Urteil des LSG Bayern vom 20.12.2010

LSG Bayern: rechtliches gehör, ungebührliches verhalten, abmahnung, zustellung, beratung, erlass, ausnahmefall, gerichtsverhandlung, rechtsmittelbelehrung, beleidigung

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 20.12.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 6 R 308/07
Bayerisches Landessozialgericht L 2 R 381/10 B
I. Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts München vom 15. April 2010 aufgehoben.
II. Die Staatskasse hat der Beschwerdeführerin die ihr im Beschwerdeverfahren entstandenen außergerichtlichen
Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (im Folgenden: Bf.) hat in dem Klageverfahren vor dem Sozialgericht München
die Anrechnung von Kindererziehungszeiten bzw. Kinderberücksichtigungszeiten für im Ausland zurückgelegte
Kindererziehungszeiten vom 5. Juli 1968 bis 11. November 1969 begehrt. Die Beklagte hatte dies mit Bescheid vom
16. bzw. 30. Dezember 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Mai 2006 abgelehnt.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 15. April 2010 hat der Kammervorsitzende darauf hingewiesen, dass
gemäß § 56 Abs. 3 S. 2 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) keine Pflichtbeiträge der Bf. oder des
damaligen Ehemannes unmittelbar vor oder während der im Ausland zurückgelegten Kindererziehungszeiten
vorliegen. Dies sei jedoch gesetzliche Voraussetzung für eine Anerkennung der Zeiten. Hierzu hat der
Bevollmächtigte der Bf. ausweislich der Sitzungsniederschrift vorgetragen, man könne auch Gesetze ändern. Ferner
hat er eingeräumt, dass diese Pflichtbeiträge nicht mehr vorliegen können. Er hat jedoch gerügt, dass der
Kammervorsitzende nur dem Gesetz folgen würde. Weiter heißt es in der Niederschrift: "Die Klägerin brüllt, dies sei
eine bodenlose Unverschämtheit des Richters."
Die Kammer hat nach geheimer Beratung mit Beschluss gegen die Bf. wegen ungebührlichen Verhaltens ein
Ordnungsgeld in Höhe von 250.- EUR verhängt. Der vom Vorsitzenden unterzeichnete Beschluss vom 15. April 2010
ist der Niederschrift als Anlage beigefügt. Das Verhalten der Bf. stelle eine Ungebühr dar und rechtfertige ein
Ordnungsgeld in Höhe von 250.- EUR. Es handele sich um eine Beleidigung des vorsitzenden Richters. Ein derartiges
aggressives und beleidigendes Verhalten der Bf. im Zusammenhang mit der Rüge ihres Prozessbevollmächtigten, der
Richter würde nur dem Gesetz folgen und es nicht ändern, könne nicht hingenommen werden. Dies lasse sich nicht
mit der Würde des gerichtlichen Verfahrens vereinbaren.
Zur Begründung der hiergegen eingelegten Beschwerde hat sich die Bf. über die Verhandlungsführung des
Kammervorsitzenden beschwert und die Verhängung eines Ordnungsgeldes auch in der Höhe von 80 v.H. des
Monatseinkommens für unangemessen gehalten. Der Vorsitzende habe sich nicht die Mühe gemacht, auf ihr
Rechtsempfinden einzugehen. Dieser habe im Übrigen in der gleichen Lautstärke zu Protokoll gegeben, dass der
Bevollmächtigte von ihm verlange, dem Gesetz nicht zu folgen.
II.
Die Beschwerde ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Zwar gilt gemäß § 173
S. 1 HS 2 SGG für die Einlegung nur eine einwöchige Frist nach § 181 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Jedoch
war die in der Beschlussausfertigung enthaltende Rechtsmittelbelehrung unrichtig. Diese enthielt den Hinweis, es
könne Beschwerde binnen eines Monats nach Zustellung des Beschlusses eingelegt werden. Wenn die Belehrung
unterblieben oder unrichtig erteilt wurde, so beginnt die Frist für ein Rechtsmittel oder einen Rechtsbehelf nicht zu
laufen und der Rechtsbehelf ist innerhalb eines Jahres seit Zustellung gemäß § 66 Abs. 2 S. 1 SGG zulässig. Die
Jahresfrist wurde von der Bf. eingehalten, so dass die Beschwerde zulässig ist.
Die Beschwerde ist auch begründet, da sich die Bf. zwar ungebührlich verhalten hat, dem Beschluss jedoch keine
Abmahnung voranging und rechtliches Gehör nicht gewährt wurde.
Die Verhängung von Ordnungsgeld ist eine Festsetzung von Ordnungsmitteln im Sinne des § 61 Abs. 1 SGG in
Verbindung mit § 178 GVG. Unter anderem kann dadurch gegenüber einem Verfahrensbeteiligten, der sich einer
Ungebühr schuldig gemacht hat, Ordnungsgeld festgesetzt werden. Ungebühr stellt eine Missachtung des Gerichts in
einer nach allgemeinem Empfinden grob unangemessenen Weise dar (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl.,
§ 61 Rdnr. 5 d). Gemäß § 178 Abs. 2 GVG entscheidet über die Festsetzung von Ordnungsgeld gegenüber Personen,
die bei der Verhandlung nicht beteiligt sind, der Vorsitzende, in allen übrigen Fällen das Gericht. Dieser
Zuständigkeitsvorschrift hat das Sozialgericht Genüge getan. Es entschied über die Verhängung von Ordnungsgeld in
Kammerbesetzung nach geheimer Beratung, wie das Protokoll ausweist.
Zwar teilt der Senat die Ansicht des Sozialgerichts, dass ein ungebührliches Verhalten der Bf. vorgelegen hat. Der
Kammervorsitzende sah sich dabei offensichtlich vor allem durch die Lautstärke des Vorbringens und das Ansinnen,
losgelöst von den gesetzlichen Vorgaben zu entscheiden, beleidigt. Allerdings verlangt der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit, dass regelmäßig vor einer Maßnahme nach § 178 GVG eine Abmahnung durch den
Vorsitzenden ausgesprochen wird. Dies ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass es sich bei der Verhängung von
Ordnungsgeld um eine strafähnliche Maßnahme handelt. Eine derartige Abmahnung ist nicht ausgesprochen bzw.
durch das Protokoll nicht belegt. Dabei handelte es sich bei der Äußerung um einen einmaligen Vorgang, der allein in
seinem Inhalt nicht geeignet erscheint, die Rechtspflegeaufgaben des Gerichts und die Ordnung der
Gerichtsverhandlung zu stören. Dies wird nur bei Gesamtbetrachtung der Äußerung als gegeben angesehen, so dass
eine Abmahnung nach Ansicht des Senats angebracht gewesen wäre.
Darüber hinaus ist nicht protokolliert, dass der Bf. vor Erlass des Ordnungsgeldbeschlusses rechtliches Gehör (Art.
103 Abs. 1 Grundgesetz; § 62 SGG) gewährt wurde. Dies ist jedoch grundsätzlich vor der Festsetzung von
Ordnungsgeld notwendig (BVerfG, Kammerbeschluss vom 02.06.2010, Az.: 1 BvR 448/06; s.a. Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 61 Rdnr. 6 und § 62 Rdnr. 3 a). Der Ausnahmefall, dass dadurch eine weitere
Ungebühr zu befürchten gewesen wäre, ist nicht erkennbar.
Der Beschluss des Sozialgerichts war daher aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG) und ergeht kostenfrei (§ 183 SGG).