Urteil des LSG Bayern vom 18.11.2010

LSG Bayern: psychotherapeutische behandlung, hauptsache, physiotherapie, erlass, psychotherapie, krankengymnastik, pflegebedürftigkeit, rollstuhl, rechtsschutz, zivilprozessordnung

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 18.11.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 9 U 54/10 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 3 U 191/10 B ER
I. Die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 30.03.2010 wird
zurückgewiesen.
II. Die Beschwerdeführerin hat der Beschwerdegegnerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des
Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe:
I. Zwischen den Beteiligten ist die Verpflichtung der Beschwerdeführerin (Bf.) im einstweiligen Rechtsschutzverfahren
zur Gewährung der Pflegekosten abzüglich der von der Pflegeversicherung zu zahlenden Leistungen über den
31.12.2009 hinaus bis 31.12.2010 einerseits sowie der Kosten für zweimal wöchentlich eine Stunde Physiotherapie für
das Toilettentraining und für einmal wöchentlich eine Stunde Psychotherapie zur Angstbewältigung im selben
Zeitraum andererseits streitig.
Die 1967 geborene Beschwerdegegnerin (Bg.) leidet an einer seit 1972 festgestellten spinalen Muskelatrophie Typ
Kugelberg Welander IIIb, sie ist seit dem elften Lebensjahr auf einen Rollstuhl angewiesen.
Am 06.09.2000 erlitt sie einen Unfall, bei dem sie mit ihrem Rollstuhl eine Treppe hinabstürzte. Unfallfolge war eine
distale Femur-Fraktur rechts. Die Versorgung erfolgte mittels retrograd eingebrachten Femur-Nagels. Zwischen den
Beteiligten ist die Kniestandsfähigkeit der Bf. vor dem streitgegenständlichen Unfall unstreitig, welche für sie von
erheblicher Bedeutung ist, da sie hierüber eigenständige Transferbewegungen wie zum Beispiel den Toilettengang und
das Ankleiden usw. zu bewältigen vermochte. In einem im Auftrag der Bf. erstellten unfallchirurgischen Gutachten
vom 27.08.2007 wurde darauf hingewiesen, ein Kniestand sei auf Grund der Unfallfolgen an den rechten unteren
Gliedmaßen auch bei einer Muskelgesunden nicht mehr möglich. Insbesondere war streitig, ob der Bg. der Kniestand
auf Grund der Grunderkrankung überhaupt noch möglich gewesen wäre.
Die vom Sozialgericht (SG) im Verfahren S 30 U 583/07 beauftragte Sachverständige Frau Dr. P. hat in ihrem
Gutachten vom 19.08.2008 die phobische Störung der Antragstellerin im erlittenen Unfall vom 06.09.2000 angelastet.
Daraufhin verpflichtete sich die Bf., bis zum 31.12.2009 Pflegegeld in Höhe von monatlich EUR 5.600,00 an die Bg.
zu zahlen, daneben die Kosten für die Krankengymnastik und die psychotherapeutische Behandlung in dem
beantragten Umfang zu übernehmen.
Dem schloss sich der im weiteren Rechtsstreit zwischen den Beteiligten S 9 U 556/09 beauftragte Sachverständige
Dr. P. im Gutachten vom 11.03.2010 an. In Übereinstimmung mit Frau Dr. P. wurde der streitgegenständliche Unfall
als Auslöser der phobischen Störung der Bg. festgestellt.
Nach Einholung eines psychiatrisch-neurologischen Gutachtens von Dr. K. vom 11.12.2009, in welchem die bei der
Bg. vorliegende phobische Störung nur recht fraglich durch den oben angeführten Unfall ausgelöst worden wäre, lehnte
die Bf. Leistungen über den 31.12.2009 ab (Bescheid vom 12.01.2010) und versagte die Übernahme der Kosten für
das Toilettentraining sowie die psychotherapeutische Behandlung (Bescheid vom 08.01.2010).
Das SG verpflichtete die Bf. daraufhin durch Beschluss vom 30.03.2010 (S 9 U 54/10 ER), der Bg. über den
31.12.2009 hinaus bis 31.12.2010 die tatsächlich anfallenden Pflegekosten abzüglich der von der Pflegeversicherung
zu zahlenden Leistungen und zusätzlich die Kosten für zweimal wöchentlich eine Stunde Physiotherapie für das
Toilettentraining sowie für einmal wöchentlich eine Stunde Psychotherapie zur Angstbewältigung zu gewähren.
Hiergegen macht die Bf. mit der am 21.04.2010 erhobenen Beschwerde im Wesentlichen geltend, der jetzt
bestehende Umfang der Pflegebedürftigkeit sei nicht mehr rechtlich wesentlich auf die Folgen des Unfalls
zurückzuführen. Ein Anspruch auf Pflegeleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung bestehe daher über den
31.12.2009 hinaus ebenso wenig wie die Notwendigkeit für das Toilettentraining sowie die Krankengymnastik zu
Lasten der Bf.
