Urteil des LSG Bayern vom 13.04.2007

LSG Bayern: einkommen aus erwerbstätigkeit, treu und glauben, gefahr im verzug, wohnung, freibetrag, leistungsanspruch, druck, ddr, offenkundig, wohngemeinschaft

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 13.04.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 1 AS 229/06
Bayerisches Landessozialgericht L 7 AS 332/06
I. Die Beklagte wird auf Grund ihres Teil-Anerkenntnisses unter Abänderung des Gerichtsbescheides des
Sozialgerichts Augsburg vom 20. November 2006 verurteilt, der Klägerin für den Zeitraum vom 1. November 2005 bis
zum 30. April 2006 monatlich weitere 105,26 Euro zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. II. Die
Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin beider Rechtszüge zu einem Viertel. III. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob sich die Klägerin im Rahmen der Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem SGB II fiktive Zuwendungen ihrer Mutter als Einkommen anrechnen lassen muss.
Die Klägerin ist 61 Jahre alt, ledig und hat keine Kinder. Am 31.12.1986 siedelte sie aus der damaligen DDR in die
Bundesrepublik Deutschland über. Im streitgegenständlichen Zeitraum, vom 01.11. 2005 bis 30.04.2006, war sie
arbeitslos und bezog kein eigenes Einkommen. Arbeitslosenhilfe erhielt sie zuletzt im Jahr 1993; seither hat sie kein
wesentliches Einkommen mehr zu verzeichnen.
Die Klägerin wohnt seit 1990 im Haushalt ihrer alleinstehenden Mutter, so auch im streitgegenständlichen Zeitraum.
Dieser Umstand führte bereits dazu, dass ihr Hilfe zum Lebensunterhalt vorenthalten blieb. So lehnte die Stadt K. mit
Bescheid vom 16.12.2003 die Gewährung laufender Hilfe zum Lebensunterhalt ab, weil eine Haushaltsgemeinschaft
nach § 16 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) bestanden hätte und die Gewährung von Lebensunterhalt durch die
Mutter, die dazu in der Lage gewesen wäre, hätte erwartet werden können. Bei der Wohnung der Mutter handelt es
sich um eine 1 ½ Zimmer-Wohnung mit einer Wohnfläche von 48,4 qm.
Die Mutter bezog im streitgegenständlichen Zeitraum eine Altersrente von der Deutschen Rentenversicherung Bund in
Höhe von 745,03 EUR und eine Witwenrente in Höhe von 836,02 EUR. Seit dem 01.07.2005 belaufen sich die
monatlichen Gesamt-Unterkunfts- und Heizungskosten auf 302,00 EUR. Die Kaltmiete beträgt 196,00 EUR. Hinzu
kommt ein monatlicher Betrag von 11,00 EUR für Hausreinigung, von 55,00 EUR als Betriebskosten-Vorauszahlung
und von 40,00 EUR als Heizkosten-Vorauszahlung.
Seit 07.01.2005 erhält die Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Für die Monate
Januar bis Mai 2005 gewährte die Beklagte Leistungen unter Außerachtlassung der Vermutung nach § 9 Abs. 5 SGB
II. Diese wurde erst ab 01.06.2005 berücksichtigt. So reduzierte die Beklagte mit Änderungsbescheid vom 26.04.2005
die monatliche Leistung für den Monat Juni von zunächst festgesetzten 217,40 EUR auf 38,55 EUR. Der gleiche
Betrag wurde ihr mit Bescheid vom 10.06.2005 für die Monate Juli bis einschließlich Oktober 2005 zuerkannt. Die
Leistungen für den streitgegenständlichen Zeitraum beantragte die Klägerin am 12.10.2005. Entsprechend der
bisherigen Praxis gewährte ihr die Beklagte mit Bescheid vom 21.10.2005 lediglich 38,55 EUR monatlich. Aufgrund
der Vermutung des § 9 Abs. 5 SGB II nahm die Beklagte dabei Einkommen von 306,45 EUR an.
