Urteil des LSG Bayern vom 19.02.2004

LSG Bayern: gefährdung der gesundheit, somatoforme schmerzstörung, krankenschwester, erwerbsfähigkeit, rente, probezeit, schichtarbeit, gutachter, test, berufsunfähigkeit

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 19.02.2004 (rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 14 RA 538/00
Bayerisches Landessozialgericht L 14 RA 73/02
Bundessozialgericht B 4 RA 102/04 B
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 10. Januar 2002 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Die 1948 geborene Klägerin ist gelernte Krankenschwester. Aus einem im Jahre 1994 wegen psychovegetativer
Erschöpfung und Wirbelsäulenbeschwerden angetretenen Heilverfahren in der T.klinik Bad S. wurde sie als
arbeitsfähig entlassen, jedoch mit dem Hinweis, dass wegen der Beschwerden im Wirbelsäulen- und Schulter-Arm-
Bereich links längerfristig mit einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit in dem bisher ausgeübten Beruf zu rechnen
sei und daher bereits eingeleitete Umschulungsmaßnahmen unterstützt würden. Dringend indiziert sei die Fortsetzung
der ambulanten Psychotherapie. Von Oktober 1995 bis Juli 1997 wurde die Klägerin zur Lehrkraft für Pflegeberufe
umgeschult. Die daraufhin aufgenommene Tätigkeit als Altenpflegelehrerin an einer Fachschule für Altenpflege wurde
in der Probezeit gekündigt. Seitdem ist die Klägerin arbeitslos.
Ihren am 24.08.1999 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte nach Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens
der Dr. K. (Gutachten vom 10.12.1999, Diagnosen: "neurasthenischer Beschwerdekomplex, Wirbelsäulensyndrom",
Leistungsbeurteilung: leichtere körperliche Tätigkeiten als Lehrschwester sowie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
ohne Schichtdienst vollschichtig) mit Bescheid vom 10.01.2000 ab mit der Begründung, dass die Klägerin weiterhin in
ihrem bisherigen Berufsbereich vollschichtig tätig sein könne.
Den Widerspruch der Klägerin, mit dem diese Atteste der behandelnden Ärzte vorlegte und auf die Anerkennung einer
"Beeinträchtigung der Gehirnfunktion" im Rahmen ihrer Schwerbehinderung durch das Amt für Versorgung und
Familienförderung (AVF) Nürnberg (GdB 50) hinwies, wies die Widerspruchsstelle der Beklagten nach Einholung eines
psychotherapeutischen Befundberichtes und einer Stellungnahme ihres prüfärztlichen Dienstes mit
Widerspruchsbescheid vom 18.10.2000 zurück.
Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) zog dieses die Schwerbehindertenakten des AVF Nürnberg, die Akte
des Arbeitsamtes Nürnberg, ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen in Bayern vom
07.02.2001 ("Dysthymie, somatoforme Schmerzstörung"; die Arbeitsunfähigkeit sei in Kürze beendet, es liege ein
permanentes Rentenbegehren vor) sowie die Befundberichte und ärztlichen Unterlagen der behandelnden Ärzte bei.
Es erhob Beweis über den Gesundheitszustand und die Erwerbsfähigkeit der Klägerin durch Gutachten auf
neurologisch-psychiatrischem und internistisch-sozialmedizinischem Gebiet. Der Nervenarzt Dr. W. diagnostizierte bei
der Klägerin in seinem Gutachten vom 25.09.2001 eine neurasthenisch-depressive Versagensreaktion mit
Somatisierungen ohne ausreichenden Anhalt für eine hirnorganische Leistungsstörung. Er hielt die Klägerin wegen der
körperlich untrainierten asthenischen Verfassung mit rasch eintretenden Somatisierungen (Rückenschmerzen) sowie
wegen der neurasthenisch-depressiven Psyche für nicht mehr in der Lage, als Krankenschwester zu arbeiten, sah
aber andere qualifizierte Tätigkeiten wie z.B. die einer Pflegelehrkraft als weiterhin möglich an. Unterbleiben sollten
lediglich überdurchschnittliche Lärmbelastung, überdurchschnittlicher Termindruck und Schichtarbeit.
