Urteil des LSG Bayern vom 30.09.2009

LSG Bayern: tod, geschiedener ehegatte, subjektives recht, unterhalt, verfassungskonforme auslegung, scheidung, solidarität, wartezeit, eltern, vergleich

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 30.09.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 4 R 679/08
Bayerisches Landessozialgericht L 1 R 204/09
Das Verfahren wird gemäß Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes ausgesetzt. Dem Bundesverfassungsgericht werden
folgende Fragen zur Entscheidung vorgelegt:
Ist § 47 Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs Sechstes Buch in der Fassung von Artikel 1 Nr. 15 des RV-
Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20. April 2004 (BGBl I, S. 554) insoweit mit
1. Art. 6 Abs. 5 des Grundgesetzes vereinbar, als die Norm die Erziehung gemeinsamer nichtehelicher Kinder der
Erziehungsperson und des verstorbenen anderen Elternteils nicht für die Auslösung eines Anspruchs auf
Erziehungsrente genügen lässt,
2. Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes vereinbar, als die Norm die Erziehung gemeinsamer nichtehelicher Kinder der
Erziehungsperson und des verstorbenen anderen Elternteils nicht für die Auslösung eines Anspruchs auf
Erziehungsrente ausreichen lässt, andererseits aber die Erziehung nicht gemeinsamer Kinder dafür genügen kann,
3. Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes vereinbar, als die Norm die Erziehung gemeinsamer nichtehelicher Kinder der
Erziehungsperson und des verstorbenen anderen Elternteils nicht für die Auslösung eines Anspruchs auf
Erziehungsrente genügen lässt, die Erziehung gemeinsamer ehelicher dagegen schon?
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten wegen der Gewährung einer Erziehungsrente nach dem Sozialgesetzbuch Sechstes Buch
(SGB VI).
Die 38-jährige Klägerin hat drei Kinder von drei verschiedenen Vätern. Sie war nie verheiratet. Zwei der Kinder sind
minderjährig und leben bei ihr. Dabei handelt es sich um die 1996 geborene Tochter A. und den 2007 geborenen Sohn
J. (im Folgenden: J). Das älteste Kind, ein 1989 geborener Sohn, besitzt einen eigenen Hausstand. Der Vater von J,
M. F. (im Folgenden: F), ist am 25.05.2008 verstorben. Zu ihm stand die Klägerin bis zu dessen Tod in einer
Beziehung, die von ihr als "feste Partnerschaft" bezeichnet wird. Von Juni 2007 an lebte F in einer eigenen Wohnung
im selben Haus wie die Klägerin und die beiden Kinder. Allerdings verbrachte er sehr viel Zeit in deren Wohnung, was
die Klägerin als "richtige Familie" empfand. Außer einer kleinen Rente hatte F kein Einkommen. Unterhalt für J zahlte
er nicht, beteiligte sich nach Schilderung der Klägerin aber finanziell an den Einkäufen und machte seinem Sohn ab
und an kleine Geschenke.
Die Klägerin verfügt über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Sie begann 1987 eine Lehre zur Bürogehilfin, die
sie wieder abbrach. Den Lebensunterhalt für sich und ihre minderjährigen Kinder bestreitet die Klägerin aus Einkünften
aus einer geringfügigen Beschäftigung, aus einer Halbwaisenrente für J, aus dem Kindesunterhalt, den der Vater von
A. leistet, sowie aus Kindergeld für beide Kinder. Des weiteren erhält sie ergänzende Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch.
Am 19.06.2008 beantragte die Klägerin eine Erziehungsrente wegen Erziehung des J nach dem Tod von F. Mit
Bescheid vom 14.07.2008 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab, weil die Klägerin mit F nie verheiratet war. Den
dagegen eingelegten Widerspruch (Schreiben vom 04.08.2008) wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom
11.08.2008 als unbegründet zurück.
Mit Schriftsatz vom 26.09.2008 erhob die Klägerin Klage beim Sozialgericht Augsburg. Dieses wies die Klage mit
Urteil vom 12.02.2009 ab. Die Nichtgleichstellung von Ehe und eheähnlicher Gemeinschaft, so das Sozialgericht zur
Begründung, sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts verfassungsgemäß. Das gelte auch im Rahmen
von § 47 SGB VI. Auch sei die Situation der Klägerin nicht vergleichbar mit der derjenigen Personen, die durch § 47
SGB VI begünstigt würden. Denn die Klägerin hätte vor dem Ableben des F die Lebensgemeinschaft mit diesem nicht
aufgehoben gehabt.