Gegen den Bescheid vom 21.10.2005 legte die Klägerin Widerspruch ein (Schreiben vom 04.11.2005). Mit dem
Widerspruchsschreiben reichte sie einen Heil- und Kostenplan für eine Teleskopversorgung des Unterkiefers ihrer
Mutter ein. Dieser wies einen Eigenanteil der Mutter in Höhe von 5.817,32 EUR aus. Daneben machte die Klägerin
darauf aufmerksam, ein Kostenvoranschlag für den Oberkiefer sei ärztlicherseits bereits in gleicher Höhe avisiert. Mit
Schreiben vom 23.01.2006 bat die Be-klagte die Klägerin, Nachweise zu den Kieferbehandlungen der Mutter
vorzulegen. Eine Reaktion seitens der Klägerin hierauf erfolgte nicht.
Wegen der ab 01.07.2005 ungünstigeren Einkommens- und Bedarfssituation der Mutter änderte die Beklagte ihre
Bewilligungsbescheide entsprechend. Für den streitgegenständlichen Zeitraum setzte sie mit Bescheid vom
22.02.2006 monatliche Leistungen in Höhe von 65,74 EUR fest. Die Mutter der Klägerin sei in der Lage, diese in Höhe
von 279,53 EUR monatlich zu unterstützen. Mit Widerspruchsbescheid vom 23.02.2006 wies die Beklagte den
Widerspruch im Übrigen als unbegründet zurück.
Dagegen erhob die Klägerin mit Schriftsatz vom 16.03.2006 Klage zum Sozialgericht Augsburg. Sie wende sich mit
ihrer Klage, so die Klägerin, gegen die Anwendung von § 9 Abs. 5 SGB II. Die bestehende Wohngemeinschaft mit
ihrer Mutter sei ein Notbehelf. Aus der langen Dauer dieser Wohngemeinschaft dürfe nicht geschlossen werden, sie
werde von ihrer Mutter materiell unterstützt. Die Alg II-Leistungen der Beklagten würden zur Existenzsicherung nicht
ausreichen und zudem die Mutter weitgehend an die Sozialgrenze drängen. Das Sozialgericht hat die Klägerin befragt
(Schriftsatz vom 23.05.2006), welche Zahlungen wegen der Kieferbehandlung der Mutter auf den Eigenanteil in
welcher Höhe in welchen Monaten bereits abgewickelt worden seien oder abgewickelt würden. Wiederum hat die
Klägerin darauf nicht ge-antwortet.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 20. November 2006 abgewiesen. Zur Begründung hat es
ausgeführt, bei der seit über einem Jahrzehnt bestehenden Haushaltsgemeinschaft und der Einkommenslosigkeit der
Klägerin über Jahre ergäben sich keine Anhaltspunkte für die Widerlegung der Vermutung des § 9 Abs. 5 SGB II.
Auch im Klageverfahren sei trotz neuerlicher Aufforderung nichts dazu vorgetragen worden, dass zum Beispiel wegen
Aufwendungen für eine Zahnbehandlung für Zeiten des streitigen Zeitraums nicht mehr die Vermutung nach § 9 Abs. 5
SGB II zugrunde gelegt werden könnte.
Dagegen hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 12.12.2006 Berufung eingelegt. Trotz zweimaliger schriftlicher
Aufforderung hat sie keine Berufungsbegründung eingereicht. Auch einen Antrag hat sie nicht gestellt. Ihr Begehren
zielt jedoch darauf, ihr für den streitgegenständlichen Zeitraum Alg II-Leistungen zu gewähren, ohne die Vermutung
des § 9 Abs. 5 SGB II greifen zu lassen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Beklagte unter Aufhebung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts
Augsburg und unter Abänderung der Bescheide vom 21.10.2005 und 22.02.2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 01.11.2005 bis 30.04.2006 höheres Arbeitslosengeld II zu
zahlen.
In der mündlichen Verhandlung hat die Beklagte ein Teil-Anerkenntnis in einer Höhe von monatlich weiteren 105,26
EUR abgeben. Im Übrigen beantragt sie, die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten der Gerichts- und des Verwaltungsverfahrens wird auf die Verwaltungsakten der
Beklagten sowie die Akten des Sozialgerichts und des Bayer. Landessozialgerichts verwiesen. Sie lagen allesamt vor
und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig. Streitig sind Geldleistungen von mehr als 500,00 EUR (§
144 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG). Sie ist jedoch nur teilweise begründet. Das Sozialgericht hat
die Klage teils zu Recht, teils zu Unrecht abgewiesen. Der Klägerin stehen höhere Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts in der Tat zu, wenn auch nicht im beantragten Umfang.