Die Beschwerdeführerin beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts München vom 30.03.2010 aufzuheben.
Die Beschwerdegegnerin stellt den Antrag, die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des
Sozialgerichts München vom 30.03.2010 zurückzuweisen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verfahrensakten beider Rechtszüge einerseits
sowie die Unfallakte der Bf. andererseits verwiesen, insbesondere auf die prozessuale Korrespondenz der Beteiligten.
II.
Die grundsätzlich zulässige, insbesondere rechtzeitig erhobene Beschwerde ist nicht begründet. Wie das SG
zutreffend dargelegt hat, kann im sozialgerichtlichen Verfahren gemäß § 86b Abs.2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz
(SGG) eine einstweilige Anordnung dann erlassen werden, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des
bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragstellerin (Ast.) vereitelt oder wesentlich erschwert
werden könnte (Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind gemäß § 86b Abs.2 Satz 2 SGG auch zur
Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche
Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung).
Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist somit, dass der Ast. ohne eine entsprechende
Regelung schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher
Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage ist. Eine solche Eilbedürftigkeit liegt nur dann
vor, wenn der Ast. ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zugemutet werden kann
(Anordnungsgrund) und wenn ihr auf Grund der glaubhaft gemachten Tatsachen bei summarischer Prüfung der
Rechtslage ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die begehrte Handlung bzw. Unterlassung zusteht
(Anordnungsanspruch). Dabei stehen Anordnungsanspruch und -grund nicht isoliert nebeneinander, sondern es
besteht zwischen ihnen eine Wechselbeziehung in dem Sinn, dass sich die Anforderungen an den
Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit und Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund)
verringern und umgekehrt. Denn Anordnungsanspruch und -grund bilden auf Grund ihres funktionellen
Zusammenhangs ein bewegliches System (Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 27.03.2009, L 3 U
271/08 B ER, Mayer-Ladewig/ Keller, SGG, 9. Auflage 2008, § 86b Rdnrn.27, 27a).
Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund
grundsätzlich abzulehnen, denn ein schützenswertes Recht ist nicht vorhanden. Ist die Klage dagegen offensichtlich
begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in einem solchen Fall nicht grundsätzlich auf einen
Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens - wenn etwa eine
vollständige Aufklärung der Sache und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist - muss im Wege einer
Folgenabwägung entschieden werden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher
zuzumuten ist (Mayer-Ladewig/Keller a.a.O. Rdnrn.29, 29a, BVerfG, NJW 2003, 1236, 1237, Hessisches
Landessozialgericht, a.a.O.).
Dabei sind grundrechtliche Belange der Ast. umfassend in die Abwägung einzubeziehen. Im Rahmen der gebotenen
Folgenabwägung hat regelmäßig das Interesse des Leistungsträgers an der Vermeidung ungerechtfertigter Leistungen
zurückzutreten (Hessisches LSG, a.a.O.), wenn sich die Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht vollständig
klären lässt, BVerfG, Urteil vom 12.05.2005, 1 BvR 159/09. Über eine vorläufige Regelung hinaus darf die einstweilige
Anordnung andererseits aber grundsätzlich die endgültige Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen. Nur
ausnahmsweise kann es im Interesse der Effektivität des Rechtsschutzes im Hinblick auf Art.19 Abs.4 GG
erforderlich sein, der Entscheidung in der Hauptsache vorzugreifen, wenn sonst Rechtsschutz nicht erreichbar und
dies für die Ast. unzumutbar wäre (Mayer-Ladewig/Keller a.a.O. § 86b SGG Rdnr.31 m.w.N.).
Sowohl Anordnungsanspruch als -grund sind gemäß § 920 Abs.2 Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 86b Abs.2 Satz
4 SGG glaubhaft zu machen. Dabei ist - soweit im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch auf die
Erfolgsaussichten abgestellt wird - die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen.
Die Glaubhaftmachung bezieht sich im Übrigen lediglich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine
überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des
Anordnungsanspruchs und des -grundes (vgl. Hessisches LSG, a.a.O.). Maßgebend für die Beurteilung der
Anspruchsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Deshalb
sind auch Erkenntnisse zu berücksichtigen, die erst im Laufe des Beschwerdeverfahrens hinzugetreten sind.