Dagegen richtet sich die mit Schriftsatz vom 12.03.2009 eingelegte Berufung der Klägerin. Diese begründet das
Rechtsmittel damit, sie fühle sich in ihren Grundrechten, insbesondere in Art. 3 GG verletzt. Es liege ein Verstoß
gegen den Gleichheitsgrundsatz vor, wenn eine Person, deren Ehe geschieden oder annulliert worden sei und der Ex-
Ehegatte versterbe, Erziehungsrente erhalten könne, der ledige Partner, dessen anderer Partner verstorben sei,
jedoch nicht. Eine Heiratsabsicht zwischen ihr und F habe bestanden.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 12. Februar 2009 aufzuheben und die Beklagte
unter Aufhebung des Bescheids vom 14. Juli 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. September
2008 zu verurteilen, ihr eine Erziehungsrente nach dem Tod von M. F. gemäß den gesetzlichen Bestimmungen zu
gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hat keine ernsthaften Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 47 Abs. 1 SGB VI und hält das Urteil des
Sozialgerichts für zutreffend.
II.
Die Berufung ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Jedoch vermag der Senat nicht abschließend über sie zu
entscheiden. Denn die Regelung des § 47 Abs. 1 SGB VI ist verfassungswidrig, wovon die Klägerin unmittelbar
betroffen ist. Da Art. 100 Abs. 1 GG ein Normverwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts statuiert, war das
Berufungsverfahren auszusetzen und dessen Entscheidung einzuholen.
§ 47 SGB VI in der hier einschlägigen Fassung des Artikel 1 Nr. 15 des RV-Altersgren- zenanpassungsgesetzes vom
20. April 2004 (BGBl I, S. 554) hat folgenden Wortlaut:
§ 47 Erziehungsrente
(1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Erziehungsrente, wenn 1. ihre Ehe nach
dem 30. Juni 1977 geschieden und ihr geschiedener Ehegatte gestorben ist, 2. sie ein eigenes Kind oder ein Kind des
geschiedenen Ehegatten erziehen (§ 46 Abs. 2), 3. sie nicht wieder geheiratet haben und 4. sie bis zum Tod des
geschiedenen Ehegatten die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. (2) Geschiedenen Ehegatten stehen Ehegatten
gleich, deren Ehe für nichtig erklärt oder aufgehoben ist. ( 3) Anspruch auf Erziehungsrente besteht bis zum Erreichen
der Regelaltersgrenze auch für verwitwete Ehegatten, für die ein Rentensplitting durchgeführt wurde, wenn 1. sie ein
eigenes Kind oder ein Kind des verstorbenen Ehegatten erziehen (§ 46 Abs. 2), 2. sie nicht wieder geheiratet haben
und 3. sie bis zum Tod des Ehegatten die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. (4) Für einen Anspruch auf
Erziehungsrente gelten als Scheidung einer Ehe auch die Aufhebung einer Lebenspartnerschaft, als geschiedener
Ehegatte auch der frühere Lebenspartner, als Heirat auch die Begründung einer Lebenspartnerschaft, als verwitweter
Ehegatte auch ein überlebender Lebenspartner und als Ehegatte auch der Lebenspartner.
Die verfassungswidrige Regelung besteht in ihrer materiellen Substanz unverändert seit der Schaffung des
Sozialgesetzbuchs VI durch das Rentenreformgesetz 1992.
Die Erziehungsrente beruht auf dem ursprünglichen Gedanken, die geschiedenen Ehegatten in die
Hinterbliebenenrentenversorgung der Rentenversicherung einzubeziehen (vgl. U. Köbl in: Schulin, Handbuch des
Sozialversicherungsrechts Band 3, 1999, § 28 RdNr. 86). Diese Motivation führte zur Einführung einer so genannten
Geschiedenenwitwenrente. Mit der Eherechtsreform 1977 - es war unter anderem ein Versorgungsausgleich eingeführt
worden (vgl. dazu BVerfGE 72, 141 (143, 151)) - büßte die Geschiedenenversorgung durch besondere Renten wegen
Todes jedoch ihre innere Berechtigung partiell ein. Das äußerte sich darin, dass die Geschiedenenwitwenrente für
Ehen, die nach dem seit 1. Juli 1977 geltenden Recht geschieden wurden, gestrichen wurde. Da der Gesetzgeber die
Geschiedenenwitwenrente nicht völlig ersatzlos entfallen lassen wollte, gibt es seit 1. Juli 1977 (vgl. § 1265 a der
Reichsversicherungsordnung, § 42 a des Angestelltenversicherungsgesetzes) die Erziehungsrente. Diese wurde zum
1. Januar 1992 in das Sozialgesetzbuch VI übernommen. Bei ihr handelt es sich zwar um eine Rente wegen Todes,
jedoch ist sie seit jeher eine Rente aus eigener Versicherung (vgl. interfraktioneller Entwurf des Rentenreformgesetzes
1992, BTDrucks 11/4124, S. 164).
