Urteil des LSG Bayern vom 20.11.2008

LSG Bayern: hauptsache, rechtsschutz, zivilprozessordnung, obsiegen, erlass, leistungsbegehren, rechtsgrundlage, form, gegenüberstellung, bedürftigkeit

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 20.11.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 19 AS 874/08 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 11 B 873/08 AS ER
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 12.09.2008 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I. Streitig ist im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens, ob den Antragstellern Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II - Alg II -) gemäß dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit
vom 01.05.2008 bis 31.10.2008 zu bewilligen sind. Die Antragsteller beziehen seit 01.01.2005 Alg II. Im Dezember
2007 erfuhr die Antragsgegnerin von eBay-Verkäufen der Antragstellerin zu 2) und rechnete für die Zeit vom
01.01.2008 bis 30.04.2008 einen angegebenen Gewinn von ca. 1.200,00 EUR monatlich als Einkommen an. Aufgrund
eines gerichtlichen Vergleiches reduzierte die Antragsgegnerin die Anrechnung von Einkommen für die Zeit bis
30.04.2008 auf 400,00 EUR (Verfahren vor dem Sozialgericht Nürnberg - SG - S 13 AS 97/08 ER). Auf
Fortzahlungsantrag hin und nach Vorlage einer zeitlich nicht einzuordnenden Aufstellung von eBay-Verkäufen und
Paket-Einlieferungsbelegen sowie einer Gegenüberstellung von Einnahmen und Ausgaben ohne entsprechende
Nachweise (Gewinn: 212,30 EUR monatlich) bewilligte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 15.05.2008 idF des
Änderungsbescheides vom 17.05.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.07.2008 vorläufig Alg II
unter Anrechnung von Einkommen in Höhe von 400,00 EUR monatlich für die Zeit vom 01.05.2008 bis 31.10.2008.
Die Höhe des Einkommens aus eBay-Verkäufen sei noch nicht geklärt. Dagegen haben die Antragsteller Klage zum
SG erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Gleichzeitig haben sie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung
der Klage begehrt. Das SG hat den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mangels Vorliegens eines
Anordnungsgrundes und Anordnungsanspruches abgelehnt (Beschluss vom 12.09.2008). Die vorgelegten Unterlagen
ließen nur eine punktuelle Berechnung zu, den Antragstellern wäre es möglich, weitere Unterlagen vorzulegen. Die
materielle Darlegungslast für das Bestehen der Bedürftigkeit hätten die Antragsteller zu tragen. Das Interesse der
Antragsgegnerin, keine überhöhten Leistungen auszuzahlen, überwiege. Dagegen haben die Antragsteller Beschwerde
zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Eine fiktive Anrechnung dürfe nicht erfolgen, Einkommen dürfe erst mit
dessen tatsächlichem Zufluss berücksichtigt werden. Eine Überzahlung müsse ggf. mit entsprechenden
Erstattungsbescheiden rückabgewickelt werden. Das Einkommen sei unverändert "gleich Null". Zur Ergänzung des
Tatbestandes wird auf die beigezogene Akte der Antragsgegnerin, die am 19.11.2008 eingegangen ist, sowie die
Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II. Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist zulässig, aber
nicht begründet. Einstweiliger Rechtsschutz ist den Antragstellern nicht zu gewähren.
Rechtsgrundlage für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis stellt im vorliegenden Rechtsstreit § 86b Abs 2 Satz 2 SGG dar.
Hiernach ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa
dann der Fall, wenn dem ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare
Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so
BVerfG vom 25.10.1988 BVerfGE 79, 69/74, vom 19.10.1997 BVerfGE 46, 166/179 und vom 22.11.2002 NJW 2003,
1236; Niesel, Der Sozialgerichtsprozess, 4. Aufl. RdNr 643).
Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und
das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiellrechtliche Anspruch, auf den der ASt sein Begehren
stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat der ASt glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 2 und 4 SGG iVm § 920 Abs
2, § 294 Zivilprozessordnung - ZPO -; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG 8.Aufl, § 86b RdNr 41).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des
Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und
Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927,
NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache
erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der
Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem
Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.
Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den
Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist gegebenenfalls auch anhand einer
Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des ASt zu entscheiden (vgl. BVerfG vom
12.05.2005 aaO und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; zuletzt BVerfG vom 15.01.2007 -1 BvR 2971/06 -).
In diesem Zusammenhang ist eine Orientierung an den Erfolgsaussichten nur möglich, wenn die Sach- und
Rechtslage abschließend geklärt ist, denn soweit schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare
Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht beseitigt werden können, darf die
Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern sie muss abschließend geprüft werden (BVerfG vom
12.05.2005 aaO).
Vorliegend ist die Ag nicht zur Erbringung höherer vorläufiger Leistungen zu verpflichten. Es liegt kein
Anordnungsgrund vor. Streitig sind allein Leistungen für bereits vergangene Zeiträume, nämlich für die Zeit von Mai
bis Oktober 2008. Es ist ständige Rechtsprechung des Senates, dass vorläufige Regelungen für Leistungsansprüche,
die abgelaufene Zeiträume betreffen, regelmäßig nicht mehr nötig sind, um wesentliche Nachteile abzuwenden (u.a.
BayLSG Beschluss vom 18.06.2008 - L 11 B 393/08 AS ER -). Es sind auch keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich,
die ein Abweichen hiervon geboten erscheinen lassen. Die ASt können ihr Leistungsbegehren im Rahmen der mit
Schreiben vom 29.07.2008 zum SG erhobenen Klage zumutbar weiter verfolgen.
Im Übrigen fehlt es auch an einem Anordnungsanspruch, denn die Ag hat die Möglichkeit, bei länger dauernden
Ermittlungen zur Anrechnung von Einkommen die Erbringung von Leistungen vorläufig zu regeln (§ 40 Abs 1 Satz 2
Nr 1a SGB II iVm § 328 Abs 1 Satz 1 Nr 3 Drittes Buch Sozialgesetzbuch - SGB III -; vgl. BayLSG Beschluss vom
25.08.2008 - L 11 B 560/08 AS ER -).
Nach alledem war die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).