Urteil des LSG Bayern vom 31.08.2005

LSG Bayern: wirtschaftliches interesse, beruf, altersrente, arbeitsmarkt, zusammenwirken, leistungsfähigkeit, datum, fachgutachten, form, bad

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 31.08.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Bayreuth S 4 RJ 219/02
Bayerisches Landessozialgericht L 19 R 647/02
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 22.11.2002 aufgehoben. Die
Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 26.09.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
28.02.2002 verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.10.2001 zu gewähren.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten für beide Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um den Beginn einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Die 1942 geborene Klägerin hat nach ihren Angaben den Beruf der Einzelhandels-Kauffrau erlernt (Prüfung 1959), war
aber nur bis 1963 in diesem Beruf tätig. Sie war zuletzt von Juni 1983 bis Januar 2001 als Wäschereiarbeiterin
(Waschen, Bügeln, Aufbewahren der Wäsche) in einem Altenheim versicherungspflichtig beschäftigt.
Am 07.09.2001 beantragte sie die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Zuvor hatte sie sich vom 31.05.
bis 16.06.2001 einer stationären Heilmaßnahme in Bad A. unterzogen. In Auswertung des Entlassungsberichts vom
26.06.2001 lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit Bescheid vom 26.09.2001 ab, da die Klägerin nicht voll oder
teilweise erwerbsgemindert sei.
Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch und verwies auf ihre massiven orthopädischen Gesundheitsstörungen. Die
Beklagte ließ sie untersuchen durch den Chirurgen Dr.R. , den Internisten Dr.H. und die Nervenärztin Dr.F ... Die
Sachverständigen kamen am 10.01.2002 zu dem Ergebnis, dass die Klägerin noch für leichte Tätigkeiten im
Wechselrhythmus in Vollschicht einsetzbar sei. Es sollte sich um geistig einfache Tätigkeiten handeln, Arbeiten mit
besonderen Anforderungen an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen sollten vermieden werden. Die
Wegefähigkeit sei erhalten. Die Umstellungsfähigkeit für geistig einfache Tätigkeiten sei noch gegeben. Die Beklagte
wies den Widerspruch mit Bescheid vom 28.02.2002 zurück. Die Klägerin könne unter den Bedingungen des
allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein.
Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin am 28.03.2002 Klage beim Sozialgericht Bayreuth (SG) erhoben und
erneut (und ausschließlich) auf massive orthopädische Störungen hingewiesen, welche es ihr unmöglich machten,
einer Erwerbstätigkeit mit Regelmäßigkeit nachzugehen. Das SG hat Befundberichte des Orthopäden Dr.F. , des
Orthopäden Dr.P. und des Allgemeinarztes Dr.O. zum Verfahren beigenommen. Auf Veranlassung des SG hat der
Internist und Sozialmediziner Dr.G. das Gutachten vom 22.11.2002 erstattet. Er hat als Diagnosen genannt:
Abnutzungserscheinungen am Skelettsystem, insbesondere an der Wirbelsäule und in den Hüft- und Kniegelenken,
Funktionseinschränkung im rechten Schultergelenk, toxisch-nutritiver Leberparenchymschaden, leichtes Übergewicht.
Im Vordergrund stünden bei der Klägerin die Beschwerden und Beeinträchtigungen seitens des Bewegungsapparates,
Verschleißerscheinungen der gesamten Wirbelsäule sowie auch in den Hüft- und Kniegelenken seien nachgewiesen.
Eine hinreichende Umstellungsfähigkeit sei nur noch für äußerst einfache Tätigkeiten gegeben, wie z.B. einfache
Sortierarbeiten. Mit Urteil vom 22.11.2002 hat das SG die Beklagte verurteilt, der Klägerin ausgehend von einem
Leistungsfall am 22.11.2002 bei Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen Rente wegen voller
Erwerbsminderung auf Dauer einzuweisen; des Weiteren hat es der Beklagten aufgegeben, die Kosten des Verfahrens
zu tragen. Das Gericht sah die Klägerin nicht mehr in der Lage, im Beruf der Wäschereiarbeiterin weiterzuarbeiten
oder in irgendeinem anderen Beruf tätig zu sein. Zwar sei die Klägerin nach ihrem beruflichen Werdegang auf den
allgemeinen Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland verweisbar. Die Verweisbarkeit habe jedoch dort ihre
Grenzen, wo eine Umstellungsfähigkeit auf welche Tätigkeiten einfachster Art auch immer nicht mehr angenommen
werde könne. Die vom ärztlichen Sachverständigen ins Auge gefassten "einfachen Sortierarbeiten" seien auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt nicht verfügbar. Die Klägerin sei demnach mit Leistungsfall am 22.11.2002 voll
erwerbsgemindert.