Der Internist und Sozialmediziner Dr. G. erhob im Gutachten vom 09.10.2001 folgende Gesundheitsstörungen: 1.
Konstitutionsbedingte Kreislaufdysregulation. 2. Hypercholesterinämie. 3. Geringgradige Hepatopathie. 4.
Neurasthenisch-depressive Versagensreaktion mit Somatisierung (laut Gutachten Dr. W.). 5. Sehr geringgradiges
Wirbelsäulensyndrom.
Der Sachverständige bezeichnete die Ausführungen des Dr. W. im vorangegangenen Gutachten aufgrund seines
Eindrucks der Klägerin als schlüssig; er vertrat ebenfalls die Auffassung, dass sie in der früher ausgeübten Tätigkeit
als Krankenschwester nicht mehr vollschichtig einsetzbar sei, wohl aber zu den üblichen Bedingungen des
Arbeitsmarktes eine vollschichtige Tätigkeit in wechselnder Körperhaltung ohne übermäßige nervliche Belastungen
und besondere Belastungen des Bewegungs- und Stützsystems verrichten könne, eine abweichende
sozialmedizinische Beurteilung gegenüber der Begutachtung im Rentenverfahren ergebe sich nicht.
Das SG wies die auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit gerichtete Klage mit Urteil
vom 10.01. 2002 ab und führte zur Begründung aus, nach der Beweisaufnahme stehe fest, dass die Klägerin weder
berufs- noch erwerbsunfähig im Sinne von §§ 43, 44 SGB VI in der Fassung bis 31.12.2000 noch erwerbsgemindert
nach § 43 SGB VI in der ab 01.01.2001 geltenden Fassung sei. Es stützte sich auf die Aussagen in den Gutachten
des Dr. W. und des Dr. G. , wonach die Klägerin trotz der bestehenden psychischen Störungen weiterhin leichteren
körperlichen Arbeiten entsprechend ihrem Ausbildungsstand vollschichtig nachgehen könne, wenn übermäßige
nervliche Belastungen und besondere Belastungen des Bewegungs- und Stützsystems vermeidbar seien. Bei der
Untersuchung durch Dr. G. sei vor allem eine Kreislaufdysregulation aufgefallen, der aber ein gravierender
Krankheitswert nicht zuzuordnen sei, vielmehr sei davon auszugehen, dass entsprechende Trainingsmaßnahmen zu
einer deutlichen Besserung führen würden. Seitens des Bewegungsapparates hätten sich nennenswerte
Beeinträchtigungen über altersgemäße Befunde hinaus nicht finden lassen, offensichtlich sei keinerlei orthopädische
Behandlung notwendig. Auf nervenärztlichem Gebiet bestehe eine depressiv-neurasthenische Entwicklung,
hirnorganische Gründe für die von der Klägerin geklagte Leistungsunfähigkeit hätten sich nicht bestätigt. Sie seien
letztlich auch von der psychiatrischen Fachklinik in A. in einem Befund vom 04.07.2000 lediglich
differentialdiagnostisch in Erwägung gezogen worden. Trotz der psychischen Störungen sei eine vollschichtige
Belastbarkeit entsprechend dem Ausbildungsstand ohne Überforderung oder Gefährdung der Gesundheit der Klägerin
möglich. Eventuell bestehende Unterlegenheitsgefühle oder Kränkungssituationen könnten durch eine Erwerbstätigkeit
nur profitieren. Auch wenn sie damit als Krankenschwester nicht mehr einsetzbar sei und den Berufsschutz einer
Fachangestellten genieße, komme eine Rentengewährung nicht in Betracht, da sie zumutbar auf den
Umschulungsberuf einer Lehrkraft für Pflegeberufe verweisbar sei, der ihr auch gesundheitlich zumutbar sei. Die
Tatsache, dass ihr in dieser Tätigkeit während der Probezeit gekündigt worden sei, sei rechtlich unerheblich.
Mit der Berufung wendet sich die Klägerin gegen dieses Urteil und trägt im Wesentlichen vor, sie halte sich für
kontinuierliche Tätigkeiten nicht mehr belastbar; dass sie den täglichen Anforderungen in der Praxis nicht gewachsen
sei, habe auch die Kündigung ihrer Tätigkeit als Pflegelehrkraft während der Probezeit gezeigt.