Die Klägerin erfüllt die Leistungsvoraussetzungen für eine Erziehungsrente nicht. Zwar ist sie Versicherte im Sinn von
§ 47 Abs. 1 SGB VI, erzieht ein eigenes Kind (§ 47 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI) und hat "nicht wieder", nämlich nie
geheiratet (§ 47 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI). Des Weiteren hat sie bis zum Tod des F die allgemeine Wartezeit erfüllt. Auch
ist F verstorben (§ 47 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI). Ein Anspruch scheitert jedoch daran, dass sie von F nicht nach dem 30.
Juni 1977 geschieden wurde, weil sie nie mit ihm verheiratet war. Auch die Tatbestände von § 47 Abs. 2 oder 3 SGB
VI, die eine Scheidung "ersetzen" würden, liegen nicht vor.
Der Senat ist davon überzeugt, dass der Leistungsausschluss, der auf dem Fehlen einer Scheidung beruht,
verfassungswidrig ist.
1. Die Regelung verletzt Art. 6 Abs. 5 GG. Dieses Grundrecht enthält einen Verfassungsauftrag, der die
Gleichstellung und Gleichbehandlung aller Kinder ungeachtet ihres Familienstandes zum Ziel hat und den
Gesetzgeber verpflichtet, nichtehelichen Kindern durch positive Regelungen die gleichen Bedingungen für ihre
körperliche und seelische Entwicklung zu schaffen wie ehelichen Kindern (BVerfGE 118, 45 (62)). Insbesondere
beinhaltet Art. 6 Abs. 5 GG ein subjektives Recht des nichtehelichen Kindes auf Gleichbehandlung mit ehelichen
Kindern.
2. Gerade wegen seines Nichtehelichenstatus wird J benachteiligt. Er wird deswegen schlechter gestellt, weil seine
Eltern nicht miteinander verheiratet waren. Wären sie geschieden gewesen, wäre er eheliches Kind, und seine Mutter,
die Klägerin, hätte einen Anspruch auf Erziehungsrente. J trifft aufgrund dieses Umstands der Nachteil, dass für ihn
als nichteheliches Kind bei typisierender Betrachtung eine verfassungsrechtlich relevante Wahrscheinlichkeit besteht,
dass er - aufgrund der finanziellen Schlechterstellung seiner Mutter - weniger deren persönliche Betreuung erfahren
kann, als wenn seine Eltern geschieden worden wären, er also eheliches Kind wäre, und die Klägerin deshalb eine
Erziehungsrente erhalten würde. Es bedarf keiner gesonderten Begründung, dass die finanzielle Schlechterstellung
der Mutter tatsächlich zu diesem Nachteil führen kann. Ebenso wenig muss begründet werden, dass eine reduzierte
Betreuung von Seiten der Mutter für das Kind tatsächlich einen Nachteil darstellt. Insoweit wird vielmehr voll auf
BVerfGE 118, 45 (63, 65 bis 67) verwiesen; die dort angestellten Erwägungen gelten nach Auffassung des Senats
ohne Einschränkung auch für die Vorenthaltung einer Erziehungsrente.
Dass die Erziehungsrente der Klägerin und nicht J gewährt wird, spielt keine Rolle. Denn Art. 6 Abs. 5 GG verbietet
auch eine mittelbare Schlechterstellung (BVerfGE 118, 45 (62)). Rechtfertigungsbedürftig ist also nicht nur eine
unterschiedliche Behandlung, die unmittelbar-normativ am Nichtehelichenstatus anknüpft, sondern auch das
mittelbare Resultat, dass nichteheliche Kinder (erfahrungsgemäß) de facto schlechter stehen.
Das von der Beklagten und dem Sozialgericht aufgeworfene Problem der Vergleichbarkeit der Ausgangssachverhalte
stellt sich im Rahmen der Prüfung von Art. 6 Abs. 5 GG nicht, weil diese Verfassungsnorm von vornherein nur
Anwendung finden kann, wenn der verfassungsrechtlich bestimmte Vergleichsparameter vorliegt. Steht fest, dass
nichteheliche Kinder - wenn auch nur mittelbar - schlechter gestellt werden als eheliche, impliziert das per se eine
verfassungsrechtliche Vergleichbarkeit. Das ist hier Fall: Wäre J eheliches Kind der Klägerin und des F - wobei deren
Nichtverheiratetsein zum Zeitpunkt des Todes des F zu unterstellen ist -, hätte er seiner Mutter eine Erziehungsrente
"vermitteln" können.
