Urteil des LSG Bayern vom 01.02.2010

LSG Bayern: ablauf der frist, befangenheit, meinung, voreingenommenheit, unverzüglich, einverständnis, gutachter, ernennung, wehr, beobachter

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 01.02.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Würzburg S 8 R 711/07
Bayerisches Landessozialgericht L 2 R 663/09 B
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 22. Juli 2009 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I. Streitig ist, ob das Gesuch auf Ablehnung des Sachverständigen Dr. S. wegen Besorgnis der Befangenheit
begründet ist. Im Verfahren vor dem Sozialgericht Würzburg begehrt der Beschwerdeführer (Bf) Rente wegen voller
Erwerbsunfähigkeit. Das Sozialgericht hatte bereits ein Gutachten des Neurologen Dr. W. eingeholt und beauftragte
am 12.03.2009 auf die Einwendungen des Bf hin den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. S., ein Gutachten zum
verbliebenen Leistungsvermögen des Bf zu erstatten. Im bei Gericht am 28.05.2009 eingegangen Gutachten, kam der
Sachverständige zum Ergebnis, der Kläger könne noch sechsstündige Tätigkeiten überwiegend im Sitzen in
geschlossenen Räumen ohne besondere nervliche Belastung ausüben. Der Begutachtung war eine ambulante
Untersuchung des Bf am 12.05.2009 in der Zeit von 13.20 Uhr bis 18.15 Uhr vorausgegangen. Das Gutachten wurde
den Beteiligten am 02.06.2009 zur Kenntnis gegeben. Mit Schreiben vom 18.06.2009, eingegangen am 19.06.2009
machte der Bf geltend, entgegen den Gutachten sei er nicht in der Lage, eine sechsstündige Tätigkeit auszuüben.
Das Leistungsvermögen sei von Dr. S. völlig falsch beurteilt worden. Der Sachverständige habe ihm Blut
abgenommen. Dieser körperliche Eingriff sei ohne seine Zustimmung geschehen. Er fühle sich durch die Antwort des
Gutachters auf seine Frage, ob diese zur Untersuchung dazugehöre, hintergangen. Er halte dies für einen
Vertrauensbruch, der es rechtfertige, den Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Darüber
hinaus habe Dr. S., wie sein Gutachten ausweise, versucht ihn, den Bf, unglaubhaft zu machen. Der Sachverständige
habe geäußert, es hätten sich deutliche Aggravationstendenzen im Rahmen der körperlichen Untersuchungen gezeigt.
Dies offenbare eine deutliche Negativposition des Sachverständigen, was seine Inobjektivität klar zum Ausdruck
bringe. Mit Beschluss vom 22.06.2009 wies das Sozialgericht das Gesuch als unbegründet zurück. Die gegen den
Sachverständigen vorgebrachten Gründe träfen im Kern die Verwertbarkeit des Gutachtens im Hauptsacheverfahren.
Soweit der Bf die Blutabnahme für rechtswidrig halte, sei unverständlich, dass dieser sich nicht in der
Untersuchungssituation dem widersetzt habe. Der Vorwurf, zu Unrecht sei dem Bf Aggravationstendenz unterstellt
worden, begründe keine Besorgnis der Befangenheit, weil der Sachverständige insoweit lediglich einen Arztbrief der
neurologischen Universitätsklinik B-Stadt vom 28.03.2007 zitiert habe. Eine eigene Meinungsäußerung habe der
Sachverständige damit nicht verbunden. Der Beschluss wurde dem Kläger am 06.07.2009 zugestellt. Dagegen legte
er am 16.07.2009 Beschwerde ein. Auf die Ausführungen des Sozialgerichts zu der gerügten Unterstellung einer
Aggravationstendenz sei zu erwidern, dass es sich insoweit nicht nur um ein Zitat eines Fremdbefundes handle.
