Urteil des LSG Bayern vom 24.10.2007

LSG Bayern: pflegebedürftigkeit, beratungspflicht, krankenversicherung, krankenkasse, aufklärungspflicht, medien, behandlung, ernährungsberatung, klinik, nebenpflicht

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 24.10.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht München S 18 P 68/04
Bayerisches Landessozialgericht L 2 P 45/06
Bundessozialgericht B 3 P 29/07 B
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 13. Juli 2006 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Gewährung von Pflegeleistungen für die Klägerin ab 1. März 1997.
Mit Schreiben vom 18. März 2003 beantragte die Mutter und Betreuerin der 1985 geborenen Klägerin Pflegegeld und
zusätzliche Betreuungsleistungen für die Klägerin. Mit Gutachten vom 15. Mai 2003 stellte der Medizinische Dienst
der Krankenversicherung (MDK) fest, bei der Klägerin sei im zweiten Lebensjahr ein Prader-Willi-Syndrom
diagnostiziert worden. Als pflegebegründende Diagnosen wurden geistige Retardierung und Adipositas genannt. Mit
Bescheid vom 20. Mai 2003 gewährte die Beklagte der Klägerin eine Geldleistung nach der Pflegestufe I, sowie mit
Bescheid vom 26. Mai 2003 zusätzliche Leistungen zur Finanzierung des Betreuungsbedarfs.
Mit Schreiben vom 6. November 2003 führte die Klägerin aus, die Diagnose ihrer Erkrankung sei der Krankenkasse
frühzeitig durch die zahlreichen ärztlichen Berichte und Klinikaufenthalte seit ihrer Geburt bekannt geworden. Die
Beklagte habe ihre Aufklärungspflichten versäumt. Die Beklagte erklärte im Schreiben vom 20. November 2003, die
Klägerin sei seit dem 1. März 1997 familienversichert, vorher habe eine private Versicherung bei der D. bestanden.
Gemäß § 7 Abs. 2 S. 2 des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) hätten der behandelnde Arzt oder das
Krankenhaus unverzüglich die Pflegekasse zu benachrichtigen, wenn sich der Eintritt von Pflegebedürftigkeit
abzeichne. Eine derartige Information habe nicht vorgelegen. Nach Angaben der Mitarbeiter habe die gesetzliche
Vertreterin der Klägerin vor der Antragstellung keinen Kontakt zur Geschäftsstelle gehabt. Es habe daher kein Anlass,
von Amts wegen tätig zu werden, bestanden. Ein Beratungsmangel liege nicht vor. Durch zahlreiche
Veröffentlichungen, insbesondere durch die Mitgliederzeitschriften, die auch die Familie der Klägerin erhalten habe,
habe die Beklagte über die Pflegeversicherung aufgeklärt. Die Klägerin vertrat im Schreiben vom 28. November 2003
weiterhin die Auffassung, aus den ärztlichen Unterlagen und den abgerechneten Leistungen sei für die Beklagte
deutlich erkennbar gewesen, dass ein Hinweis auf Hilfen wegen Pflegebedürftigkeit geboten gewesen sei.
Mit Bescheid vom 10. Dezember 2003 lehnte die Beklagte eine rückwirkende Gewährung von Pflegeleistungen ab.
Den Widerspruch der Klägerin wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 19. März 2004 zurück. Ohne ausdrückliche
Anfrage bestehe keine Verpflichtung, Belehrungen und Ratschläge zu erteilen. Die Versicherungsträger wären
überfordert, wenn sie in die individuellen Gegebenheiten und die rechtlichen Zusammenhänge der Lebenssituation
ihrer Mitglieder einzudringen verpflichtet wären, um einen nützlichen Hinweis geben zu können.