3. Die festgestellte Benachteiligung führt zu einer Verletzung von Art. 6 Abs. 5 GG. Eine differenzierende Regelung
für nichteheliche Kinder ist verfassungsrechtlich nur gerechtfertigt, wenn sie aufgrund der unterschiedlichen
tatsächlichen Lebenssituation zwingend erforderlich ist, um das Ziel der Gleichstellung von nichtehelichen mit
ehelichen Kindern zu erreichen. Fehlt es an solchen zwingenden tatsächlichen Gründen für die Ungleichbehandlung
nichtehelicher Kinder, lässt sich diese nur durch kollidierendes Verfassungsrecht rechtfertigen, das mit Art. 6 Abs. 5
GG abzuwägen ist (BVerfGE 118, 45 (62 m.w.N.)). Aus diesen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts geht klar
hervor, dass im Rahmen von Art. 6 Abs. 5 GG die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung nicht auf eine bloße
Willkürprüfung beschränkt werden darf. Vielmehr dürfte eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung anzustellen sein,
wobei zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung nur exklusive Rechtsgüter ins Feld geführt werden können.
4. Rechtlich nicht von Belang ist, dass die Klägerin zu Lebzeiten des F von diesem keinen Unterhalt bezogen hat.
Denn § 47 Abs. 1 SGB VI fragt an keiner Stelle, ob durch den Tod des Partners der Erziehungsperson tatsächlich
eine finanzielle Einbuße entstanden ist. Vielmehr geht das Gesetz hier typisierend vor. Das wird dadurch
unterstrichen, dass auch die Erziehung solcher Kinder einen Erziehungsrentenanspruch auslösen kann, für die der
Verstorbene überhaupt nicht unterhaltspflichtig war (Stiefkinder). Wenn aber § 47 Abs. 1 SGB VI von, auch gröberen,
Typisierungen geradezu geprägt ist, erschiene es systemwidrig, bei der vorliegenden Beurteilung auf die tatsächliche
Unterhaltssituation abzustellen.
5. a) Es kann offen bleiben, ob der strenge Maßstab, der sich aus der Entscheidung BVerfGE 118, 45 herauslesen
lässt, dann relativiert werden kann, wenn die Benachteiligung nichtehelicher Kinder nur "zufällig" oder "beiläufig"
geschieht. Denn von einer nur "zufälligen" oder "beiläufigen" Benachteiligung kann hier nicht die Rede sein.
In diesem Zusammenhang ist einzuräumen, dass § 47 Abs. 1 SGB VI - anders als § 1615 l Abs. 2 Satz 3 BGB a.F. -
nicht spezifisch nichteheliche Kinder gegenüber ehelichen benachteiligt. Denn ist der geschiedene Ehegatte
verstorben, eröffnet § 47 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI für eine erstaunliche Vielfalt von Erziehungskonstellation der
versicherten Erziehungsperson die Möglichkeit, eine Erziehungsrente zu erhalten. Keineswegs nur die Erziehung
eines gemeinsamen Kindes der geschiedenen Ehegatten ebnet den Weg zu einer Erziehungsrente. Vielmehr wird
jedes eigene Kind der erziehenden Person - egal wer der andere Elternteil ist - privilegiert, und auch die Kinder des
(verstorbenen) geschiedenen Ehegatten - auch hier wiederum unabhängig davon, wer der andere Elternteil ist. In den
letztgenannten Fällen stellt sich das besondere verfassungsrechtliche Problem einer Schlechterstellung gerade wegen
der Nichtehelichkeit nicht. Denn ob die privilegierten Kinder letztlich eheliche oder nichteheliche sind, ist nicht von
Belang. Nur bei gemeinsamen Kindern der Erziehungsperson und des verstorbenen Elternteils besteht die Brisanz in
Bezug auf Art. 6 Abs. 5 GG.
Aus dieser "Streuwirkung" des § 47 SGB VI ergibt sich, dass der Norm die diskriminierende Tendenz nicht "auf die
Stirn geschrieben" ist. Es ist gerade nicht jeder Sachverhalt, den die Vorschrift betrifft, von einer Benachteilung
nichtehelicher im Vergleich zu ehelichen Kindern geprägt. Der Regelungsgehalt scheint somit nicht spezifisch auf die
in Rede stehende Benachteiligung ausgerichtet.
In den allermeisten Fällen einer unterschiedlichen Behandlung aber werden gemeinsame Kinder aus der geschiedenen
Ehe privilegiert. Faktisch lösen diese Kinder weitaus am häufigsten einen Anspruch der Erziehungsperson auf
Erziehungsrente aus. Bevorzugungen gerade wegen der Ehelichkeit und entsprechend Benachteiligungen gerade
wegen der Nichtehelichkeit sind demnach kennzeichnend für die Differenzierung, die § 47 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI
vornimmt. Diese Faktizität ist ausreichender Grund, die Verschiedenbehandlung anhand eines strengen Maßstabs zu
bewerten.
b) Der Maßstab zur Beurteilung, ob die festgestellte Verschiedenbehandlung gerechtfertigt werden kann, muss im
Prinzip der gleiche sein, den auch das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung BVerfGE 118, 45 angelegt hat.