Vielmehr erkläre Dr. S., eine Inkongruenz der Angaben des Untersuchten sei unübersehbar. Der Sachverständige
beschreibe einen stelzenartigen Gang und behaupte, der Beschwerdeführer habe zeitweilige beidhändig beim
Tapezieren geholfen, über Stunden am PC gearbeitet und sich mit harmonischen Bewegungen während der
Untersuchung an- und ausgekleidet. Damit habe der Sachverständige fiktiv ein Bild in den Raum gestellt und
unübersehbar Aggravation behauptet. Dies offenbare die Voreingenommenheit des Sachverständigen ebenso wie das
Unterschlagen wichtiger Beobachtungen, wie das unwillkürliche Verkrampfen der linken Hand und damit die
Gebrauchsunfähigkeit derselben. Für die Blutabnahme habe kein Einverständnis bestanden. Wenn der
Sachverständige gemeint habe, eine Blutabnahme gehöre zur Untersuchung im Rahmen der Begutachtung, so müsse
er als Gutachter ausgeschlossen werden. Dr. S. habe sich insoweit als Ermittler gegen den Bf betätigt und nicht als
neutraler Gutachter. Wichtige Befunde, wie der tomographische Befund eines Marklagersubstanzdefekts und anderes
seien von ihm nicht gewürdigt worden. Der Bf beantragt, auf die Beschwerde den Beschluss des Sozialgerichts
Würzburg vom 22.06.2009 aufzuheben und seinem Gesuch auf Ablehnung des Sachverständigen Dr. S. stattzugeben.
Die Beklagte beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen. Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts gemäß §
136 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf den Inhalt der beigezogenen Akten Bezug genommen.
II. Die Beschwerde ist statthaft und zulässig (§§ 172, 173 SGG), aber unbegründet. Nach § 118 Abs. 1 SGG sind im
sozialgerichtlichen Verfahren für die Ablehnung eines Sachverständigen die Vorschriften der Zivilprozessordnung
(ZPO) anzuwenden. Nach §§ 406 Abs. 2 Satz 1, 411 Abs. 1 ZPO ist der Ablehnungsantrag bei dem Gericht oder
Richter, von dem der Sachverständige ernannt ist, vor Erstellung des Gutachtens anzubringen, spätestens binnen
zwei Wochen nach Verkündung oder Zustellung des Beschlusses über die Ernennung. Zu einem späteren Zeitpunkt
kann der Antrag nach § 406 Abs. 2 Satz 2 ZPO dann gestellt werden, wenn der Antragsteller glaubhaft machen kann,
dass er ohne sein Verschulden die Gründe erst zu einem späteren Zeitpunkt geltend machen konnte. Dies ist in der
Regel dann der Fall, wenn erst aus dem schriftlich abgefassten Gutachten Ablehnungsgründe ersichtlich werden. In
diesem Fall endet die Frist für den Ablehnungsantrag mit dem Ablauf der Frist, die das Gericht den Beteiligen zur
Stellungnahme zum Gutachten eingeräumt hat. Soweit der Kläger Befangenheitsgründe aus der
Untersuchungssituation am 12.05.2009 ableitet, ist das Befangenheitsgesuch verspätet. Es hätte unter Beachtung
einer angemessenen Überlegungsfrist unverzüglich nach dem Untersuchungstag angebracht werden müssen (OLG
Köln, Beschluss vom 19.08.2008 - 5 W 39/08). Unverzüglich bedeutet gemäß § 121 Bürgerliches Gesetzbuch ohne
schuldhaftes Zögern. Der Kläger hat nicht ansatzweise dargelegt bzw. glaubhaft gemacht, weshalb es ihm nicht
möglich gewesen sei, zumindest innerhalb der in § 406 Abs. 2 Satz 1 ZPO genannten Frist von zwei Wochen die
Ablehnungsgründe darzulegen. Die Zwei-Wochen-Frist gilt auch dann, wenn sich die Ablehnungsgründe nicht bereits
aus der Ernennung des Sachverständigen, sondern aus späterem Verhalten ergeben, wie hier aus der vom Bf
behaupteten Untersuchungssituation mit der seiner Meinung nach rechtswidrigen Blutabnahme. Im Übrigen wäre der
Befangenheitsantrag auch unbegründet. Zutreffend führt das Sozialgericht insoweit aus, dass es nicht nachvollziehbar
ist, weshalb sich der Bf gegen die Blutabnahme nicht zur Wehr gesetzt hat. Noch weniger ist erklärbar, dass er diesen
seiner Meinung nach gravierenden Verstoß erstmals am 19.06.2009 gelten machte. Dass der Sachverständige aus