1. Streitgegenstand ist nur der Zeitraum vom 01.11.2005 bis 30.04.2006. Denn die Klägerin hat sich ausschließlich
gegen den Widerspruchsbescheid vom 23.02.2006, nicht aber gegen den vom 23.01.2006, gewandt. Ihr
Klageschriftsatz kann nur so ausgelegt werden. Daran ändert auch nichts, dass sie als Anlage dazu auch die beiden
Bescheide vom 04.01.2006, die den Zeitraum vorher betreffen, mit übersandt hat.
Die Beklagte hat im vorliegenden Fall keine Entscheidung nach § 66 Abs. 1 SGB I getroffen, sondern abschließend
negativ entschieden. Nur diese Auslegung erscheint zutreffend, zumal die Beklagte bereits im Schreiben vom
23.01.2006 darauf hingewiesen hatte, würde die Klägerin keine Nachweise zur Kieferbehandlung ihrer Mutter
einreichen, würde sie nach Aktenlage entscheiden.
2. Soweit sich das Anerkenntnis der Beklagten erstreckt, ist die Klage schon allein wegen des Anerkenntnisses
begründet. Auch im Sozialgerichtsprozess ist ein Anerkenntnisurteil gemäß § 202 SGG i.V.m. § 307 ZPO
grundsätzlich zulässig (Meyer-Ladewig in: Ders./Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 8. Auflage 2005, § 125 RdNr. 3
h). Auch im konkreten Fall ergeben sich keine rechtlichen Bedenken; denn die Klägerin war in der mündlichen
Verhandlung, in der die Beklagte das Anerkenntnis abgegeben hat, nicht anwesend.
3. Über den Umfang des Anerkenntnisses hinaus steht der Klägerin jedoch kein höherer Leistungsanspruch zu,
weswegen die Berufung insoweit zurückzuweisen war.
3.1 Unbedenklich ist, dass die Beklagte hier keine verfahrensbezogene Entscheidung nach § 66 Abs.1 SGB I,
sondern eine (verfahrensabschließende) in der Sache getroffen hat. Die Leistungsträger sind in denjenigen Fällen auf
das Reglement der § 60 ff. SGB I beschränkt, in denen wegen Obliegenheitsverletzungen der Hilfesuchenden noch
nicht alle Ermittlungen haben durchgeführt werden können, welche nach den Grundsätzen der Amtsermittlungspflicht
aber notwendig wären. Trifft ein Leistungsträger bei derartigen Ermittlungslücken dagegen eine Sachentscheidung, so
kann dies nur hingenommen werden, wenn er nach den Gesamtumständen - wobei auch Zumutbarkeitsaspekte in die
Überlegungen einfließen dürfen und müssen - seiner Amtsermittlungspflicht genügt hat. Dass die Beklagte hier
offenbar angenommen hat, sie sei zu weiteren Ermittlungen nicht verpflichtet, kann nicht beanstandet werden. Die
Klägerin hat ein Verhalten an den Tag gelegt, das die Beklagte richtiger Weise dahin ausgelegt hat, weitere
Ermittlungen seien nicht geeignet, neue Erkenntnisse zu bringen: Die Klägerin hat nicht reagiert, obwohl die Vorlage
von Nachweisen zur Kieferbehandlung der Mutter offenkundig für sie von Vorteil gewesen wäre. So bestehen
erhebliche Zweifel, ob überhaupt entsprechende Unterlagen exis-tieren, und damit, ob der Mutter tatsächlich
entsprechende Aufwendungen entstanden sind oder entstehen. Angesichts dessen durfte die Beklagte von weiteren
Ermittlungen absehen. Sie war nicht gehalten, auf das Instrumentarium des § 66 Abs.1 SGB I zurückzugreifen,
sondern durfte eine Unaufklärbarkeit und damit eine Non-liquet-Situation unterstellen.
