Urteil des LSG Bayern vom 16.09.2008

LSG Bayern: arbeitsunfall, unfallfolgen, rente, wahrscheinlichkeit, kausalität, krankheit, anerkennung, erkenntnis, wissenschaft, erwerbsfähigkeit

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 16.09.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Regensburg S 7 U 5048/05
Bayerisches Landessozialgericht L 3 U 352/06
Bundessozialgericht B 2 U 302/08 B
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 04.10.2006 wird
zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf Grund des Arbeitsunfalls vom 13.03.1999.
Der 68-jährige Kläger ist Landwirt und arbeitete ab den 60iger Jahren zunächst als Versicherungsvertreter und zuletzt
als Versicherungsmakler. Am 13.03.1999 erlitt er bei seiner Tätigkeit in der Landwirtschaft einen Arbeitsunfall, den die
Beklagte mit Bescheid vom 23.02.2000 anerkannte. Zugleich bewilligte sie ihm als vorläufige Entschädigung eine
Rente ab 14.09.1999 nach einer MdE von 40 v.H., ab 07.01.2000 nach einer MdE von 30 v.H. Mit Bescheid vom
09.10.2001 setzte die Beklage auf Grund des Gutachtens des Dr.E. vom 13.08.2001 eine Rente auf unbestimmte Zeit
nach einer MdE von 20 v.H. ab 01.11.2001 fest.
Im Rahmen eines Überprüfungsvergleiches, den die Parteien am 26.10.2004 vor dem Bayer. Landessozialgericht
abschlossen, verpflichtete sich die Beklagte, eine erneute Entscheidung über die MdE ab 01.11.2001 zu treffen. Mit
Bescheid vom 20.04.2005 lehnte sie die Gewährung einer Rente nach einer MdE von mehr als 20 v.H. ab 01.01.2001
ab, der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 20.06.2005 zurückgewiesen.
Hiergegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Regensburg (SG) erhoben und sinngemäß beantragt, die Beklagte
unter Aufhebung des Bescheides vom 20.04.2005 in Ge-stalt des Widerspruchsbescheides vom 20.06.2005 zu
verurteilen, ihm ab 01.11.2001 eine Verletztenrente nach einer MdE von 30 v.H. zu gewähren. Das SG hat Beweis
erhoben durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens des Orthopäden Dr.F. vom 07.07.2006. Dieser ist zu
dem Ergebnis gekommen, dass die Bewertung der MdE des Klägers ab 01.11.2001 mit 20 v.H. zutreffend sei.
Daraufhin wies das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 04.10.2006 ab. Zur Begründung stützte es sich auf das
Sachverständigengutachten des Dr.F ...
Gegen diesen Gerichtsbescheid hat der Kläger Berufung eingelegt. Er hat darauf hingewiesen, dass das
Sachverständigengutachten des Dr.F. nicht zutreffend sei. Dem Sachverständigen, der keine Zulassung als
Vertragsarzt habe, fehle auf Grund seiner ausschließlichen Tätigkeit als Gutachter die erforderliche Kompetenz. In der
Folge des Unfalls sei außerdem eine Osteoporose aufgetreten. Die fehlende Medikamentenverabreichung und die
Liegezeiten hätten die permanente Knochenneubildung verhindert.
Der Senat hat zur Aufklärung des Sachverhalts die einschlägigen Röntgenbilder beigezogen und ein
Sachverständigengutachten des Orthopäden Prof.Dr.L. vom 02.04.2007 eingeholt. Dieser ist zu dem Ergebnis
gekommen, dass als Folge des Arbeitsunfalls beim Kläger nachweisbar sind: Konzentrische Bewegungsbehinderung
der Lendenwirbelsäule (LWS) bei Zustand nach operativ versorgter instabiler Lendenwirbelkörper (LWK)-2-Fraktur,
metallmaterial-reizfrei in situ. Reaktive Verspannung der Paralumbalmuskulatur. Reizfreie Narbenbildung. Angabe
einer Hautgefühlsminderung im Ausbreitungsgebiet des Nervus ilio-inguinalis links. Iliosakralgelenksarthrose rechts.