Gegen dieses Urteil richtet sich die am 20.12.2002 beim Bayer. Landessozialgericht eingegangene Berufung der
Klägerin. Diese verlangt die Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.10.2001, nach einem mit der
Antragstellung eingetretenen Leistungsfall am 07.09.2001. Auf der Grundlage dieses Leistungsfalls dürfe die Klägerin
mit einer erheblich geringeren Abschlagsregelung bei Ermittlung des Rentenbetrags rechnen.
Die Beklagte hat der Klägerin mit Bescheid vom 17.01.2003 Altersrente für Frauen ab 01.12.2002 bewilligt. Mit
weiterem Bescheid vom 22.05.2003 hat die Beklagte der Klägerin anstatt der vorgenannten Rente Altersrente für
schwerbehinderte Menschen ab 01.12.2002 bewilligt. Der Bescheid vom 17.01.2003 wurde aufgehoben. Die Klägerin
hat dazu mitgeteilt, dass sie an der Berufung voll umfänglich festhalte. Der Rentenabschlag betrage zwar nunmehr nur
noch 3,3 %, die Klägerin habe jedoch ein berechtigtes wirtschaftliches Interesse an einem früheren Rentenbeginn, da
die Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung eng verknüpft seien mit den Leistungsansprüchen aus der
kirchlichen Zusatzversorgung.
Die AOK Bayern, Geschäftsstelle S. , hat mitgeteilt, dass die Klägerin vom 19.02.2001 bis 03.06.2002 Krankengeld
bezogen hat. Nach dem Schwerbehindertengesetz ist ein GdB von 20 anerkannt, lt. Bescheid vom 22.04.1997. Der
Allgemeinarzt Dr.O. hat seine gesamten über die Klägerin vorliegenden ärztlichen Unterlagen übersandt. Auf
Veranlassung des Senats hat der Internist und Arbeitsmediziner Dr.M. das Gutachten vom 23.11.2004 nach
Aktenlage erstattet. Das berufliche Leistungsvermögen der Klägerin werde in erster Linie beeinträchtigt durch
degenerative Veränderungen im Bereich des Bewegungsapparates und durch eingeschränkte geistige und seelische
Belastbarkeit. Der Klägerin seien körperlich nur noch leichte Arbeiten zumutbar, sie sei nur noch zu in geistiger und
nervlicher Hinsicht ausgesprochen einfachen bzw. schonenden Tätigkeiten im Stande. Selbst unter Beachtung dieser
Vorgaben habe die Klägerin in der Zeit ab September 2001 nur noch in einem zeitlich reduzierten Umfang von drei bis
unter sechs Stunden arbeiten können. Dies folge im Wesentlichen aus der Tatsache, dass neben der Einschränkung
der geistig-seelischen Belastbarkeit auch die körperliche Belastbarkeit der Klägerin erheblich eingeschränkt war. Die
Beklagte hält weiterhin daran fest, dass der vom SG festgestellte Leistungsfall 22.11.2002 zutreffend sei; nach
Auffassung ihres ärztlichen Dienstes sei das Leistungsvermögen der Klägerin erst ab Begutachtung durch Dr.M. im
November 2004 auch für leichte Tätigkeiten allgemeiner Art auf drei- bis unter sechsstündig zu beurteilen.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des SG Bayreuth vom 22.11.2002 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr
ausgehend von einem Leistungsfall zum 07.09.2001 Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.10.2001 zu
gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Dem Gericht haben die Verwaltungsakte der Beklagten und die Prozessakte des SG Bayreuth sowie die
Schwerbehinderten-Akte des Versorgungsamtes Bayreuth und die gesamten ärztlichen Unterlagen über die Klägerin
von Dr.O. vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig, §§ 143, 151
Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Das Rechtsmittel der Klägerin erweist sich im Ergebnis als begründet.