dem Verhalten des Klägers hätte schließen müssen, es bestehe kein Einverständnis mit der Blutabnahme, legt der Bf
in keiner Weise dar. Es ist dem Senat bei diesem Ablauf nicht erklärlich, dass mit der Blutabnahme im vermuteten
Einverständnis eine Voreingenommenheit gegenüber dem Bf für einen verständigen Beobachter zum Ausdruck
kommen solle. Noch weniger ist ersichtlich, weshalb es dem Bf nicht möglich gewesen sein sollte, die von ihm
empfundene Voreingenommenheit unverzüglich, spätestens zwei Wochen nach dem Untersuchungszeitpunkt, geltend
zu machen. Ein rechtzeitig gestelltes Ablehnungsgesuch liegt nur insoweit vor, als der Bf erst aus dem schriftlich
abgefassten Gutachten Ablehnungsgründe erkennen konnte. Ein derartiger Grund liegt in der Behauptung des Bf, der
Sachverständige habe sich gegen ihn als Ermittler betätigt. Gemeint ist insoweit wohl die Ermittlung einer Aggravation
und damit das Offenlegen, dass der Bf die gezeigten Funktionseinschränkungen nur vortäusche. In der Konsequenz
sei das Gutachten damit unrichtig. Diese Behauptung trifft damit die sachliche Unrichtigkeit des Gutachtens. Dies
rechtfertigt jedoch in aller Regel nicht die Besorgnis der Befangenheit. Mangel an Sachkunde, Unzulänglichkeiten oder
Fehlerhaftigkeit mögen ein Gutachten zwar entwerten, rechtfertigen für sich allein aber nicht die Ablehnung des
Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit (Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15.03.2005 - VII ZB
74/04). Der Vorwurf einer fehlerhaften Gutachtenserstattung aufgrund mangelnder Sorgfalt oder Sachkunde betrifft
regelmäßig beide Parteien in gleicher Weise. Gegen die Verwertung eines fehlerhaften Gutachtens stehen jedoch
andere prozessuale Mittel zur Verfügung als die Ablehnung des Sachverständigen wegen Befangenheit. Ob das
Gutachten geeignet ist, den streitigen Sachverhalt hinreichend aufzuklären, hat im Rahmen der dem Sozialgericht
obliegenden freien Beweiswürdigung zu erfolgen. Im Übrigen ist es Aufgabe des Sachverständigen darzulegen, ob
gezeigte Funktionseinschränkungen mit objektiven Befunden korrelieren. Gerade der Psychiater hat dabei die
Verpflichtung, auf seiner Meinung nach erkennbare Aggravation hinzuweisen. Ob die Annahme einer Aggravation
berechtigt ist, betrifft die Richtigkeit des Gutachtens und reicht nur unter Hinzutritt weiterer Umstände für die
Annahme der Voreingenommenheit des Sachverständigen aus. Solche anderen Gesichtspunkte zeigt der Bf nicht auf.
Wenn der Bf meint, der Sachverständige sei als Ermittler gegen ihn aufgetreten und habe seiner Pflicht, ein objektives
Gutachten zu erstellen, nicht genügt, so beruht dies ausschließlich auf seiner subjektiven Wertung. Ein vernünftiger
Betrachter muss feststellen, dass es auch zum Aufgabenbereich eines medizinischen Sachverständigen gehört,
fehlende Kongruenz zwischen geschilderten Beschwerden und objektiven Befunden darzulegen. Es ist zwar
verständlich, dass sich der Bf nicht in die Nähe von Aggravation bringen lassen will und möglicherweise sogar
Aggravation als beleidigend empfindet. Dies rechtfertigt es jedoch nicht, dann abzusehen, solche Befunde
offenzulegen, wenn sie nach Meinung eines Sachverständigen vorliegen. Andernfalls könnte ein Sachverständiger
immer dann wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn dieser zu einem vom Untersuchten nicht
gewünschten Ergebnis kommt. Dass dies nicht zur Ablehnung eines Sachverständigen wegen Besorgnis der
Befangenheit führen kann, ist aus sich heraus verständlich. Insgesamt kommt der Senat damit zum Ergebnis, dass
die Besorgnis der Befangenheit gegenüber dem Sachverständigen Dr. S. nicht begründet ist. Die Beschwerde gegen
den Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 22.07.2009 war zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht
analog § 193 SGG. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).