Urteil des LSG Bayern vom 19.07.2000

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Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 19.07.2000 (rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 5 RJ 782/95
Bayerisches Landessozialgericht L 19 RJ 617/98
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 22.09.1998 wird mit der Maßgabe
zurückgewiesen, dass die Anrechnung der streitbefangenen Zeit entsprechend der Adeve- rinta Nr 149 vom
14.01.1994 zu erfolgen hat. II. Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des
Berufungsverfahrens zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Bewertung und Anrechnung von Versicherungszeiten, die der Versicherte ... ,
verstorben 15.11.1994, in Rumänien zurückgelegt hat.
Die am ... 1957 geborene Klägerin ist die Witwe des verstorbenen Versicherten ... Dieser war mit seiner Familie am
21.03.1990 aus Rumänien nach Deutschland übergesiedelt und war Inhaber des Vertriebenenausweises "A". Nach
den Angaben der Klägerin und den Eintragungen im rumänischen Arbeitsbuch, ausgestellt am 27.03.1967, war der
Versicherte ab dem 15.09.1966 als Maurerlehrling in einem Baubetrieb in Brasov und ab August 1967 als Maurer
beschäftigt. Nach dem Militärdienst (vom 04.06.1971 bis 15.11.1972) wurde er ab 14.12.1972 bei dem Verkehrsbetrieb
... , eingestellt und arbeitete in diesem Betrieb (auch nach einer Reorganisation im Jahre 1975) bis zum 21.02.1990.
Eine Ausbildung des Versicherten zum Berufskraftfahrer hatte vom 15.03.1969 bis 15.09.1970 stattgefunden (vgl
Bestätigung der Kfz-Berufsschule Hermannstadt vom 20.01.1989). Nach der Adeverinta Nr 149 vom 14.01.1994 (bei
der LVA Unterfranken eingegangen am 16.02.1994) hatte der Versicherte im Zeitraum von 1971 bis 1990 lediglich im
Jahr 1980 30 Krankheitstage zu verzeichnen sowie in den Jahren 1987 bis 1989 jeweils 12 Tage unbezahlten Urlaub
und für 1990 9 Tage unbezahlten Urlaub, sonst nur den üblichen Erholungsurlaub. Nach seiner Übersiedlung nach
Deutschland übte der Versicherte von Juni 1990 bis zu seinem Todestag noch eine Tätigkeit bei der Firma ... als
Busfahrer aus. Auf den Antrag der Klägerin bewilligte ihr die Beklagte mit Bescheid vom 14.03.1995 die große
Witwenrente. Im Versicherungsverlauf zum Bescheid sind die Zeiten vom 15.09.1966 bis 21.02.1990 (mit Ausnahme
des Wehrdienstes) in den Entgeltpunkten auf 5/6 gekürzt. Dagegen erhob die Klägerin am 18.04.1995 Widerspruch
und machte eine Höhergruppierung in den Leistungsgruppen wie auch eine Vollanrechnung für die Zeit von Dezember
1972 bis Februar 1990 geltend. Für die genannte Zeit biete die vorgelegte Adeverinta, die auf dem offiziellen Weg
übermittelt worden sei, den vollen Nachweis der Zeiten. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom
21.11.1995 zurück. Eine Anhebung der Zeiten in den Leistungsgruppen könne nicht erfolgen, hinsichtlich der
Bewertung der Zeiten müsse es bei der vorgenommenen Kürzung auf 5/6 verbleiben.