Auf ihren Antrag erstellte die Medizinaloberrätin Dr. G. , Ärztin für Öffentliches Gesundheitswesen am
Gesundheitsamt N. , gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein fachärztliches Gutachten vom 03.11.2003. Sie
diagnostizierte eine depressive Entwicklung mit Somatisierungstendenz sowie ein geringgradiges
Wirbelsäulensyndrom und vertrat die Auffassung, die Klägerin könne leichte Arbeiten im Gehen, Stehen oder Sitzen
über acht Stunden täglich mit qualitativen Einschränkungen (keine Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, keine
Beschäftigung an gefährdenden Maschinen, keine Akkord- oder Schichtarbeit, kein Kälte-, Nässe- oder Staubeinfluss,
keine besonderen Anforderungen an die psychische Stabilität) ausüben. Die Tätigkeit als Krankenschwester sei
wegen der instabilen Psyche sowie der Einschränkungen im Bereich der Wirbelsäule nicht mehr zumutbar, wohl aber
eine Tätigkeit als Pflegelehrkraft, da es hier um erwachsene Schüler ohne Disziplinierungsschwierigkeiten gehe.
Ausdrücklich stimmte die Gutachterin den Aussagen in den Gutachten des Dr. G. und des Dr. W. im Wesentlichen
zu. Die Hinzuziehung eines Arztes für Psychiatrie, die sie im Hinblick auf die im Vordergrund stehenden Beschwerden
zunächst in Erwägung gezogen hatte, hielt sie nach der Untersuchung der Klägerin nicht mehr für erforderlich; es sei
nicht davon auszugehen, dass eine weitere Begutachtung auf nervenärztlichem Gebiet eine abweichende Beurteilung
ergeben würde.
Die Klägerin nahm unter Hinweis auf ihre frühkindliche Entwicklung, ihr verschleißendes Arbeitsleben im Bereich der
Medizin und sonstige Erlebnisse (so die für sie nicht geklärten Todesursachen beider Eltern) zu dem Gutachten
dahingehend Stellung, dass sie sich nicht arbeitsfähig fühle.
Sie beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils vom 10.01.2002 sowie des Bescheides vom 10.01.2000 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2000 zu verpflichten, ihr ab 01.09.1999 Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, hilfsweise wegen teilweiser oder ganzer Erwerbsminderung
zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogene Rentenakte
der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 151 SGG) ist zulässig, erweist sich aber nicht als begründet.
Zutreffend hat das Erstgericht die Klage abgewiesen. Die dargelegten Gründe sind auch für den Senat nachvollziehbar
und überzeugend. Nach Überprüfung des bisherigen Verfahrensverlaufs und der erneuten Beweisaufnahme in der
Berufungsinstanz gelangt er zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen der vom SG im Einzelnen aufgeführten
Vorschriften der §§ 43, 44 SGB VI in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung sowie des § 43 Abs.1 und 2 SGB VI in
der ab 01.01.2001 geltenden Fassung auch weiterhin nicht erfüllt sind, ebenso nicht die Voraussetzungen des § 240
Abs.1 und 2 SGB VI in der ab 01.01.2001 geltenden Fassung, wonach Versicherte bei Erfüllung der sonstigen
Voraussetzungen auch Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben, wenn sie vor dem 2. Januar
1961 geboren und berufsunfähig sind; dabei ist der Begriff der Berufsunfähigkeit identisch mit dem in § 43 Abs.2 SGB
VI a.F.