Denn die verfassungsrechtliche Problemstellung entspricht im Wesentlichen der im Unterhaltsrecht. Das liegt daran,
dass der Erziehungsrente in erster Linie eine Unterhaltsersatzfunktion zukommt.
aa) Hat nach einer Scheidung einer der Ehegatten ein gemeinschaftliches Kind zu betreuen, steht ihm nach Maßgabe
von § 1570 BGB in vielen Fällen dem Grunde nach ein Unterhaltsanspruch gegen den anderen Ehegatten zu. Für die
Betreuung eines nicht gemeinschaftlichen Kindes gilt § 1570 BGB nicht; insoweit kann ein Unterhaltsanspruch gegen
den geschiedenen Ehegatten nur auf der Grundlage von § 1576 BGB (Unterhalt aus Billigkeitsgründen) bestehen.
Stirbt der unterhaltspflichtige Ehegatte, kann der das Kind betreuende Ehegatte unter den relativ leicht zu erfüllenden
Voraussetzungen des § 47 Abs. 1 SGB VI in den Genuss einer Erziehungsrente kommen. Deren Ratio besteht
offenkundig darin, den Verlust des "Ernährers" und des damit verbundenen Unterhaltsanspruchs zu kompensieren
(vgl. U. Köbl, a.a.O., § 28 RdNr. 86).
Zwar muss zugegeben werden, dass dieser Normzweck in der rentenversicherungsrechtlichen Anspruchsgrundlage
nicht stringent umgesetzt wird. Vielmehr findet man eine Typisierung vor, die erheblich günstigere
Rahmenbedingungen aufweist als das korrespondierende Unterhaltsrecht: Während der bürgerlich-rechtliche
Unterhaltsanspruch zeitlich recht eng limitiert ist, lässt sich das für den Anspruch auf eine Erziehungsrente (bis zum
Erreichen der Regelaltersgrenze) nicht feststellen. Die unterhaltsrechtliche Regelung macht einen Anspruch stark von
den Umständen des Einzelfalls, insbesondere von der Betreuungsbedürftigkeit des Kindes, abhängig. § 47 Abs. 1 Nr.
2 SGB VI verzichtet auf eine derartige Differenzierung. Die Kinder, an deren Erziehung § 47 SGB VI einen
Rentenanspruch der erziehenden Person knüpft, sind nicht nur die gemeinsamen Kinder des geschiedenen
Ehepaares. Vielmehr wird, wie bereits ausgeführt, jedes eigene Kind der erziehenden Person - egal wer der andere
Elternteil ist - privilegiert, und auch die Kinder des geschiedenen Ehegatten - auch hier wiederum unabhängig davon,
wer der andere Elternteil ist. Diese Begünstigung geht über die der §§ 1570, 1576 BGB hinaus.
Dass § 47 SGB VI das Unterhaltsrecht der §§ 1570 ff. BGB nicht eins zu eins abbildet, kann man auch daraus
ersehen, dass beim Tod des geschiedenen Ehegatten stets der Weg zu einer Erziehungsrente eröffnet wird, auch
wenn, wie sich aus § 1586 b BGB ergibt, mit dem Tod des Unterhaltspflichtigen der Unterhaltsanspruch nicht
untergeht. Jedoch statuiert § 1586 b Abs. 1 Satz 3 BGB eine besondere Beschränkung der Erbenhaftung kraft
Gesetzes, welche günstiger ist als die regulären Mechanismen des Erbrechts, eine Haftungsbeschränkung
herbeizuführen: Die Haftung des Erben bleibt auf den Betrag beschränkt, den der geschiedene Ehegatte, wäre die Ehe
nicht geschieden, als Pflichtteil erhalten hätte.
Dennoch dominiert der Zweck, durch Tod des Unterhaltgebers weggefallenen Unterhalt zu ersetzen. Bei der hier
vorliegenden Konstellation, dass die verstorbene Person leiblicher Elternteil ist, gilt das im Besonderen.
bb) Die gleiche Interessenlage, nämlich ein Surrogat für den Unterhaltsanspruch zu erhalten, besteht - wenn auch
geringfügig abgeschwächt - dann, wenn der nach § 1615 l BGB unterhaltspflichtige nichteheliche Elternteil verstirbt.