Zur Begründung der Klage führte die Klägerin aus, die Beklagte sei ihrer Informationspflicht nicht nachgekommen,
obwohl sich ihr hätte aufdrängen müssen, dass eine Leistung aus der Pflegeversicherung schon früher hätte gewährt
werden sollen. Die Beklagte wies im Schreiben vom 4. August 2004 nochmals darauf hin, dass sie ihrer
Aufklärungspflicht durch zahlreiche Veröffentlichungen in den Medien nachgekommen sei. Sie sei aber nicht
verpflichtet gewesen, die Klägerin aufgrund der ärztlichen Diagnosen und der abgerechneten Leistungen konkret auf
Hilfen wegen Pflegebedürftigkeit hinzuweisen.
Mit Urteil vom 13. Juli 2006 wies das Sozialgericht München die Klage ab. Gemäß § 33 SGB XI erhielten Versicherte
Leistungen der Pflegeversicherung auf Antrag. Ein früherer Leistungsbeginn ergebe sich nicht aus dem
sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, denn die Beklagte habe weder gegen die in § 7 Abs. 2 SGB XI geregelte
Verpflichtung verstoßen, die Versicherten zu beraten, noch liege ein Verstoß gegen die in § 13 Abs. 1 des Ersten
Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB I) normierte allgemeine Aufklärungspflicht vor. § 7 SGB XI konkretisiere die
gemäß §§ 14, 15 SGB I bestehenden Auskunfts- und Beratungspflichten. Eine Beratungspflicht bestehe nur aus
konkretem Anlass. Zwar bestehe auch eine Beratungs- und Belehrungspflicht als Nebenpflicht bei
Verwaltungskontakten; Voraussetzung hierfür sei jedoch ein näherer Kontakt, z.B. in Form eines laufenden
Verwaltungsverfahrens, in dessen Rahmen auf klar zu Tage tretende, aber ungenutzte Gestaltungsmöglichkeiten
hinzuweisen sei. Ein derartiger näherer Kontakt habe im vorliegenden Fall vor dem Antrag nicht stattgefunden. Die
beklagte Pflegeversicherung sei nicht identisch mit der Krankenversicherung. Die bloße Inanspruchnahme von
Leistungen über die Versicherungskarte reiche nicht aus, um eine konkrete Beratungs- und Aufklärungspflicht
auszulösen. Eine Verpflichtung, allein aufgrund ärztlicher Diagnosen und abgerechneter
Krankenversicherungsleistungen Rückschlüsse auf Pflegebedürftigkeit zu ziehen, würde zu einer Überforderung der
Sozialleistungsträger führen. Ihren allgemeinen Aufklärungspflichten sei die Beklagte durch Veröffentlichungen in den
Medien nachgekommen. Dass die Familie der Klägerin unter Umständen wegen mangelnder Sprachkenntnisse nicht
genügend informiert gewesen sei, falle nicht in den Verantwortungsbereich der Beklagten.
Mit der Berufung machte die Klägerin geltend, aus dem Wortlaut des § 7 Abs. 2 S. 1 SGB XI ergebe sich, dass die
Aufklärungs- und Beratungspflicht bereits dann ausgelöst werde, wenn der zuständige Sachbearbeiter davon Kenntnis
erlange, dass ein Pflegefall vorliege. Die Beklagte habe von der Erkrankung der Klägerin gewusst und somit die
Pflicht gehabt, sie hinsichtlich einer Antragstellung frühestmöglich aufzuklären. Die Auslegung des § 7 Abs. 2 S. 1
SGB XI durch das Sozialgericht benachteilige die Versicherten und sei daher rechts- und systemwidrig. Die Klägerin
und ihre gesetzliche Vertreterin seien, wie auch der Beklagten bekannt gewesen sei, Kroatinnen und der deutschen
Sprache nicht mächtig. Schon dies hätte die Beklagte veranlassen müssen, eine Beratung durchzuführen. Die
Pflegebedürftigkeit der Klägerin sei der Beklagten von früheren Kontakten bekannt gewesen, so z.B. wegen
Krankenhausaufenthalten. Die Beklagte habe ihre Aufklärungspflicht grob vernachlässigt.