3.2 Zwischen der Klägerin und ihrer Mutter besteht eine Haushaltsgemeinschaft im Sinn von § 9 Abs. 5 SGB II, was
die Vermutungswirkung dieser Regelung auslöst. Eine Haushaltsgemeinschaft in diesem Sinn setzt voraus, dass die
betreffenden Per-sonen zusammen leben und auch "aus einem Topf" wirtschaften (vgl. Begründung zum
Fraktionsentwurf eines Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, BTDrucks 15/1516, S. 53;
Hänlein in: Gagel, SGB III mit SGB II, § 9 SGB II Rdnr. 63 ; Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB II, § 9 RdNr. 158 );
insoweit lehnt sich das Gesetz an die entsprechende Regelung in § 16 BSHG an (anders § 36 SGB XII, wonach die
Vermutungswirkung auch dann greifen kann, wenn kein Verwandtschafts- oder Schwägerschaftsverhältnis besteht;
vgl. dazu Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 23.08.2005 - L 9 AS 34/05 ER). Das primäre Problem
besteht allgemein darin, Haushaltsgemeinschaften von bloßen Wohngemeinschaften zu unterscheiden, bei denen ein
getrenntes Wirtschaften vorliegt (vgl. Hengelhaupt, a.a.O., § 9 RdNr. 157 ; Adolph in: Linhart/ders., SGB II - SGB XII -
Asylbewerberleistungsgesetz, § 9 SGB II RdNr. 37).
Auch wenn allgemein die Feststellung, ob ein "Wirtschaften aus einem Topf" vorliegt, erhebliche Schwierigkeiten
bereiten kann, so trifft das auf den hier vorliegenden Fall nicht zu. Ein gemeinsames Wohnen und Wirtschaften lässt
sich ohne Probleme feststellen. Ein Indiz besteht zunächst darin, dass die Klägerin dieses auch gar nicht bestreitet.
Gegen die Annahme einer Haushaltsgemeinschaft wendet sie lediglich ein, sie habe diese aus einer Notlage heraus
begründet. Vor allem aber lassen die objektiv vorliegenden Verhältnisse keinen anderen Schluss zu. Dass zwischen
der Klägerin und ihrer Mutter im streitgegenständlichen Zeitraum ein gemeinsames Wohnen vorlag, liegt auf der Hand.
Innerhalb der kleinen Eineinhalb-Zimmer-Wohnung war eine räumliche Trennung dergestalt, dass von zwei
verschiedenen Wohnungen ausgegangen werden könnte, naturgemäß überhaupt nicht möglich. Die beiden Frauen
mussten zwangsläufig Räume, Mobiliar und Gegenstände gemeinsam nutzen. Von daher verfängt der Einwand der
Klägerin nicht, ihre Mutter habe ihr ein gesondertes Zimmer innerhalb der Wohnung überlassen. Für ein
Zusammenwohnen spricht auch, dass die Mutter die gesamten Unterkunftskosten trug.
Der Senat bejaht auch ein "gemeinsames Wirtschaften aus einem Topf". Das gewichtigste Argument dafür liegt darin,
dass die Klägerin seit 1993 kein Einkommen mehr hatte. Sie konnte ihren Lebensunterhalt nur durch die
Unterstützung seitens ihrer Mutter bestreiten. Die Einkünfte der Mutter wurden also dazu verwendet, den Bedarf
beider Frauen zu decken. Der Nachweis für ein "Wirtschaften aus einem Topf" ist damit bereits erbracht. Der Einwand
der Klägerin, ihre Mutter habe nur Darlehen ge-währt, ist nicht glaubhaft. Zudem würde es daran mangeln, dass diese
vermeintlichen Darlehen nicht einem so genannten Fremdvergleich standhalten könnten, also nicht im Wesentlichen
den Darlehensbedingungen entsprechen würden, die unter nicht Verwandten üblich sind.
Der rechtliche Schluss vom gemeinsamen Wirtschaften auf eine Haushaltsgemeinschaft könnte nur dann bedenklich
sein, wenn die Mutter möglicherweise als "Nothelferin" im Sinn von § 25 SGB XII oder § 121 BSHG gehandelt hätte.
Denn man dürfte der Klägerin nicht zum Nachteil gereichen lassen, wenn ihre Mutter sie nur und gerade deswegen
unterstützt hätte, weil die Beklagte nicht geleistet hätte. Wäre Gefahr im Verzug gewesen und hätte die Mutter quasi
in Ersatzvornahme für die Beklagte gehandelt, um ihre Tochter vor dem Niedergang zu bewahren, würde es gegen den
Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen, ihre Leistung als tatsächliches oder fingiertes Einkommen zu werten. In
Anlehnung an das Sozialhilferecht müsste die Mutter jedoch im Rahmen eines "Eilfalls" gehandelt haben.
