Lebendviren geltenden Inkubationszeit von sieben bis 14 Tagen eine akut-entzündliche Erkrankung des
Zentralnerven- systems (ZNS) in Gestalt einer Enzephalitis durchgemacht hat (vgl. AHP 1996 S.231). Gemäß den
schlüssigen und überzeugenden Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Prof.Dr.K. (Gutachten vom
29.08.1999/04.04.2000/22.07.2001) kann aufgrund des nachts zwischen dem 08. und 10.10.1989 aufgetretenen
Zitterns des Klägers in Kombination mit dem zeitgleich aufgetretenen Entwicklungsknick in der Rückschau mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf eine damals ablaufende entzündliche Erkrankung des ZNS geschlossen
werden. Das etwa fünf Minuten dauernde nächtliche Zittern des Klägers am ganzen Körper, bei dem der Kläger nicht
ansprechbar, nicht wach und nicht erweckbar gewesen ist, auch nicht geweint sowie kein angstverzerrtes Gesicht,
keine abwehrende Haltung oder windende Bewegungen gezeigt hat, hält der Senat - auch hinsichtlich des Zeitpunktes
- aufgrund der Angaben der Eltern gegenüber dem Beklagten (Dr.H. , 23.04.1996) und dem Sachverständigen
Prof.Dr.K. sowie aufgrund der Aussagen der Eltern vor dem Sozialgericht für bewiesen (s. hierzu auch BSG,
19.03.1986, 9a RVi 4/84; 15.08.1996, 9 RVi 1/94). In der Zusammenschau mit dem von den Eltern und Großeltern als
Zeugen glaubhaft bekundeten zeitgleichen Entwicklungsknick ist dieses Zittern als typisches Symptom einer
Enzephalitis anzusehen. Dies umso mehr, als andere Ursachen für dieses Zittern - auch die von Prof.Dr.K. in
Erwägung gezogene Schlafmyoklonie bzw. myoklonischen Syndrome - aufgrund der überzeugenden und schlüssigen
Ausführungen des Sachverständigen Prof.Dr.K. ausgeschlossen erscheinen. Wie Prof.Dr.K. dargelegt hat, lassen
sich die von allen Zeugen detailliert geschilderten Verhaltensänderungen/-auffälligkeiten des Klägers ab dem Tag nach
dem nächtlichen Zittern zwanglos mit einer entzündlichen Erkrankung des ZNS erklären; sie entsprechen aus
kinderklinischer Perspektive in ihrem Symptommuster ebenso wie in ihrer Akuität voll und ganz einer akuten
Enzephalitis. Aufgrund der Zeugenaussagen und auch nach Aktenlage besteht kein Zweifel, dass die körperliche und
geistige Entwicklung des Klägers bis zu der Impfung vom 27.09.1989 normal und altersentsprechend war. Gegen den
von den Zeugen übereinstimmend bekundeten Zeitpunkt des Eintritts des Entwicklungsknicks beim Kläger spricht
auch nicht die von Dr.N. als unauffällig deklarierte Früherkennungsuntersuchung (U 7) vom 10.05.1990. Denn unter
dem gleichen Datum ist in der von diesem Arzt geführten Patientenkarte des Klägers "verzögerte Sprachentwicklung"
eingetragen. Auch wurden die ab Oktober 1989 beobachteten Auffälligkeiten anfänglich auf vermutete Hörstörungen
wegen rezidivierender Infekte zurückgeführt und Anfang 1990 HNO-ärztlich behandelt; dies allerdings ohne
Auswirkungen auf das Verhalten des Klägers. Die zeitliche Bestimmung des Eintrittes des Entwicklungsknicks beim
Kläger auf Oktober 1989 ergibt sich mit Ausnahme eines Berichts der Kinderklinik A. vom 18.01.1991 aus allen
sonstigen medizinischen Unterlagen. Die zum Teil damit nicht übereinstimmenden Angaben im Bericht der
Kinderklinik A. erklären sich, wie das Sozialgericht zutreffend dargelegt hat, aus erkennbaren Unkorrektheiten in der in
der Kinderklinik A. durchgeführten Anamneseerhebung.