Sind die Eltern eines Kindes nicht verheiratet, kann dem betreuenden Elternteil ein Unterhaltsanspruch nach § 1615 l
BGB zustehen, der durch das Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts vom 21. Dezember 2007 (BGBl I, S. 3189)
dem Geschiedenenunterhalt nach § 1570 BGB angeglichen wurde (vgl. dazu Gesetzentwurf der Bundesregierung,
BTDrucks 16/1830, S. 30 bis 32). Stirbt der zum Unterhalt verpflichtete Elternteil, führt dies nach § 1615 l Abs. 3 Satz
5 BGB nicht zum Erlöschen des Unterhaltsanspruchs. An dessen Stelle treten die Erben. Anders als § 1586 b Abs. 1
Satz 3 BGB sind die Erben nicht durch eine besondere Haftungsbeschränkung privilegiert. Für sie bleiben jedoch die
erbrechtlichen Möglichkeiten einer Haftungsbeschränkung, was das Interesse der erziehenden Person an der
Gewährung einer Erziehungsrente sicherlich erheblich steigert.
Die somit festgestellte Unterhaltsersatzfunktion sowie der Umstand, dass eine Erziehungsrente allein wegen der
Erziehung eines Kindes gewährt wird, gebieten es, die Grundsätze der Entscheidung BVerfGE 118, 45 - und
insbesondere den strengen Maßstab bezüglich einer Rechtfertigung der Ungleichbehandlung - entsprechend
heranzuziehen.
c) Richtig ist zweifellos, dass die Erziehungsrente keine Leistung verkörpert, die nach dem Versicherungsprinzip -
quasi im Interesse der Aufrechterhaltung einer Globaläquivalenz zwischen Beiträgen und Leistungen - geboten wäre,
sondern eher auf dem Prinzip des sozialen Ausgleichs beruht. Sie stellt sich nicht als essentielle,
verfassungsrechtlich gebotene staatliche Hilfe dar. Aber auch dieser Aspekt erscheint dem Senat nicht geeignet, den
Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers signifikant erweitert zu sehen.
d) Schließlich eignet sich auch die Gegebenheit, dass die Bedeutung der Erziehungsrente eher gering ist (vgl. Butzer
in: GK-SGB VI, § 47 RdNr. 17 f. (Stand: April 2009)), nicht dazu, dem Gesetzgeber freiere Hand zu lassen oder ihm
gar eine erhöhte Fehlertoleranz zuzugestehen. Gleiches gilt für den Umstand, dass J immerhin eine Halbwaisenrente
bezieht. Dadurch wird die Benachteiligung in Bezug auf die Erziehungsrente nicht relativiert. Das gilt umso mehr, als
erstens die Halbwaisenrente lediglich die Funktion hat, entgangenen Kindesunterhalt zu ersetzen, und sie zweitens
ehelichen wie nichtehelichen Kindern gleichermaßen zusteht, also Letztere nicht bevorzugt.
6. Es lassen sich keine tatsächlichen oder rechtlichen Unterschiede feststellen, die geeignet wären, die
Schlechterstellung gerade der nichtehelichen gegenüber den ehelichen Kindern zu rechtfertigen.
a) Was die Benachteiligung der nichtehelichen Kinder angeht, kann diese nicht mit unterschiedlichen tatsächlichen
Lebensbedingungen oder mit einer Bandbreite unterschiedlicher Lebensgestaltungen, die bei Nichtverheirateten im
Gegensatz zu Ehepaaren anzutreffen sind, gerechtfertigt werden; die entsprechenden Passagen aus der den Unterhalt
betreffenden Entscheidung BVerfGE 118, 45 gelten hier entsprechend (BVerfGE 118, 45 (67 f.)).
b) Die gemeinsamen ehelichen Kinder stehen der gesetzlichen Rentenversicherung unter keinem denkbaren Aspekt
näher als die nichtehelichen, so dass sich auch im Versicherungsverhältnis keine Rechtfertigungsgründe finden
lassen.
c) Auch der Gesichtspunkt der nachehelichen Solidarität eignet sich nicht dazu, die festgestellte Benachteiligung zu
rechtfertigen. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Gesichtspunkt in der Entscheidung BVerfGE 118, 45 letztlich
für unmaßgeblich befunden (BVerfGE 118, 45 (69 bis 71)). Es hat unter anderem ausgeführt, räume der Gesetzgeber
dem geschiedenen Ehegatten einen Unterhaltsanspruch allein wegen der persönlichen Betreuung des gemeinsamen
Kindes ein, dann verbiete es ihm Art. 6 Abs. 5 GG, die Dauer der für notwendig erachteten persönlichen Betreuung
beim ehelichen Kind anders zu bemessen als bei einem nichtehelichen Kind. Denn wie lange einem Kind eine
persönliche Betreuung durch einen Elternteil zuteil werden solle, bestimme sich nicht nach der ehelichen Solidarität,
sondern nach den Bedürfnissen von Kindern, die sich bei ehelichen und nichtehelichen Kindern grundsätzlich nicht
unterschieden. Der Senat sieht angesichts dessen keinen Ansatzpunkt, bei der Erziehungsrente als typisierten
Unterhaltsersatz der nachehelichen Solidarität größere Bedeutung, geschweige denn eine die Ungleichbehandlung
rechtfertigende Wirkung, beizumessen. Denn die mit der Ungleichbehandlung einhergehende tatsächliche und
rechtliche Problematik ist im Wesentlichen die gleiche.