Voraussetzung dafür wäre, dass in einer plötzlich auftretenden Notlage sofort gehandelt und durch den Nothelfer
sofort geholfen werden müsste; hinzukommen müsste, dass eine rechtzeitige Hilfe durch den Sozialleistungsträger
objektiv nicht zu erlangen wäre (vgl. Adolph, a.a.O., § 25 SGB XII RdNr. 9 ). Diese Konstellation ist hier nicht
gegeben, auch wenn die Klägerin moniert, ihr seien - von welcher Seite auch immer - Sozialleistungen vorenthalten
worden.
Des weiteren erscheint zwar nicht unproblematisch, ob über den Nothelfer-Fall hinaus bei bestimmten Motiven für das
gemeinsame Wirtschaften möglicherweise gleichwohl der rechtliche Schluss auf eine Haushaltsgemeinschaft
unzulässig sein könnte; als Beispiel sei die unfreiwillige Unterstützung genannt, weil der Leistungsträger zu Unrecht
seine Leistung abgelehnt hat (vgl. die Wertung von § 13 Abs. 3 Satz 1 2. Alternative SGB V). Eine solche
Unterstützung unter Druck hat die Mutter indes nicht gewährt. Es spricht vielmehr alles dafür, dass die beiden Frauen
sich bewusst und freiwillig für ein Zusammenleben im Sinn eines gemeinsamen Wohnens und Wirtschaftens
entschieden haben, ohne dass wirtschaftlicher Druck der dominierende Beweggrund war. Bereits zum 20.08.1990 war
die Klägerin in der Wohnung ihrer Mutter gemeldet. Dabei mag es durchaus sein, dass, wie die Klägerin behauptet, die
Gemeinschaft anfangs in erster Linie aus finanziellen Motiven begründet worden war. Im Lauf der Zeit aber war nach
Überzeugung des Senats existenzieller Druck nicht mehr primäres Motiv. Bis 1993 bezog die Klägerin
Arbeitslosenhilfe. Laut Schreiben der Klägerin vom 12.01.2004 an die Stadt K. hatte sie 1992 ohne Erfolg Sozialhilfe
beantragt. Den nächsten Antrag stellte sie dagegen, wiederum ohne Erfolg, erst 2003. Das lässt nur den Schluss zu,
dass sich die Frauen mit der ersten Ablehnung des Sozialhilfeträgers über lange Jahre hinweg arrangiert hatten. Sie
hatten ihr weiteres Leben offenbar langfristig ohne Einbeziehung möglicher Sozialleistungen geplant. Das aber setzte
angesichts der wirtschaftlichen Lage der Klägerin geradezu voraus, dass die Mutter diese unterstützte. Daraus lässt
sich weiter ableiten, dass die Mutter für ihre Tochter vorwiegend aus eigenbestimmter Motivation finanziell einstehen
wollte (auch wenn staatliche Hilfe willkommen gewesen wäre). Diese Einschätzung findet ihre Bestätigung darin,
dass, wie die Klägerin wiederholt vorgetragen hat, ihre Mutter ihr gegenüber offenbar ein tiefes Fürsorgegefühl gehegt
hat, das unabhängig von behördlichem Verhalten bestanden hat. So hat die Klägerin offenbar bereits zu DDR-Zeiten
erhebliche Unterstützung erfahren. Man muss somit von einer gefestigten Einstandsgemeinschaft ausgehen.
3.3 Steht mithin fest, dass eine Haushaltsgemeinschaft zwischen Verwandten, hier Mutter und Tochter, bestanden
hat, wird zum Einen (dem Grunde nach) vermutet, dass die Klägerin von der Mutter Leistungen erhalten hat. Die
Vermutungswirkung bezieht sich aber auch auf deren Höhe. Die Vermutung bezüglich der Höhe wird konkretisiert
durch § 1 Abs. 2 Alg II-V. Die Beklagte hat die Nettobeträge der beiden Renten der Mutter addiert (1.581,05 EUR).