Die vom Erstgericht beauftragten Gutachter Dr. W. und Dr. G. haben insoweit ausführlich und schlüssig dargelegt,
dass die Klägerin in ihrer Erwerbsfähigkeit zwar eingeschränkt und deswegen in ihrem erlernten Beruf einer
Krankenschwester nicht mehr einsetzbar ist, wohl aber in sonstigen die Wirbelsäule und die Psyche nicht übermäßig
belastenden Tätigkeiten leichterer Art. Dabei fand Dr. W. , der sich ausführlich mit der Vorgeschichte und den
vorhandenen Unterlagen der behandelnden Ärzte auseinander setzte, nach klinischer Untersuchung der Klägerin und
Durchführung von Zusatzuntersuchungen (EEG, AEP, Farbduplex der Carotiden und Vertebralarterien, MWTB-Test,
KAI-Test, TSD-Test) keine Zeichen einer Persönlichkeitsveränderung im Sinne eines cerebralen Abbauprozesses mit
beginnender Demenz. Er führte aus, der insoweit beigebrachte MRT-Hirnbefund vom 20.01.2000 enthalte eine relativ
stereotype Beschreibung eines physiologischen Prozesses, der nicht durch die entsprechenden psychometrischen
Tests gestützt werden könne; nur eindeutige pathologische Leistungstests könnten aber den beschriebenen Befund
bekräftigen. Dass die Originalbilder - wie von der Klägerin vorgebracht - offensichtlich nicht mehr auffindbar sind,
erscheint im Übrigen angesichts des vorhandenen Arztberichtes vom gleichen Tage, in dem die erhobenen Werte
beschrieben sind, von untergeordneter Bedeutung.
Beide Gutachter haben den Umschulungsberuf einer Pflegelehrkraft für die Klägerin als weiterhin zumutbar erachtet.
Für den Senat ist in diesem Zusammenhang wesentlich, dass der erfahrene Internist und Sozialmediziner Dr. G. die
Ausführungen seines nervenärztlichen Kollegen Dr. W. ausdrücklich als schlüssig bezeichnet hat.
Die sozialmedizinische Beurteilung der Sachverständigen des Erstgerichts wird durch die im Berufungsverfahren
gemäß § 109 SGG als Gutachterin des Vertrauens der Klägerin gehörte Dr. G. bestätigt. Diese kam aufgrund der von
ihr diagnostizierten depressiven Entwicklung mit Somatisierungstendenz nebst geringgradigem Wirbelsäulensyndrom
zu dem Ergebnis eines noch vollschichtigen Leistungsvermögens für leichtere Arbeiten im Stehen, Gehen oder Sitzen
mit gewissen qualitativen Einschränkungen (keine Arbeiten auf Leitern und Gerüsten und an gefährdenden Maschinen,
keine Akkord- und Schichtarbeit; kein Einfluss von Kälte, Nässe und Staub). Nicht mehr zumutbar sind Tätigkeiten,
die besondere Anforderungen an die psychische Stabilität stellen. Letzteres wurde von der Sachverständigen für den
Senat nachvollziehbar dahingehend erläutert, dass solche Anforderungen jedenfalls dann nicht gefordert seien, wenn
es sich um eine Lehrtätigkeit mit erwachsenen Schülern handelt, bei denen Disziplinierungsprobleme nicht zu
erwarten seien.
Der Senat schließt sich dieser Beurteilung an, da auch nach seiner Auffassung bei der lehrbuchmäßigen Vermittlung
von Alten- und Krankenpflege besondere Anforderungen an die nervli- che Belastbarkeit regelmäßig nicht gestellt
werden. Er verkennt nicht, dass die Klägerin unter erheblichem Leidensdruck steht und sich in ihrer Erwerbsfähigkeit
eingeschränkt fühlt. Es scheint so, als sei sie durch problembehaftetes Denken ausgefüllt; dies erfordert sicher eine
begleitende/stützende Therapie. Dennoch ist zu sehen, dass alle bisherigen Gutachter, die mit ihrem Fall befasst
waren, die Klägerin für leichtere körperliche Tätigkeiten wie die einer Pflegelehrkraft ausreichend belastbar hielten.
Dies ist für den Senat entscheidend. Aus den genannten Gründen sieht er auch keine Notwendigkeit zu weiterer
Aufklärung von Amts wegen, z.B. durch ein weiteres nervenärztliches Gutachten. Bei der noch vollschichtigen
Einsatzfähigkeit unter betriebsüblichen Bedingungen ist grundsätzlich unerheblich, ob der Klägerin ein entsprechender
Arbeitsplatz vermittelt werden kann. Das Arbeitsplatzrisiko fällt hier nicht in den Bereich der gesetzlichen
Rentenversicherung, sondern in den der Arbeitslosenversicherung.
Bei dieser Sachlage konnte die Berufung keinen Erfolg haben. Sie war mit der Kostenfolge aus § 193 SGG
zurückzuweisen.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG waren nicht ersichtlich.