Zur Rechtfertigung vermag auch nicht der tatsächliche Aspekt zu dienen, dass die Ehepartner mit der Heirat bewusst
eine Solidar- und Einstandsgemeinschaft begründen, die bei einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft von vornherein
ebenso bewusst vermieden wird. Wer daraus ein schutzwürdiges Vertrauen der Ehepartner dahin ableitet, dass auch
bei Scheitern der Ehe unter bestimmten Voraussetzungen noch eine nachwirkende Solidarität zum Tragen kommt, die
bei der nichtehelichen Lebensgemeinschaft von vornherein fehlt, verkennt einerseits die Kernaussage der
Entscheidung BVerfGE 118, 45. Andererseits wird er dem Umstand nicht gerecht, dass der Gesetzgeber mit dem
Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts die Unterhaltsansprüche nach § 1615 l und § 1570 BGB einander
angeglichen hat; für dem zuwiderlaufende Vertrauenserwägungen besteht daher kein Raum mehr.
d) Dass die Erziehung gemeinsamer nichtehelicher Kinder der Erziehungsperson und des verstorbenen Partners
keinen Erziehungsrentenanspruch auszulösen vermag, kann auch nicht damit gerechtfertigt werden, dem
Gesetzgeber sei es aus grundsätzlichen Erwägungen zuzubilligen, die Erziehungsrente als reine Leistung für
Geschiedene beizubehalten, Ausweitungstendenzen entgegen zu wirken oder sie sogar für Geschiedene zu
"reservieren".
Die Erziehungsrente hat zweifellos die grundsätzliche Bestimmung, bei typisierender Betrachtung eine finanzielle
Stütze für solche Fälle bereitzuhalten, in denen der Wegfall der Geschiedenenwitwenrente unvertretbare Lücken reißt.
Der Gesetzgeber hat denn auch die Erziehungsrente 1977 in dem erkennbaren Bestreben eingeführt, gerade den
Geschiedenen eine Versorgung zu ermöglichen. Dieser ist damit von Anfang an eine klare, entsprechende
Zweckrichtung beigelegt worden. Das mag dazu motivieren, die Geschiedenenversorgung als geschlossenes,
impermeables System zu begreifen, welche Ausweitungen über diese inhärenten Grenzen hinaus von vornherein nicht
zugänglich ist. Hinzu kommt, dass es sich bei der Erziehungsrente nicht um eine obligatorische Leistung der
gesetzlichen Rentenversicherung handelt. Der Gesetzgeber hätte kein Verfassungsrecht verletzt, wenn er sich
seinerzeit dazu entschlossen hätte, die Geschiedenenversorgung gänzlich aus der gesetzlichen Rentenversicherung
herauszunehmen. Die Leistung ist also nicht nur von Anfang an von einem spezifischen Schutzzweck geprägt
gewesen, sondern aus Sicht des Gesetzgebers auch dispositiv. Diese Kombination scheint nicht a priori ungeeignet,
einen Rechtfertigungsgrund für eine Differenzierung zu Lasten nichtehelicher Kinder zu liefern.
Wie die Entscheidung BVerfGE 118, 45 jedoch zeigt, besteht für solche Erwägungen im Rahmen von Art. 6 Abs. 5
GG kein Raum. Auch wenn eine Sozialleistung sich als nicht essentielles, verfassungsrechtlich nicht gefordertes
staatliches "Benefizium" darstellt, dürfen nichteheliche Kinder gegenüber ehelichen nur unter engen Voraussetzungen
benachteiligt werden (vgl. BVerfGE 118, 45 (62 m.w.N.)). Will der Staat gegenüber Kindern Großzügigkeit walten
lassen, darf er dabei nicht systematisch nichteheliche ausschließen. Dass wie hier die exklusive Widmung zugunsten
der Geschiedenen bereits eine längere Tradition aufweist, vermag daran nichts zu ändern.