Dagegen erhob die Klägerin am 06.12.1995 Klage zum Sozialgericht Nürnberg und verlangte erneut eine Höherstufung
in den Leistungsgruppen und die Vollanrechnung für die Zeit von Dezember 1972 bis Februar 1990. Aus den
vorgelegten Unterlagen ergebe sich zweifelsfrei, in welchem Umfang der Versicherte gearbeitet habe. Er sei als
Kraftfahrerer, insbesondere während seiner Tätigkeit als Busfahrer, auch an Sonn- und Feiertagen eingesetzt
gewesen, woraus sich die hohe Anzahl der jährlichen Arbeitstage ergebe. Das Sozialgericht hat die Zeugen ... und ...
zu den Beschäftigungszeiten des Klägers in Rumänien einvernommen; auf die Niederschrift vom 22.09.1998 wird
insoweit verwiesen. Mit Urteil vom 22.09.1998 hat das Sozialgericht die Beklagte antragsgemäß verurteilt, die Zeit
vom 14.12.1972 bis 21.02.1990 zu 6/6 anzurechnen. Grundlage des Nachweises sei die Adeverinta Nr 149 vom
14.01.1994; dieser lasse sich der volle Beweis für die Versicherungszeiten entnehmen. Die Bescheinigung sei auf
offiziellem Wege beschafft worden und enthalte nicht nur Angaben über Art, Beginn und Ende der Beschäftigungen,
sondern lasse auch für die einzelnen Jahre die Arbeits- und Fehlzeiten nach Tagen entnehmen. Die Aussagen der
Zeugen, die sich naturgemäß kaum an einzelne Fehltage des Versicherten bei der Arbeit erinnern konnten, seien
demgegenüber von untergeordneter Bedeutung.
Gegen dieses Urteil richtet sich die am 19.11.1998 beim Bayer.Landessozialgericht eingegangene Berufung der
Beklagten. Sie äußert Zweifel, ob die fragliche Adeverinta als Privaturkunde geeignet sei, den vollen Beweis der darin
bezeugten Tatsachen zu erbringen. Die Kammer hätte sich veranlasst sehen müssen, die Echtheit dieser
Bescheinigung näher zu überprüfen. Die Beklagte hat mit weiteren Bescheiden vom 05.02.1999, vom 05.03.1999,
vom 30.03.1999 und vom 01.04.1999 die Witwenrente und die beiden Halbwaisenrenten für Daniel und Silke ... neu
festgestellt. Die Klägerin meint, dass das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg zu bestätigen sei, jedoch müsse der
Tenor der Entscheidung präziser gefasst werden, da ansonsten Missverständnisse bei der Berechnung der Zeiten
auftreten könnten.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 22.09.1998 aufzuheben und die Klage gegen den
Bescheid vom 14.03.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.1995 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Dem Senat haben die Verwaltungsakten der Beklagten und die Prozessakte des Sozialgerichts Nürnberg vorgelegen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig.
Das Rechtsmittel der Beklagten erweist sich jedoch als nicht begründet. Die streitigen Zeiten sind als nachgewiesene
Zeiten im vollen Umfang bei der Berechnung der Rente der Klägerin zu berücksichtigen.
Nachgewiesen iS des § 22 Abs 3 FRG sind Zeiten dann, wenn mit der für den vollen Beweis erforderlichen, an
Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit feststeht, dass sie ohne relevante Unterbrechungen zurückgelegt sind.
Dies kann angenommen werden, wenn eine Arbeitsbescheinigung nicht nur konkrete und glaubwürdige Angaben über
den Umfang der Beschäftigungs- bzw Beitragszeiten, sondern auch über dazwischenliegende "Ausfallzeiten" enthält.
