Urteil des LSG Bayern vom 22.11.2010

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Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 22.11.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 26 SF 564/10
Bayerisches Landessozialgericht L 2 SF 271/10 B
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 29. Juli 2010 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Besorgnis der Befangenheit gegenüber dem Sachverständigen Dr. K.
begründet ist.
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (im Folgenden: Bf.) begehrt in dem Klageverfahren vor dem Sozialgericht
München (Az.: S 26 SB 197/09) vor allem die Zuerkennung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) als 50 ab
31. März 2008 und die Feststellung des Merkzeichen "G". Der Beklagte hatte dies mit Bescheid vom 29. Juli 2008 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Februar 2009 abgelehnt, soweit er dem Widerspruch nicht mit
Teilabhilfebescheid vom 17. Februar 2009 abgeholfen hatte.
Das Sozialgericht hat mit Beweisanordnung vom 11. Februar 2010 den Orthopäden Dr. T. (Gutachten vom 19. März
2010) und mit Beweisanordnung vom 12. April 2010 den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. K. mit der
Erstellung eines Gutachtens nach ambulanter Untersuchung beauftragt. Die Untersuchung bei Dr. K. hat am 31. Mai
2010 stattgefunden. Zugegen war ein türkisch sprechender Dolmetscher. Der Sachverständige hat mit Datum 1. Juni
2010 das Gutachten verfasst. Mit Schreiben vom 25. Juni 2010 hat das Sozialgericht dieses dem
Prozessbevollmächtigten der Bf. zur Stellugnahme übersandt.
Mit Schriftsatz vom 8. Juli 2010 hat die Bf. den Sachverständigen wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt.
Trotz Protestes habe dieser einen männlichen Dolmetscher hinzugezogen. Die Hinzuziehung eines Mannes müsse
als besonderer Affront und Herabwürdigung verstanden werden. Es läge auf der Hand, dass sie, die aus der Türkei
stamme, sich gegenüber einer Person, die kein Arzt ist, mit größter Befangenheit und Zurückhaltung äußere. Dr. K.
habe auch angedroht, die Untersuchung abzubrechen und sie nicht erneut zu laden, falls sie nicht die weitere
Anwesenheit eines männlichen Dolmetschers dulde. Es müsse dem Sachverständigen Ressentiments und
Ausländerhass unterstellt werden. Reines Nichtwissen oder Gedankenlosigkeit, einen männlichen Dolmetscher
hinzuzuziehen, könne nicht unterstellt werden. Die gutachterlichen Äußerungen des Sachverständigen seien im
Übrigen auch unverwertbar, da sie sich gegenüber einem nichtärztlichen Mann keineswegs vollständig und
unbefangen habe äußern können. Insgesamt deuteten die gesamte Fallgestaltung und auch das Verhalten des
Sachverständigen darauf hin, dass dieser insbesondere gegenüber türkischen Mitbewohnern vorurteilsbehaftet sei.
Das Sozialgericht hat den Ablehnungsantrag mit Beschluss vom 29. Juli 2010 zurückgewiesen. Der Antrag sei
verfristet und damit unzulässig. Er sei erst nach Erstattung des Gutachtens gestellt worden; die Bf. sei nicht ohne ihr
Verschulden verhindert gewesen, den Ablehnungsgrund früher geltend zu machen. Dies gelte auch für die geltend
gemachten Befangenheitsgründe, die sich auf die Untersuchung am 31. Mai 2010 unter Hinzuziehung eines
männlichen Dolmetschers stützen. Die entsprechend § 406 Abs. 2 S. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) noch
hinzunehmende Überlegungsfrist von zwei Wochen ab Untersuchung am 31. Mai 2010 sei am 8. Juli 2010 längst
abgelaufen gewesen.
Zur Begründung der hiergegen gerichteten Beschwerde hat die Bf. auf ihren Schriftsatz vom "1. Juli 2010" verwiesen
und die Ansicht vertreten, der Befangenheitsantrag sei "keineswegs verfristet" gewesen.