Die Beklagte erklärte im Schreiben vom 17. April 2007, ein Sozialversicherungsträger sei nach der ständigen
Rechtsprechung des BSG bei einem konkreten Anlass verpflichtet, auf klar zu Tage liegende
Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen. Vor der Antragstellung habe keinerlei Kontakt zwischen der Klägerin und der
Beklagten bestanden. Die bloße Inanspruchnahme von Leistungen reiche nicht aus, um eine konkrete Aufklärungs-
und Beratungspflicht zu begründen. Bei der Krankenversicherung und der Pflegeversicherung handle es sich um
unterschiedliche Körperschaften des öffentlichen Rechts. Die Kenntnis der Krankenversicherung von abgerechneten
Leistungen könne der Beklagten nicht ohne weiteres zugerechnet werden.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 25. Oktober 2007 erklärte der Vertreter der Beklagten, dass nach Lage
der Akten ein Krankenhausaufenthalt der Klägerin vom 28. September bis 7. November 1998, eine
Ernährungsberatung 1999 und eine stationäre Reha-Maßnahme 2001 in einer Klinik für Kinder und Jugendliche mit der
Fachrichtung Atemwegserkrankungen, Hauterkrankungen, Adipositas, Neurodermitis, Psoriasis, Psychosomatik und
Kardiologie bekannt seien. 1998 und 1999 habe außerdem eine Kurzzeit-Psychotherapie stattgefunden. Die
Krankenversicherung erhalte nach Abschluss von Heilverfahren und sonstigen Behandlungen keine Berichte, aus
denen nähere Angaben über den Zustand der Patienten zu ersehen seien.
Der Bevollmächtigte der Klägerin erklärte, er könne zum Ergebnis der mündlichen Verhandlung nicht Stellung nehmen,
weil er eine Rücksprache mit seiner Mandantschaft benötige.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 13. Juli 2006 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des
Bescheides vom 10. Dezember 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. März 2004 zu verurteilen, ihr
für die Zeit vom 1. März 1997 bis 28. Februar 2003 Leistungen der Pflegeversicherung zu gewähren. Weiter beantragt
sie, ihr Schriftsatzfrist einzuräumen, um zum heutigen Vortrag der Beklagten über Krankenhausaufenthalte und
Behandlungen Stellung nehmen zu dürfen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten sowie der Klage- und
Berufungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, sachlich aber nicht begründet.
Zu Recht hat das Sozialgericht München die Klage abgewiesen. Von einer weiteren Darstellung der
Entscheidungsgründe wird abgesehen, da der Senat die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung
als unbegründet zurückweist (§ 153 Abs. 2 SGG).
Ergänzend ist noch darauf hinzuweisen, dass auch das Vorbringen der Klägerin im Berufungsverfahren zu keiner
anderen Beurteilung der Sach- und Rechtslage führen kann. Gemäß § 14 SGB I hat zwar jeder Versicherte Anspruch
auf Beratung über seine Rechte und Pflichten; zuständig für die Beratung sind die Leistungsträger, denen gegenüber
die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind. Eine Beratungspflicht besteht aber nur aus
konkretem Anlass. Der Leistungsträger ist nicht verpflichtet, ohne jeglichen Anlass zu ermitteln, ob ein
Beratungsbedarf besteht. Die Beratungspflicht des § 14 SGB I wird grundsätzlich durch ein entsprechendes Ersuchen
ausgelöst (vgl. BSG vom 16.12.2003, SozR 3-1200 § 14 Nr. 12). Zwar besteht auch eine Beratungs- und
Belehrungspflicht als Nebenpflicht bei bestehenden Verwaltungskontakten. Sie setzt aber einen näheren Kontakt
zwischen Berechtigten und Leistungsträger, meist in der Form eines laufenden Verwaltungsverfahrens, voraus. Der
Leistungsträger hat, etwa bei der Prüfung eines Leistungsantrags, den Berechtigten auf klar zu Tage tretende, aber
ungenützte Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, wenn deren Wahrnehmung offensichtlich so zweckmäßig ist, dass
sie ein verständiger Berechtigter mutmaßlich nutzen würde. Konkretisiert wird diese Beratungspflicht in § 7 Abs. 2 S.