Die Klägerin ist nicht erst ab November 2002 voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Sechstes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der seit 01.01.2001 geltenden Fassung, sondern bereits seit der Rentenantragstellung
im September 2001. Dies ergibt sich für den Senat aus der zusammenschauenden Bewertung der Gutachten von
Dr.G. vom November 2002 und von Dr.M. vom November 2004. Bereits Dr.G. hatte in seinem Gutachten deutlich
herausgestellt, dass im Hinblick auf die recht einfachen Strukturen und die auch erheblichen sonstigen
Beeinträchtigungen des Gesundheitszustandes der Klägerin er eine hinreichende Umstellungsfähigkeit auf andere als
äußerst einfache Tätigkeiten nicht mehr für gegeben hält. Nach dem Gutachten von Dr.M. , das nach Aktenlage
erstattet wurde, ist das berufliche Leistungsvermögen der Klägerin insgesamt bereits ab Rentenantragstellung im
September 2001 auf drei bis weniger als sechs Stunden täglich abgesunken. Dr.M. hat dies im Wesentlichen mit dem
Zusammenwirken der Einschränkungen aus der geminderten geistig-seelischen Belastbarkeit und der eingeschränkten
körperlichen Leistungsfähigkeit begründet. Die bei der Klägerin bestehende Intelligenzminderung schränkt deren
Leistungsfähigkeit auch in zeitlicher Hinsicht ein, als dadurch die geistig-seelischen Ressourcen zur Kompensation
der verschiedenen körperlichen Beeinträchtigungen gemindert sind, mit dem Ergebnis einer eingeschränkten Ausdauer
bzw. vorschnellen Erschöpfung. Demnach sind der Klägerin nur noch körperlich leichte und geistig anspruchslose
Tätigkeiten zumutbar, und diese auch nur in einem zeitlich deutlich reduzierten Umfang von drei bis weniger als sechs
Stunden. Dazu kommt, dass die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit zur Übernahme einer in körperlicher und
geistiger Hinsicht angepassten Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bei der Klägerin nicht mehr gegeben ist.
Die Einschränkungen bestehen in ihrer Gesamtheit bereits seit September 2001, wie Dr.M. in fachübergreifender
Auswertung aller ärztlichen Unterlagen auch für den Senat überzeugend festgestellt hat. Die durch die Beklagte -
Stellungnahme von Dr.F. vom 11.01.2005 - dagegen vorgebrachten Einwendungen überzeugen den Senat dagegen
nicht. Dr.F. hat die Klägerin zwar im Dezember 2001 gesehen und begutachtet; sie hat ihre Beurteilung aber rein auf
ihr Fachgebiet bezogen und ist insoweit sogar zu dem Ergebnis gekommen - abweichend von dem Fachgutachten des
chirurgisch-orthopädischen Gebiets -, dass die Klägerin auch ihre letzte Berufstätigkeit weiter ausüben könne. Dies
wurde von Dr.M. überzeugend widerlegt. Wenn Dr.F. von einem Absinken des Leistungsvermögens der Klägerin erst
ab der Begutachtung durch Dr.M. ausgehen will, erscheint dies wenig überzeugend; eine Begutachtung nach
Aktenlage - bei Fehlen eines persönlichen Eindrucks von der zu begutachtenden Person - wird immer auf vorhandene
ärztliche Unterlagen bei der Festlegung eines Leistungsfalles zurückgreifen müssen, nicht jedoch auf das zufällige
Datum der Gutachtenserstellung.
Mit dem bereits seit September 2001 abgesunkenen zeitlichen Leistungsvermögen im Zusammenwirken mit der
fehlenden Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit auch für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ist die
Klägerin als voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 SGB VI n.F. anzusehen. Da bei ihr auch die übrigen
Zugangsvoraussetzungen für Rentenleistungen nach § 43 Abs 2 SGB VI gegeben sind, steht ihr die entsprechende
Rente bis zum Beginn der Altersrente zu. Da bei Eintritt des Leistungsfalls bereits keine begründete Aussicht mehr
bestand, dass die beschriebenen Leistungseinschränkungen in absehbarer Zeit behoben werden könnten, war die der
Klägerin zustehende Rente auch nicht mehr zu befristen.
Da dem Berufungsantrag der Klägerin zu entsprechen war, hat die Beklagte auch die außergerichtlichen Kosten des
Berufungsverfahrens zu erstatten. Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.