II.
Die statthafte und zulässige Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG) ist unbegründet.
Nach § 118 Abs. 1 SGG sind im sozialgerichtlichen Verfahren über die Ablehnung eines Sachverständigen die
Vorschriften der ZPO anzuwenden. Nach § 406 Abs. 2 S. 1, 411 Abs. 1 ZPO ist der Ablehnungsantrag bei dem
Gericht oder dem Richter, von dem der Sachverständige ernannt ist, zwei Wochen nach Verkündung oder Zustellung
des Beschlusses über die Ernennung zu stellen - zu einem späteren Zeitpunkt nach § 406 Abs. 2 S. 2 ZPO nur dann,
wenn der Antragsteller Gründe nennen kann, dass er die Befangenheit ohne sein Verschulden erst zu einem späteren
Zeitpunkt geltend machen konnte. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn erst aus dem schriftlich abgefassten
Gutachten der Ablehnungsgrund ersichtlich wird. In diesem Fall endet die Frist für den Ablehnungsantrag mit dem
Ablauf der Frist, die das Gericht den Beteiligten zur Stellungnahme zum Gutachten eingeräumt hat. Ansonsten ist der
Ablehnungsantrag unverzüglich, d.h. innerhalb einer angemessenen Überlegungszeit zu stellen (zum Ganzen:
Thomas/Putzo, ZPO, 30. Aufl. 2009, § 406 Rdnr. 7). Dies gilt auch für ein Verhalten, das der Sachverständige
anlässlich einer Untersuchung gezeigt haben soll (siehe z.B. auch die Entscheidung des Senats vom 10. März 2010,
Az.: L 2 VS 14/09 B). Zweck dieser Regelung ist die Beschleunigung des gerichtlichen Verfahrens.
Die Bf. begründet die Ablehnung des Sachverständigen mit der Untersuchungssituation am 31. Mai 2010, als ein
nichtärztlicher männlicher Dolmetscher zugegen war. Bereits ab diesem Tag war ein eventueller Ablehnungsgrund
bekannt; dieser hätte unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb der 14-tägigen Frist des § 406 Abs. 2 S. 2 ZPO,
geltend gemacht werden müssen. Derartige Gründe hat die Bf. jedoch erst mit Schriftsatz vom 8. Juli 2010
vorgetragen - bei dem in der Beschwerdebegründung vorgebrachten Datum 1. Juli 2010 handelt es sich wohl um ein
Schreibversehen.
Der Antrag auf Ablehnung des Sachverständigen Dr. K. wegen Besorgnis der Befangenheit wurde daher zutreffend
vom Sozialgericht als verspätet zurückgewiesen.
Soweit sich die Bf. im Übrigen gegen die Verwertung ihrer Äußerungen in dem Gutachten wendet, ist der Antrag auf
Ablehnung nur insoweit nicht verfristet, als der Inhalt des Gutachtens beanstandet wird. Der Ablehnungsgrund ergibt
sich in diesem Fall erst aus dem Gutachten selbst. Der Antrag ist jedoch unbegründet.
Nach §§ 406 Abs. 1 S. 1, 42 Abs. 1 und 2 ZPO findet die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit statt, wenn
ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Sachverständigen zu rechtfertigen. Der
Grund, der das Misstrauen rechtfertigt, muss bei objektiver und vernünftiger Betrachtungsweise vom Standpunkt der
Partei aus vorliegen. Rein subjektive Vorstellungen und Gedankengänge des Antragstellers scheiden aus
(Thomas/Putzo, a.a.O., § 42 Rdnr. 9).
Wie das Gutachten bzw. Einzelheiten in dem Gutachten zu bewerten sind, obliegt dem entscheidenden Gericht im
Rahmen der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 S. 1 SGG) und kann nicht in ein Verfahren wegen Besorgnis der
Befangenheit vorgezogen werden.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.