Urteil des LSG Bayern vom 05.02.2009

LSG Bayern: erlass, hauptsache, rumänien, rechtsgrundlage, altersrente, obsiegen, akte, rückzahlung, miete, verfügung

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 05.02.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 12 R 4384/08 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 20 B 1111/08 R ER
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 02.12.2008
aufgehoben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind nicht
zu erstatten.
Gründe:
I. Streitig ist im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens, ob auf die der Antragstellerin (ASt) bewilligte
Rente eine fiktive rumänische Rente anzurechnen ist. Die ASt ist deutsche Staatsangehörige und hat auch
rumänische Versicherungszeiten zurückgelegt, aus denen sich ein Anspruch auf eine rumänische Rente in Höhe von
18,15 EUR ergeben würde. Am 28.05.2008 beantragte sie eine Altersrente für Frauen wegen Vollendung des
60.Lebensjahres ab 01.08.2008 und "die Aufschiebung des Leistungsbeginns mit Rumänien gemäß Art. 44 VO (EWG)
1408/71". Mit Bescheid vom 18.08.2008 (Mitteilung über vorläufige Leistung) in der Gestalt des am 09.10.2008
abgesandten Widerspruchsbescheides bewilligte die Ag die Altersrente ab 01.08.2008 in Höhe von 918,84 EUR brutto
abzügl. der - fiktiven - Rente aus Rumänien in Höhe von 18,15 EUR; die Netto-Rente betrug 812,87 EUR monatlich.
Nach Art. 2 und 31 Fremdrentengesetz (FRG) ruhe der Anspruch auf deutsche Rente in Höhe eines bestehenden
Anspruches auf eine rumänische Rente. Dagegen hat die ASt Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben, über
die noch nicht entschieden ist. Bereits am 03.09.2008 hat die ASt beim SG den Erlass einer einstweiligen Anordnung
dahingehend begehrt, ihr die bewilligte Rente ohne Abzug einer nicht gezahlten, hypothetischen Rente aus Rumänien
bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu zahlen. Für die Anrechnung einer tatsächlich nicht gezahlten Rente
aus Rumänien fehle eine Rechtsgrundlage. Etwaige Rentenansprüche würden an die Antragsgegnerin (Ag) abgetreten
werden. Die Kürzung stelle bei der geringen Rente der ASt eine Existenzgefährdung dar. Die Ag hat vorgetragen,
unabhängig vom Fehlen eines Anordnungsanspruches würde auch Ausführungen zum Anordnungsgrund fehlen. Mit
Beschluss vom 02.12.2008 hat das SG die Ag im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, ab 01.08.2008 für
die Dauer des Klageverfahrens Altersrente ohne Abzug einer fiktiven rumänischen Rente zu gewähren. Aufgrund einer
summarischen Prüfung bestünden ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides. Eine
Rechtsgrundlage für die Anrechnung sei nicht erkennbar. Entsprechende Entscheidungen verschiedener
Sozialgerichte und auch des Bayer. Landessozialgerichts (Beschluss vom 02.07.2008 - L 14 B 469/08 R ER -) lägen
vor. Auch ein Anordnungsgrund sei gegeben. Die ASt müsse ihren gesamten Lebensunterhalt von der Netto-Rente in
Höhe von 812,87 EUR bestreiten, der abgezogene Betrag in Höhe von 18,15 EUR sei daher nicht unerheblich. Dass
eine Rückzahlung überzahlter Leistungen ggf. durch die ASt im Falle eines Obsiegens der Ag in der Hauptsache nicht
erfolgen könne, habe die Ag nicht vorgetragen. Dagegen hat die Ag Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht
eingelegt. Die Netto-Rente der ASt liege über dem Durchschnitt der Altersrente für Frauen (703,00 EUR in 2006).
Einen Anordnungsgrund habe die ASt nicht dargelegt. Auch sei aufgrund der Rechtsprechung verschiedener
Landessozialgerichte die Frage der Rechtmäßigkeit der fiktiven Anrechnung zunächst als offen anzusehen (LSG
NRW, Beschluss vom 19.01.2009 - L 14 B 22/08 R ER -, Beschluss vom 15.12.2008 - L 18 B 22/08 R ER -; BayLSG,
Beschluss vom 23.12.2008 - L 1 B 802/08 R ER -). Zur Ergänzung wird auf die beigezogene Akte der Beklagten, die
Akte des SG Nürnberg S 12 R 4460/08 und die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II. Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) ist zulässig und auch
begründet. Der Beschluss des SG ist aufzuheben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist
abzulehnen. Rechtsgrundlage für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zur Regelung eines vorläufigen
Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis stellt im vorliegenden Rechtsstreit § 86b Abs 2 Satz 2 SGG
dar. § 86b Abs 1 SGG kommt hingegen als Rechtsgrundlage nicht in Betracht, denn die zutreffende Klageart ist
vorliegend nicht lediglich eine Anfechtungsklage, sondern eine Anfechtungs- und Leistungsklage. Gemäß § 86b Abs 2
SGG ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann
der Fall, wenn dem ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile
entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG,
Beschluss vom 25.10.1988 - BVerfGE 79, 69/74 -, vom 19.10.1997 -BVerfGE 46, 166/179 - und vom 22.11.2002 -
NJW 2003, 1236 -; Niesel, Der Sozialgerichtsprozess, 4. Aufl. RdNr 643).
Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und
das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiellrechtliche Anspruch, auf den der ASt sein Begehren
stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat der ASt glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 2 und 4 SGG iVm § 920 Abs
2, § 294 Zivilprozessordnung - ZPO -; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG 9.Aufl, § 86b RdNr 41).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des
Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und
Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - Breithaupt 2005, 803 =
NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59 -) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in
der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden
Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der
Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.
Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den
Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist gegebenenfalls auch anhand einer
Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des ASt zu entscheiden (vgl. BVerfG,
Beschluss vom 12.05.2005 aaO und vom 22.11.2002 - NJW 2003, 1236 -; zuletzt BVerfG, Beschluss vom 15.01.2007
-1 BvR 2971/06 -).
In diesem Zusammenhang ist eine Orientierung an den Erfolgsaussichten nur möglich, wenn die Sach- und
Rechtslage abschließend geklärt ist, denn soweit schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare
Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht beseitigt werden können, darf die
Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern sie muss abschließend geprüft werden (BVerfG, Beschluss
vom 12.05.2005 aaO).
Dies zugrunde gelegt, ist vorliegend von offenen Erfolgsaussichten auszugehen. Hinsichtlich der Frage der
Rechtmäßigkeit der Anrechnung einer tatsächlich nicht bezogenen Rente aus Rumänien hat sich bislang keine
einheitliche Rechtsmeinung gebildet, diese Rechtsfrage ist als streitig anzusehen (vgl. einerseits BayLSG, Beschluss
vom 02.07.2008 - L 14 B 469/08 R ER -; andererseits offen lassend: BayLSG, Beschluss vom 23.12.2008 - L 1 B
802/08 R ER -, Beschluss vom 19.08.2008 - L 6 B 523/08 R ER -; LSG NRW, Beschluss vom 19.01.2009 - L 14 B
22/08 R ER -, Beschluss vom 15.12.2008 - L 18 B 22/08 R ER -). Es ist daher entscheidend auf den
Anordnungsgrund abzustellen. Dieser ist von der ASt in keiner Weise glaubhaft dargelegt worden, wobei es sich bei
einem Netto-Rentenbetrag von ca 810,00 EUR nicht um eine existenzsichernde Leistung handelt, wenn dieser um
18,15 EUR gekürzt wurde. Es besteht also kein Grund, weniger strenge Anforderungen an den Anordnungsgrund zu
stellen. Die ASt hat hinsichtlich des Anordnungsgrundes lediglich angegeben, ein Betrag von ca. 810,00 EUR stünde
ihr zum Lebensunterhalt zur Verfügung, sie lebe unterhalb der Armutsgrenze. Es könne nicht von ihr erwartet werden,
diese Einschränkung des Lebensunterhaltes hinzunehmen. Damit aber hat die ASt nicht glaubhaft dargelegt, dass die
einstweilige Anordnung zur Abwendung eines wesentlichen Nachteils erforderlich ist. Der tatsächlich ausgezahlte
Rentenbetrag liegt weit über dem für Grundsicherungsempfänger vorgesehenen Regelsatz. Welche Ausgaben die ASt
neben dem Lebensunterhalt noch zu tragen hat (Miete, Heizung etc.), hat sie - obwohl die Ag auch in der
Beschwerdebegründung ausdrücklich die fehlenden Angaben hierzu angesprochen hat - nicht dargelegt und sie hat
auch nicht erklärt, keine weiteren Einkünfte - ggf. auch im Rahmen einer Lebensgemeinschaft - zu haben. Daher ist
ein Nachteil der ASt, der durch die Nachzahlung im Falle ihres Obsiegens im Hauptsacheverfahren nicht beseitigt
werden könnte, für den Senat nicht erkennbar. Hingegen wäre eine Rückzahlung überzahlter Leistungen bei einem
Obsiegen der Ag der ASt aber gerade dann nicht möglich, wenn die Existenz der ASt durch den Abzug von 18,15
EUR monatlich gefährdet wäre. Im vorliegenden Einzelfall ist deshalb insbesondere auch unter Berücksichtigung der
Höhe des Abzugsbetrages im Verhältnis zur tatsächlich ausgezahlten Rente ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft
dargelegt. Nach alledem war auf die Beschwerde der Ag der Beschluss des SG aufzuheben und der Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).