Folgenlos ausgeheilte Sitzbeinfraktur links. Die MdE nach Wirbelkörperfrakturen könne sowohl nach Verletzungsarten-
als auch nach dem Segmentprinzip beurteilt werden. Nach beiden Prinzipien ergebe sich eine MdE von 20 v.H. Bei
einem stabil ausgeheilten Wirbelkörperbruch ohne Bandscheibenbeteiligung und ohne wirksamen Achsenknick wie
beim Kläger liege die MdE grundsätzlich unter 10 v.H. Allerdings bestehe bei ihm auf Grund der Spanentnahme
zusätzlich eine Arthrose des rechten Kreuzbein-Darmbein-Gelenks, so dass die MdE mit 20 v.H. zutreffend eingestuft
sei. Nach dem Segmentprinzip ergebe sich bei einem Faktor von 6,9 für LWK 1/2 und 2/3 eine MdE von 20,7, da bei
einer segmentalen Versteifung der Segmentwert zu verdreifachen sei.
Der Kläger hat mit Schreiben vom 18.07.2007 zu dem Sachverständigengutachten Stellung genommen und
insbesondere moniert, dass er lediglich 40 Minuten untersucht worden sei. Entgegen den Ausführungen des Prof.Dr.L.
sei ein Faktor von 5 anzunehmen, so dass sich eine MdE von 34,5 % ergebe.
Der nach § 109 SGG beauftragte Neurologe Dr. K. stellte in seinem Gutachten vom 21.02.2008 keine pathologischen
Befunde im Bereich der Beine fest. Wegen der vom Kläger geschilderten claudicatio-ähnlichen Symptome im Bereich
des rechten Oberschenkels, die nicht ausreichend berücksichtigt worden seien, sei eine MdE von 30 v.H.
angemessen. Die Beklagte legte eine beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. H. vom 26.05.2008 vor.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Gerichtsbescheides vom 04.10.2006 sowie des Bescheides vom 20.04.2005 in
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.06.2005 zu verurteilen, dem Kläger weitere Unfallfolgen gemäß seinen
Anträgen anzuerkennen und ihm ab 01.11.2001 nach dem Ermessen des Gerichts eine Rente nach einer MdE von
jedenfalls mehr als 20 v.H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt demgegenüber,
die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 04.10.2006 abzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die beigezogene Beklagtenakte und die Gerichtsakten erster und zweiter
Instanz sowie die Akten der Vorverfahren verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung weiterer Unfallfolgen und
eine höhere MdE als 20 v.H. aufgrund des Arbeitsunfalls vom 13.03.1999.
Die Anerkennung weiterer Gesundheitsstörungen als Folge eines Arbeitsunfalles setzt voraus, dass die
Gesundheitsstörung Folge eines Versicherungsfalles, hier also des Arbeitsunfalles vom 13.03.1999, ist. Der
Arbeitsunfall muss also wesentlich an der Entstehung der Gesundheitsstörung mitgewirkt haben. Davon ist
auszugehen, wenn er neben anderen Bedingungen bei wertender Betrachtung diejenige ist, die wegen ihrer
besonderen qualitativen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen hat (Theorie der
wesentlichen Bedingung, ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BSGE 63, 277). Dabei müssen die
anspruchsbegründenden Tatsachen, d.h. neben dem Arbeitsunfall auch die Gesundheitsstörung, mit an Gewissheit
grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen sein (Vollbeweis). Ein vernünftiger, die Lebensverhältnisse klar
überschauender Mensch darf keinen Zweifel mehr haben (BSGE 7, 103, 106). Für den ursächlichen Zusammenhang
zwischen dem schädigenden Ereignis und dem Gesundheitsschaden (haftungsbegründende Kausalität) sowie
Folgenschäden (haftungsausfüllende Kausalität) ist demgegenüber hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreichend. Es
genügt, wenn bei Abwägung aller Umstände die für den Zusammenhang sprechenden Erwägungen so stark
überwiegen, dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (BSGE 32, 203, 209; 45, 285, 286).
Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass keine weiteren Unfallfolgen festzustellen sind. Insoweit wird auf die
Gutachten des Prof. Dr. L. und des Dr. F. Bezug genommen. Aus dem neurologischen Gutachten des Dr. K. vom
21.02.2008 ergibt sich nichts anderes. Dr. K. hat allein aufgrund der subjektiven Angaben des Klägers ein
pseudoradikuläres claudicatioähnliches Symptom angenommen. Dies genügt nicht zum Vollbeweis dieser Krankheit.
Der Senat hat erhebliche Zweifel am Vorliegen der Krankheit, weil alle objektiven Befunde normal sind. Dies gilt nicht
nur für die von Dr. K. erhobenen technischen Messungen der Nervenfunktion, sondern auch für die vom Kläger
vorgelegten Befunde des Dr. G. vom 12.10.2007, der ebenfalls keine radikulären Ausfälle objektivieren konnte. Alleine
ein möglicher Zusammenhang nicht objektivierbarer Beschwerden mit dem Arbeitsunfall genügt nicht.