Die von den AHP (a.a.O.) geforderte Antikörperbildung gegen Masernviren, die von Prof.Dr.K. und dem Sozialgericht
noch aus den von den Eltern durchgängig angegebenen Impfmasern abgeleitet wurde, ist mittlerweile durch das
Ergebnis der entsprechenden Laboruntersuchung vom 26.06.2002 bestätigt.
Die zwischen dem 08. und 10.10.1989 aufgetretene Enzephalitis ist innerhalb der Inkubationszeit nach der Impfung
mit Masern-Lebendviren aufgetreten und stellt deshalb einen Impfschaden dar. Der in der Folgezeit festgestellte
Hirnschaden des Klägers mit Intelligenzdefekt und vielfältigen Störungen ist auch, wie Prof.Dr.K. schlüssig und
überzeugend dargelegt hat, eine wahrscheinliche Folge der postvakzinalen Enzephalitis. Ein anderer Grund für diese
schweren, eine MdE von 100 v.H. bedingenden Gesundheitsstörungen ist nicht ersichtlich. Insbesondere liegt der von
Seiten des Beklagten und dessen Sachverständigen in die Diskussion gebrachte genuine Autismus beim Kläger nicht
vor. Dies ergibt sich aus den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof.Dr.K. , der
den Kläger ausführlich untersucht und beobachtet hat. Nach den Ausführungen dieses Sachverständigen ist es - u.a.
aufgrund des Kommunikationsverhaltens des Klägers und seiner guten Zuwendungsfähigkeit - so offensichtlich, dass
bei diesem kein genuiner Autismus, sondern ein Hirnschaden mit allenfalls leichten autistischen Zügen vorliegt, dass
für diese Diagnose ein eigenes psychiatrisches Fachgutachten nicht erforderlich ist. Im Übrigen befinden sich in den
Akten Berichte des Kinderpsychiaters Prof.Dr.W. (28.01./23.09.1995), der den Kläger mehrmals ambulant untersucht
hat, in denen ein genuiner Autismus beim Kläger ebenfalls ausgeschlossen wird.
Zwar ist in den AHP (1996, S.229; 1983, S.184) - bei den Ausführungen zur Pockenschutzimpfung, die nach
Prof.Dr.K. auf den hier vorliegenden Fall einer Enzephalitis nach Masern-Schutzimpfung übertragbar sind - erwähnt,
dass in der Regel eine Parallelität zwischen dem Schweregrad des Symptombildes der postvakzinalen
Enzephalopathie (bzw. Enzephalitis) und dem Ausmaß der Folgen bestehe. Prof.Dr.K. hat aber schlüssig dargelegt,
dass es sich hier um eine Regel handelt, von der Ausnahmen möglich und auch nach seiner Erfahrung bekannt seien,
und dass es sich hier um einen derartigen Ausnahmefall handle. Der Sachverständige hat darüber hinaus auch
klargestellt, dass - wie immer bei Schädigungen in der frühkindlichen Periode - die volle funktionelle Konsequenz des
Hirnschadens sich erst mit zunehmenden Alter und zunehmender Entwicklungsdistanz zu gesunden Altersgenossen
herausgestellt hat, von einer Progredienz der hirnorganischen Störungen (vgl. AHP 1996, S.229) beim Kläger aber
nicht die Rede sein könne.
Die vom Beklagten (Prof.Dr.K.) schriftsätzlich mit der Begründung, Prof.Dr.K. sei für eine Nachbefundung der in den
Jahren 1991/92 gefertigten kranialen CT und MRT nicht kompetent, angeregte Einholung eines diesbezüglichen
neuroradiologischen Gutachtens ist nicht zwingend veranlasst. Denn die Frage, ob beim Kläger eine etwas reduzierte
Hirnmasse vorliegt (dies entnimmt Prof.Dr.K. den CT bzw. MRT), ist nicht entscheidungserheblich, da Enzephalitiden
nur zum Teil zu einer Reduktion der Hirnmasse führen und der Senat eine während der Inkubationszeit aufgetretene
Enzephalitis bereits aus den oben dargelegten Gründen für gesichert hält.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg musste nach alldem zurückgewiesen
werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Zur Zulassung der Revision besteht kein Anlass, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG nicht
vorliegen.