Urteil des LSG Bayern vom 24.04.2002

LSG Bayern: geburt, rücknahme, ausdehnung, anerkennung, gestaltungsspielraum, reform, mangel, familie, anschluss, härte

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 24.04.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 16 RA 157/00
Bayerisches Landessozialgericht L 13 RA 206/00
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 29. Juni 2000 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob für das im Jahre 1963 geborene Kind im Wege des § 44 SGB X eine Kindererziehungszeit von drei
Jahren anstatt wie bisher von einem Jahr anzuerkennen ist.
Die am 1938 geborene Klägerin beantragte am 18.5.1994 die Feststellung von Kindererziehungszeiten für ihren am
04.03.1963 geborenen Sohn Jörg. Mit Bescheid vom 07.06.1994 erkannte die Beklagte die Zeit vom 01.04.1963 bis
31.03.1964 als Kindererziehungszeit und die Zeit vom 04.03.1963 bis 03.03.1973 als Berücksichtigungszeit an.
Auf Antrag vom 11.08.1998 gewährte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) mit Bescheid vom
13.11.1998 Altersrente für Frauen wegen Vollendung des 60. Lebensjahres ab 01.12.1998 (Zahlbetrag ab 01.01.1999:
1786,57 DM). Den Widerspruch mit den Ziel, als Kindererziehungszeit drei Jahre zu berücksichtigen, wies die
Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 09.03.1999 zurück. § 249 Abs.1 SGB VI regele eindeutig, dass für ein vor
dem 01.01.1992 geborenes Kind (hier: 04.03.1963) nur die ersten zwölf Kalendermonate nach der Geburt als
Pflichtbeitragszeiten angerechnet werden.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Nürnberg (S 3 RA 173/99) erklärte sich die Beklagte in
der mündlichen Verhandlung am 14.10.1999 im Hinblick auf die Bindungswirkung des Bescheids vom 07.06.1994
bereit, den Widerspruch vom Januar 1999 als Antrag nach § 44 SGB X auszulegen und einen rechtsbehelfsfähigen
Bescheid zu erteilen.
Mit Bescheid vom 03.12.1999 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Bei Geburt eines Kindes vor dem 01.01.1992 erfolge
die Anrechnung der Kindererziehungszeit nach § 249 SGB VI in Höhe von zwölf Kalendermonaten, nicht nach dem ab
01.01.1992 geltenden Recht des § 56 Abs.1 SGB VI für die ersten drei Lebensjahre des Kindes. Der dagegen
eingelegte Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 29.02.2000).
Ihre Klage vor dem SG hat die Klägerin im Wesentlichen damit begründet, dass wegen des Gleichheitsprinzips des
Art.3 Abs.1 GG alle Mütter drei Jahre Kindererziehungszeiten pro Kind als Anrechnungszeiten unabhängig vom
Zeitpunkt der Geburt des Kindes erhalten müssten.
Durch Urteil vom 29.06.2000 hat das SG die Klage abgewiesen; ein Anspruch auf Rücknahme des Bescheids vom
07.06.1994 bestehe nicht. Zu Recht habe die Beklagte unter Hinweis auf die bestehende Rechtslage lediglich zwölf
Monate nach Ablauf des Monats nach der Geburt als Kindererziehungszeit anerkannt. Die Regelung des § 249 Abs.1
SGB VI verstoße auch nicht gegen Art.3 Abs.1 GG. Das Bundesverfassungsgericht habe den Gesetzgeber
verpflichtet, die durch die Kindererziehung bedingten Nachteile bei der Altersversorgung in weiterem Umfang als
bisher auszugleichen (vgl. BVerfGE 87, 1). Dem sei der Gesetzgeber mit der auf 36 Monate erweiterten Anrechnung
der Kindererziehungszeit nachgekommen. Bei der Wahl des Stichtages zum 01.01.1992 durch Art.85 Abs.1 des
Rentenreformgesetzes 1992 habe er auch Rücksicht auf die jeweilige Haushaltslage und die finanzielle Situation der
gesetzlichen Rentenversicherung nehmen können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29.03.1996, 1 BvR 1238/95, in:
SozVers 1996, S.336). Dies sei im Hinblick auf die umfangreichen Verbesserungen des SGB VI, die teilweise auch
Sachverhalte vor InKraft-Treten zum 01.01.1992 beträfen, nicht ermessensfehlerhaft (vgl. BVerfGE 94, 241 ff).