1 SGB XI, wonach die Versicherten und ihre Angehörigen umfassend über alle Fragen der Pflegebedürftigkeit zu
beraten sind (vgl. BSG vom 30. Oktober 2001, SozR 3-3300 § 12 Nr.1). Auch hier besteht die Beratungspflicht nicht
losgelöst von einem konkreten, den Eintritt von Pflegebedürftigkeit betreffenden Anlass. Allein aus der Abrechnung
von Krankenversicherungsleistungen kann aber, worauf das Sozialgericht zu Recht hingewiesen hat, ein konkreter
Anlass zur Beratung der Klägerin über die Möglichkeit der Antragstellung bei der Pflegeversicherung nicht hergeleitet
werden. Ein konkreter Anlass zur Beratung ergab sich für die Beklagte vor der Antragstellung nicht.
Ein Anspruch lässt sich auch nicht daraus ableiten, dass die Krankenkasse verpflichtet gewesen wäre, die Klägerin
auf die Möglichkeit der Antragstellung bei der Pflegekasse hinzuweisen. Dies ist schon deshalb nicht möglich, weil die
Krankenkasse nach Abschluss von Behandlungsmaßnahmen bzw. stationären Heilverfahren aus Datenschutzgründen
nicht über die Diagnosen der Versicherten unterrichtet werden. Auch aus dem Antrag zur Aufnahme der Klägerin in die
Familienversicherung ihrer Mutter vom 13. März 1997 ergeben sich keinerlei Angaben über eine etwaige
Pflegebedürftigkeit der Klägerin. Die der Krankenkasse bekannten Tatsachen, wie der Krankenhausaufenthalt 1998,
die stationäre Reha-Maßnahme 2001 sowie Ernährungsberatung 1999 und Kurzzeit-Psychotherapien 1998 und 1999,
erlauben keine Beurteilung der Frage der Pflegebedürftigkeit. Insbesondere erfolgte die Behandlung im Jahr 2001 in
einer Klinik für Kinder und Jugendliche, deren Fachrichtung keinen Anlass bot, bei der Klägerin wegen der dort
durchgeführten Behandlung Pflegebedürftigkeit zu vermuten. Die Sachbearbeiter der Krankenversicherung würden
überfordert, wenn man von ihnen verlangen würde, aus ärztlichen Diagnosen Rückschlüsse auf eventuelle
Pflegebedürftigkeit zu ziehen. Im Übrigen handelt es sich bei der Pflegekasse und der Krankenkasse um zwei
getrennt geführte Versicherungsträger.
Eine Vertagung, um dem Bevollmächtigten der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme zu den in der mündlichen
Verhandlung von der Beklagten vorgetragenen Tatsachen zu geben, war nicht erforderlich. Denn der Klägerin bzw.
ihrer Betreuerin waren die Behandlungen, wie sie die Beklagte in der mündlichen Verhandlung angegeben hat,
bekannt. Wenn sie ihren Bevollmächtigten nicht vor der mündlichen Verhandlung darüber informiert hat, liegt dieses
Versäumnis in ihrem Verantwortungsbereich. Ein näherer Hinweis des Gerichts darauf, dass der Gesundheitszustand
der Klägerin von wesentlicher Bedeutung ist, war nicht erforderlich, da diese Frage auf der Hand liegt und der
Betreuerin und dem Bevollmächtigten, wie sich aus den Schriftsätzen des Bevollmächtigten ergibt, auch bekannt war.
Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.