Der Beweis einer (gemessen am Monatsprinzip) lü- ckenlosen Beitragsleistung zur Rentenversicherung eines
nichtdeutschen Versicherungsträgers wird in erster Linie durch Urkunden, amtliche Auskünfte und Zeugenaussagen
geführt. Dabei wird der Urkundenbeweis regelmäßig als das zuverlässigste Beweismittel gelten können. Sowohl
schriftliche Urkunden als auch die von früheren Arbeitgebern ausgestellten Bescheinigungen (in Rumänien:
Adeverintas) sind regelmäßig geeignet, den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen zu erbringen. Das gilt nach
der Überzeugung des Senats auch für die hier maßgebliche Adeverinta Nr 149 vom 14.01.1994. Diese Bescheinigung
entspricht in vollem Umfange den Anforderungen, die der Senat bisher an den Nachweis rumänischer Beitragszeiten
gestellt hat. Die Adeverinta, die der Beklagten über die LVA Unterfranken als damals noch zuständige
Verbindungsstelle für das deutsch-rumänische Sozialversicherungsabkommen zugegangen ist, wurde vom
rumänischen Arbeitgeber des Versicherten unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die im Archiv des Betriebs
vorliegenden Lohnlisten erstellt. Sie enthält nachprüfbare und verwertbare Aussagen über alle denkbaren, während des
Arbeitslebens auftretenden Fehlzeiten, aufgeschlüsselt nach Jahren, Monaten und einzelnen Tagen. Es sind verteilt
über den Gesamtzeitraum sowohl die effektiven Arbeitstage des Versicherten wie auch die Fehlzeiten wegen
Krankheit, Erholungsurlaubs, unbezahlten Urlaubs und unentschuldigter Fehltage vermerkt. Ein vernünftiger Zweifel an
der Richtigkeit dieser Bescheinigung besteht für den Senat nicht; es findet sich auch kein Hinweis darauf, dass deren
Inhalt zu Gunsten der Klägerin gefälscht oder verfälscht sein könnte. Der Senat sieht sich auch nicht veranlasst,
weitere Ermittlungen hinsichtlich der materiellen Beweiskraft und der Echtheit der Bescheinigungen anzustellen. Die
von der Beklagten geäußerten allgemeinen Zweifel, ob tatsächlich alle Unterbrechungen der Arbeitsverhältnisse von
den Arbeitgebern dokumentiert wurden und ob die bei den Arbeitgebern vorhandenen Unterlagen noch vollständig und
lückenlos erhalten sind, rechtfertigen es (ohne konkreten Hinweis auf Unkorrektheiten) nicht, die Aussagekraft der
vom zuständigen Sachbearbeiter des Betriebs unterschriebenen Bescheinigung in Frage zu stellen. Der Senat darf
vielmehr davon ausgehen, dass auch bei den rumänischen Arbeitgebern nach ordnungsgemäßen
Buchhaltungsgrundsätzen verfahren wurde. Dies bedeutet, dass die in der Bescheinigung enthaltenen Daten auf
Grund personenbezogener betrieblicher Personalunterlagen wiedergegeben wurden und nicht allein aus der Luft
gegriffen sind. Wenn ein Beschäftigungsbetrieb für einen bestimmten Zeitraum keine den einzelnen Arbeitnehmern
zuzuordnenden Unterlagen zur Verfügung hat, wird das - nach den bisherigen Erfahrungen des Senats - in der
Bescheinigung vermerkt oder eine Bescheinigung wird für diese Zeit nicht ausgestellt. Es hieße die Anforderungen an
einen Nachweis von Beitragszeiten zu überspannen und wäre auch rechtlich nicht durchsetzbar, wenn nach dem
Verlangen der Beklagten vom rumänischen Arbeitsministerium eine Überprüfung der einzelnen Bescheinigungen auf
sachliche Richtigkeit und Vollständigkeit gefordert würde. Den Aussagen der vom Sozialgericht gehörten Zeugen
kommt gegenüber dem Inhalt der Bescheinigung kein weitergehender Beweiswert iS einer Bekräftigung oder
Abschwächung des Nachweises zu. Die vorgenannte Adeverinta erfüllt demnach in Verbindung mit den weiteren aus
Rumänien vorgelegten Unterlagen (Arbeitsbuch, Ausbildungsbescheinigung) die Anforderungen an einen Nachweis der
darin bestätigten Versicherungszeiten. Fehlzeiten haben zur Überzeugung des Senats nur in dem Umfang vorgelegen,
wie sie bescheinigt wurden. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 22.09.1998
war zurückzuweisen. Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu
erstatten. Gründe für die Zulassung der Revision gem § 160 Abs 2 SGG sind nicht ersichtlich.