Die Bemessung des Grades der MdE, also die auf Grund des § 56 Abs.2 SGB VII durch Schätzung vorzunehmende
Festlegung des konkreten Umfanges der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen
Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens,
ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts eine tatsächliche Feststellung, die vom Gericht
gemäß § 128 Abs.1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens
gewonnenen Überzeugung trifft. Neben den Feststellungen der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des
Versicherten ist dabei die Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen
bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen
auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens erforderlich. Als Ergebnis dieser Wertung ergibt sich die Erkenntnis
über den Umfang der dem Versicherten versperrten Arbeitsmöglichkeiten. Hierbei kommt es stets auf die gesamten
Umstände des Einzelfalles an (BSGE SozR 3-2200 § 581, Nr.8 m.w.N.). Die Beurteilung, in welchem Umfang die
körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Folgen des Unfalls beeinträchtigt sind, liegt in erster
Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Hierbei sind aber auch die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von
der Rechtsprechung sowie von der Wissenschaft herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die
zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall verbindlich sind, aber Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der
MdE mit zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis bilden und einem ständigen Wandel unterliegen (BSG SozR
2200 § 581 Nr.23 und 27; BSG SozR 3-2200 § 581 Nr.9). Die Feststellung der Höhe der MdE erfordert als tatsächliche
Feststellung stets die Würdigung der hierfür notwendigen Beweismittel im Rahmen freier richterlicher Beweiswürdigung
gemäß § 128 Abs.1 Satz 1 SGG. In der gesetzlichen Unfallversicherung haben sich im Laufe der Zeit bei einer
Vielzahl von Unfallfolgen oder Berufskrankheiten für die Schätzung der MdE Erfahrungswerte herausgebildet, die in
Form von sog. Rententabellen oder Empfehlungen zusammengefasst sind und als Anhaltspunkte für die MdE-
Einschätzung im Einzelfall dienen. Die in den Tabellen und Empfehlungen enthaltenen Richtwerte stellen allgemeine
Erfahrungssätze dar und bilden in der Regel die Basis für einen Vorschlag, den der medizinische Sachverständige zur
Höhe der MdE unterbreitet (BSG SozR 3-2200 § 581 Nr.8 m.w.N.). Bezüglich der Erkrankungen der Wirbelsäule liegen
ebenfalls MdE-Erfahrungswerte vor.
Unter Berücksichtigung dieser Erfahrungswerte hat der Kläger auf chirurgisch-orthopädischem Gebiet lediglich eine
MdE von 20 v.H. Die aufgrund des durch den Arbeitsunfall verursachten Deckplatteneinbruchs LK 2 erforderliche
Spondylodese schränkt die Beweglichkeit der Wirbelsäule im lumbalen Bereich deutlich ein, insbesondere ist die
Beugung, die Rechts- und Linksneigung und die Rotation reduziert. Diese Bewegungseinschränkung ist jedoch mit
einer MdE von 20 v.H. angemessen bewertet. Nach allen Befunden sind motorische Ausfälle in den Beinen nicht
nachweisbar. Dies zeigt insbesondere die jüngst von Dr. K. durchgeführte technisch-neurologische Untersuchung der
Nervenleitgeschwindigkeit, die Normalbefunde ergab. Die Lendenwirbelsäule ist stabil, eine Materiallockerung ist nicht
nachweisbar.
Nachdem beim Kläger ein stabil ausgeheilter Wirbelbruch ohne Bandscheibenbeteiligung vorliegt, ist nach dem
Verletzungsartenprinzip eine MdE von 20 v.H. angemessen, eine höhere MdE dagegen nicht zu rechtfertigen. Auch
unter Zugrundelegung des Segmentprinzips ergibt sich nur eine MdE von 20 v.H., da bei einer Ankylose (Versteifung)
die Segmentwerte von 3,3 (LWK 1 zu 2) und 3,6 (LWK 2 zu 3) zu verdreifachen sind. Dies hat der Orthopäde Prof. Dr.
L. in Übereinstimmung mit dem Vorgutachter Dr. F. entsprechend den geltenden medizinisch-wissenschaftlichen
Erkenntnissen festgestellt.
Im Ergebnis war die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da kein Zulassungsgrund vorliegt.