Im Fall der Bg., die dem Sachverhalt zufolge weiterhin auf regelmäßige Hilfe beim Toilettentransfer sowie auf die
Weiterbehandlung durch psychotherapeutische Maßnahmen zur Bewältigung ihrer posttraumatischen
Belastungsstörungen und schließlich auf das Toilettentraining angewiesen ist, ha sich vorbezeichnete Notwendigkeit
ursprünglich auf Grund des streitgegenständlichen Unfalls vom 06.09.2000 ergeben, was zwischen den Beteiligten
nicht streitig ist. Streit besteht demgegenüber hinsichtlich der Beurteilung für den Zeitraum ab 01.01.2010. Während
Prof. K. in seinem während des Verwaltungsverfahrens eingeholten Gutachten vom 30.12.2009 der Auffassung ist,
der Kniestand beim Toilettengang sei nunmehr bereits allein auf Grund der vorbestehenden Muskelerkrankung und der
Kraftminderung und der Beugekontraktur der Hüfte wie des Kniegelenks nicht mehr möglich, und Dr. N. im ebenfalls
von der Bf. veranlassten Gutachten vom 27.08.2007 seit 14.12.2006 die allmähliche Progredienz der Grunderkrankung
wesentlich für die Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit verantwortlich macht, die zu diesem Zeitpunkt
wahrscheinlich auch ohne das stattgehabte Trauma eingetreten wäre, stellt das von den Unfallchirurgen Prof. E./Prof.
K., Dr. B. für die Bf. erstellte Gutachten vom 30.12.2009 darauf ab, dass die Bg. den komplexen Bewegungsablauf
eines Kniestands aus mehrerlei Gründen nicht durchführen könne. Einerseits sei die große Kraftminderung vor allem
in den Hüftbeugern und -streckern maßgeblich. Letztgenannte Sachverständige vermögen allerdings das
Muskelaufbau- und weitere Kraftentwicklungspotenzial vor dem Hintergrund der neurologischen Systemerkrankung
nicht ausreichend zu beurteilen.
Der ebenfalls von der Bf. beauftragte Neurologe Dr. K. führt in seinem Gutachten vom 11.12.2009 demgegenüber
grundsätzlich aus, die von ihm zum Untersuchungszeitpunkt erhobenen neurologischen Befunde stellten sich in
ähnlicher Weise dar wie vor dem anerkannten Unfall von vor ca. neun Jahren. Wie es dem vorliegenden Krankheitsbild
eigen sei, zeige die 1972 erstmals diagnostizierte Symptomatik lediglich eine langsame Progredienz. Auch die
Neurologin Dr. P. vermochte in ihrem Gutachten vom 28.05.2008 ebenso wenig wie der Neurologe Dr. P. im
Gutachten vom 11.03.2010 ein weiteres Fortschreiten der Grunderkrankung festzustellen. Erstere führt zudem
überzeugend aus, dass die inzwischen eingetretene Progredienz der Pflegestufe keinerlei Hinweis auf eine aus den
Unterlagen nicht ausreichend belegbare Progredienz der Grunderkrankung zulasse, vielmehr habe der
streitgegenständliche Unfall in körperlicher wie psychischer Hinsicht nach wie vor die spezifische Bedeutung einer
Verschlechterung des gesamten Zustands, wobei seit 22.06.2006 keine für die Fragestellung relevante Änderung
eingetreten sei.
Auch Dr. P. kann in seinem vom SG eingeholten neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 11.03.2010 eine
Progredienz der Grunderkrankung nicht mit Sicherheit feststellen, darüber hinaus hält er die beschriebene
posttraumatische Belastungsstörung nicht vollständig für abgeklungen. Die vorliegenden Beeinträchtigungen seien
weiterhin unfallbedingt.
Angesichts der im Kern - im Gegensatz zu den im Einzelnen unterschiedlichen Schlussfolgerungen - im Wesentlichen
übereinstimmenden gutachtlichen Äußerungen fällt die im Rahmen des einstweiligen Anordnungs- einschließlich des
Beschwerdeverfahrens vorzunehmende Folgenabwägung mithin zur Überzeugung des Senats zu Lasten der Bf. aus,
zumal Anhaltspunkte für eine überholende Kausalität nicht erkennbar sind
Wie das SG, dessen zutreffenden Darlegungen sich der Senat vollinhaltlich anzuschließen vermag, im Einzelnen
überzeugend ausführt, ist zur Abwendung erheblicher Nachteile für die Bg. veranlasst, der Bf. die Kosten für die
tatsächlich anfallenden Pflegekosten abzüglich der von der Pflegeversicherung zu leistenden Zahlungen sowie Kosten
für die zweimal wöchentlich stattfindende Physiotherapie für das Toilettentraining und eine einmalige wöchentliche
Stunde zur Psychotherapie zur Angstbewältigung aufzuerlegen. Denn dem offensichtlich dringenden Bedürfnis der Bg.
auf Heilung der Folgen des Unfalls vom 06.09.2000 konnte im einstweiligen Rechtsschutz nur auf diese Weise
entsprechend Rechnung getragen werden.
Der Senat sieht insoweit von einer weiteren eigenen Darstellung der Gründe ab, § 142 Abs.2 Satz 3 SGG.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.
Diese Entscheidung ergeht endgültig, § 177 SGG.