Zutreffend hat sie vom Nettorentenbetrag gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Nr. 1
Alg II-V die Versicherungspauschale in Höhe von 30 EUR subtrahiert. Der Freibetrag nach § 1 Abs. 2 Alg II-V beträgt
das Doppelte des nach § 20 Abs. 2 SGB II maßgebenden Regelsatzes, nämlich 690 EUR (da die Klägerin und ihre
Mutter keine Bedarfsgemeinschaft bilden, ist hier der volle Regelsatz in Höhe von 345 EUR anzusetzen, vgl. Brünner
in: LPK-SGB II, 2. Auflage 2007, § 20 RdNr. 17), zuzüglich der anteiligen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung
(151,00 EUR). Somit errechnet sich ein Freibetrag von 841 EUR. Die über den Freibetrag hinaus gehenden bereinigten
Einnahmen belaufen sich auf 710,05 EUR (1.551,05 EUR./. 841,00 EUR). Davon muss die Hälfte "eingesetzt" werden,
also 355,02 EUR. Davon muss wiederum die Versicherungs-Pauschale in Höhe von 30 EUR abgezogen werden. Denn
das Ergebnis von § 9 Abs. 5 SGB II ist, dass Einkommen fingiert wird. Dann aber erscheint es nur konsequent, die
Pauschale, die nicht Einkommen aus Erwerbstätigkeit vorbehalten ist, zu Gunsten der Klägerin zu subtrahieren. Der
monatliche Bedarf der Klägerin beträgt demgegenüber 496,00 EUR (345,00 EUR Regelleistung + 151,00 EUR anteilige
Kosten für Unterkunft und Heizung). Unter Beachtung der Rundungsvorschriften ergibt sich nach allem ein
Leistungsanspruch von monatlich 171,00 EUR. Unter Berücksichtigung dessen, was der Klägerin bereits
zugesprochen war (65,74 EUR), wären ihr noch monatlich 105,26 EUR nachzuzahlen. Diesen Anspruch hat die
Beklagte anerkannt.
3.4 Darüber hinaus aber hat die Klägerin keinen Leistungsanspruch. Nicht relevant sind zum Einen die reklamierten
Kosten für Kieferbehandlungen der Mutter. Es bedarf hier keiner Entscheidung, ob derartige Kosten, würden sie denn
tatsächlich an-fallen, bereits der Vermutungswirkung von vornherein ganz oder teilweise entgegen stünden oder erst
im Rahmen der Vermutungswiderlegung relevant würden. Der Senat tendiert dazu, bereits das Entstehen der
Vermutungswirkung berührt zu sehen, so dass insoweit voll die Amtsermittlungspflicht greifen würde. Doch auch unter
dieser Prämisse hat die Beklagte zu Recht keine Kosten für Kieferbehandlungen berücksichtigt. Die Klägerin hat
weder auf Anfragen der Beklagten noch des Sozialgerichts nach den angefallenen oder anfallenden Kosten reagiert,
obwohl die Vorlage von Nachweisen offenkundig für sie von Vorteil gewesen wäre. So bestehen erhebliche Zweifel, ob
überhaupt entsprechende Unterlagen existieren, und damit, ob der Mutter tatsächlich entsprechende Aufwendungen
entstanden sind oder entstehen. Weitere Ermittlungsversuche gebietet das Amtsermittlungsprinzip nicht. Die Beklagte
war deshalb nicht gehalten, auf das Instrumentarium des § 66 Abs.1 SGB I zurückzugreifen. Sie durfte vielmehr eine
Unaufklärbarkeit und damit eine Non-liquet-Situation unterstellen, was sich nach den Grundsätzen der objektiven
Beweislast zu Ungunsten der Klägerin auswirken muss.
Nicht von Belang ist die Behauptung der Klägerin, ihrer Mutter sei die Fiktion von Unterstützungsleistungen
unzumutbar, weil sie bereits sehr häufig für die Tochter habe einstehen müssen. Des weiteren trifft nicht zu, die
Mutter, die über relativ hohe Renteneinkünfte verfügte, würde aufgrund der Anrechnung an die Sozialgrenze gedrängt.
Der Berechnungsmodus des § 1 Abs. 2 Alg II-V ist so konzipiert, dass der Verwandte oder Verschwägerte nicht
selbst zum "Sozialfall" werden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wurde nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs.2 SGG nicht vorliegen.