Mit der am 15.09.2000 eingelegten Berufung bekräftigt die Klägerin ihre Auffassung, dass die ungleiche
Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten vor und nach dem 01.01.1992 gegen den Gleichheitssatz verstoße.
Nach dem Stand von 01.07.2000 enthalte ihre Rente für Zeiten der Kindererziehung einen Betrag von 28,77 DM, wobei
ihre damals gezahlten Versicherungsbeiträge voll angerechnet und lediglich die Differenz bis zur
Beitragsbemesssungsgrenze als zusätzliche Entgeltpunkte für die Erziehungszeit anerkannt würden. Bei Frauen, die
nach der Geburt ihres Kindes auf eine Berufstätigkeit verzichtet hätten, erhöhe sich der Betrag auf 48,60 DM. Bei
nach dem 01.01.1992 geborenen Kindern belaufe sich der Betrag auf 145,80 DM.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 29.06.2000 und den Bescheid vom 03.12.1999 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 29.02.2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, für ihr am 04.03.1963
geborenes Kind eine Kindererziehungszeit von 36 Kalendermonaten anzurechnen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 29.06.2000 zurückzuweisen.
Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Prozessakten beider Rechtszüge, die erledigte
Akte des Sozialgerichts Nürnberg (S 3 RA 173/99) sowie die Verwaltungsakten der Beklagten. Auf ihren Inhalt wird
zur Ergänzung des Sachverhalts Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die von der Klägerin form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist gemäß den §§ 143, 151 des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, jedoch sachlich nicht begründet.
Zu Recht hat das SG entschieden, dass die Klägerin die Anrechnung einer Kindererziehungszeit von 36 Monaten statt
bisher zwölf Kalendermonate nicht beanspruchen kann. Damit liegen die Voraussetzungen einer Rücknahme des
Bescheides vom 07.06.1994 nicht vor, da die Beklagte bei Erlass des Bescheides weder das Recht unrichtig
angewandt hat noch von einem Sachverhalt ausgegangen ist, der sich als unrichtig erweist (vgl. § 44 Abs.1 Satz 1
SGB X). Auf die Ausführungen im Urteil des SG vom 29. Juni 2000 wird insoweit verwiesen (vgl. § 153 Abs.2 SGG).
Die der Entscheidung zugrunde liegende Vorschrift des § 249 Abs.1 SGB VI verstößt auch nicht gegen die
Verfassung. Sie ist weder im Vergleich mit § 56 Abs.1 Satz 1 SGB VI noch für sich betrachtet verfassungswidrig.
Dies ergibt sich aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29.03.1996, 1 BvR 1238/95 (in: FamRZ
1996, S.789), der unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 1992
(BVerfGE 87, 1) ausführt: "Dabei war dem Bundesverfassungsgericht auch die Ausdehnung der
Kindererziehungszeiten für Tatbestände der Kindererziehung ab dem 1. Januar 1992 von bisher einem Jahr
Kindererziehungszeit auf drei Jahre Kindererziehungszeit pro Jahr bekannt. Eine gegen das Grundgesetz verstoßende
Ungleichbehandlung der Tatbestände der Kindererziehung in der Zeit vor In-Kraft-Treten des Rentenreformgesetzes
1992 am 01.01.1992 einerseits und den Tatbeständen der Kindererziehungszeit ab In-Kraft-Treten des Sechsten
Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) vom 18.12.1989 (BGBl.I S.2261) am 01.01.1992 andererseits liegt nicht vor. Zwar
ist der Gesetzgeber nach Art.3 Abs.1 GG i.V.m. Art.6 Abs.1 GG verpflichtet, den Mangel des
Rentenversicherungssystems, der in dem durch Kindererziehung bedingten Nachteil bei der Altersversorgung liegt, in
weiterem Umfang als bisher auszugleichen (vgl. BVerfGE 87, 1, Leitsatz 2). Dem ist der Gesetzgeber mit der
zeitlichen Ausdehnung ab dem Stichtag 01.01.1992 nachgekommen. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers würde
unzulässig beschränkt, wenn ihm verwehrt wäre, eine derart komplexe Reform wie die Berücksichtigung von
Kindererziehungszeiten bei der Altersversorgung in mehreren Stufen zu verwirklichen. In der derzeitigen Lage der
Rentenversicherung hat der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum nicht überschritten. Ergänzend ist darauf
hinzuweisen, dass auch Art.6 Abs.1 GG, wonach Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen
Ordnung stehen, eine längere Anerkennung von Kindererziehungszeiten für vor dem 01.01.1992 geborene Kinder nicht
gebietet."
Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach betont, dass Stichtagsregelungen für die Schaffung von Ansprüchen wie
für das In-Kraft-Treten belastender Regelungen trotz der damit verbundenen Härten grundsätzlich zulässig sind (vgl.
BVerfGE 75, 108 (157); 87, 1 (43 f.)), vorausgesetzt, der Gesetzgeber hat seinen Spielraum in sachgerechter Weise
genutzt, die für die zeitliche Anknüpfung in Betracht kommenden Faktoren hinreichend gewürdigt und eine sachlich
begründete Entscheidung getroffen (vgl. BVerfGE 95, 64 (88)). Diese Gesichtspunkte hat der Gesetzgeber bei der
Wahl des Stichtages am 01.01.1992 beachtet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29.3.1996, a.a.O.).
Im Anschluss an das Rentenreformgesetz von 1992 ist der Gesetzgeber nicht untätig geblieben. Mit der Einfügung
des § 307d SGB VI i.V.m. § 70 Abs. 2 SGB VI durch das Gesetz vom 16.12. 1997 (BGBl I S.2998, in Kraft ab
01.07.1998) werden die Kindererziehungszeiten in einem pauschalierten Verfahren höher bewertet und neben
Beitragszeiten additiv angerechnet. Das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 94, 241) hatte den Gesetzgeber
verpflichtet, die Bewertung der Kindererziehungszeiten neu zu regeln.
Aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. April 2001 (1 BvR 1629/94) lässt sich bezüglich der
Erweiterung der Kindererziehungszeit auf drei Jahre ab dem Stichtag 01.01.1992 nichts herleiten. Danach ist es mit
Art.3 Abs.1 GG i.V.m. Art.6 Abs.1 GG nicht zu vereinbaren, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die
Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit
eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie
Mitglieder ohne Kinder belastet werden. Dabei wurde dem Gesetzgeber für eine Neuregelung Zeit bis zum 31.12.2004
eingeräumt.
Diese Entscheidung unterstreicht, dass der Gesetzgeber der Leistung der Kindererziehung in erheblichem Umfang
Rechnung tragen muss. Sie trifft aber keine Aussage zu der Frage, ob in der Rentenversicherung bei Geburten vor
dem 01.01.1992 Kindererziehungszeiten im Umfang von drei Jahren statt von einem Jahr berücksichtigt werden
müssen.
Insgesamt ist ein Verfassungsverstoß nicht ersichtlich. Insbesondere verstärkt nicht jede weitere Verbesserung im
Bereich der Kindererziehung die durch die Stichtagsregelung verursachte Ungleichbehandlung. Vielmehr entspricht der
Gesetzgeber der Forderung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 87, 1, Leitsatz 2), wenn er die
Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten bei der Altersversorgung stufenweise verwirklicht.
Dass der Gesetzgeber die Geburten vor dem 01.01.1992 nur für ein Jahr, nicht aber für die ersten drei Lebensjahre
rentenrechtlich berücksichtigt, stellt für die Klägerin eine Härte dar, die aber wegen der verfassungsrechtlich
zulässigen Stichtagsregelung nicht von sachfremden Erwägungen geleitet ist. Auch im Interesse familienpolitischer
Überlegungen ist der Gesetzgeber berechtigt, die Leistungen für noch nicht geborene Kinder günstiger zu gestalten als
für bereits geborene Kinder, um dadurch die Geburtenrate zu steigern. Im Übrigen hat der Gesetzgeber die vor dem
01.01.1992 geborenen Kindern den nach diesem Zeitpunkt geborenen Kindern gleichgestellt, als in beiden Fällen die
Zeit der Erziehung eines Kindes bis zu dessen vollendetem zehnten Lebensjahr als Berücksichtigungszeit nach § 57
SGB VI und damit als rentenrechtliche Zeit nach § 54 Abs.1 Nr.3 SGB VI anerkannt wird.
Nach alledem hat die Klägerin keinen Anspruch auf Anerkennung einer Kindererziehungszeit von 36
Kalendermonaten. Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision nach § 160 Abs.2 SGG zuzulassen, sind nicht ersichtlich.