Das für die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen häufig bemühte Zitat, niemand könne allein daraus, dass einer
Gruppe aus besonderem Anlass besondere Vergünstigungen zugestanden würden, für sich ein verfassungsrechtliches
Gebot herleiten, genau die selben Vorteile in Anspruch nehmen zu dürfen (vgl. BVerfGE 49, 192 (208)), vermag die
Ungleichbehandlung nicht in "besserem Licht" erscheinen zu lassen. Zum Einen ist dieser Obersatz vom
Bundesverfassungsgericht für Differenzierungen geprägt worden, die nur dem allgemeinen Gleichheitssatz unterfallen,
nicht aber für das ungleich strengere Differenzierungsverbot des Art. 6 Abs. 5 GG. Darüber hinaus kann er auch im
Anwendungsbereich des allgemeinen Gleichheitssatzes nach Auffassung des Senats nur dann Bestand haben, wenn
es von vornherein an einer engen Vergleichbarkeit zwischen behaupteter Benachteiligung und behaupteter
Bevorzugung fehlt. Benachteiligungen nichtehelicher Kinder sind aber stets unmittelbar mit der korrespondierenden
Bevorzugung ehelicher Kinder eng vergleichbar.
e) Wie oben dargestellt, geht de iure die Haftung der Erben für den Unterhaltsanspruch nach § 1615 l BGB weiter als
für den nach §§ 1570 ff. BGB. Das führt aber nicht dazu, dass dem Unterhaltsersatz durch eine Erziehungsrente im
ersteren Fall signifikant weniger Wichtigkeit beizumessen wäre. Denn die Erben des nach § 1615 l BGB zum Unterhalt
Verpflichteten werden in aller Regel ihre Haftung auf den Nachlass beschränken, was dazu führt, dass nur dieser zur
Befriedigung der Unterhaltsansprüche zur Verfügung steht. Gleichzeitig gilt es zu berücksichtigen, dass der Unterhalt
nach § 1615 l BGB in den meisten Fällen wohl aus laufendem Erwerbseinkommen des Unterhaltspflichtigen bestritten
wird. Diese laufende Einnahmequelle ist mit dem Tod des Unterhaltspflichtigen unwiederbringlich weggefallen. De
facto steht damit die nach § 1615 l BGB unterhaltsberechtigte Person im Fall des Todes des Unterhaltspflichtigen
nicht entscheidend besser als die nach § 1570 BGB unterhaltsberechtigte Person.
f) Der gegenwärtige Rechtszustand kann schließlich nicht mit einer noch laufenden Prüfungsfrist für den Gesetzgeber
zum "Ob" und "Wie" einer rentenrechtlichen Folgeregelung gerechtfertigt werden. Da die Erziehungsrente vom
Grundsatz her der Erziehungsperson eine Kompensation für den durch den Tod des Partners entgangenen
Unterhaltsanspruch gewähren soll, ist es angemessen, die Prüfungsfrist des Gesetzgebers erst dann anlaufen zu
lassen, wenn die Entscheidung BVerfGE 118, 45 im Unterhaltsrecht umgesetzt ist. In diesem Zusammenhang hat
das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber aufgegeben, bis zum 31. Dezember 2008 eine Neuregelung zu
treffen (BVerfGE 118, 45 (78)). Falsch wäre, dem Gesetzgeber für die Anpassung des Erziehungsrentenrechts einen
weiteren zeitlichen "Aufschlag", z.B. ein Jahr, auf diesen vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Zeitpunkt zu
gewähren. Dem steht nämlich entgegen, dass der Gesetzgeber bereits zum 1. Januar 2008 mit dem Gesetz zur
Änderung des Unterhaltsrechts den Kindesbetreuungsunterhalt nichtehelicher und geschiedener Mütter vereinheitlicht
hat. Die Unterhaltsersatzfunktion der Erziehungsrente wird somit bereits seit geraumer Zeit nicht konsequent und
differenziert abgebildet. Eine eventuelle Prüfungsfrist des Gesetzgebers wäre bereits abgelaufen.
g) Erheblich gegen eine an den Geschiedenenstatus anknüpfende Differenzierung spricht nach Ansicht des Senats,
dass die Erziehungsrente eine Rente aus eigener Versicherung der Erziehungsperson darstellt. Berücksichtigt man
dies, erscheint nur schwer nachvollziehbar, aus welchem Grund der Beziehung zwischen der Erziehungsperson und
dem verstorbenen Partner eine derart dominierende Bedeutung beigemessen wird.
7. Soweit man die rechtliche Behandlung von J mit der von Kindern vergleicht, die nicht notwendig eheliche sind und
deren Erziehung dennoch einen Erziehungsrentenanspruch auszulösen vermag, ist Art. 3 Abs. 1 GG
verfassungsrechtlicher Maßstab. Von § 47 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI werden auch Kinder privilegiert, welche die
erziehende Person oder der verstorbene andere Teil in die Beziehung, die in eine Heirat und dann in eine Scheidung
mündete, "eingebracht" hatte. Solche "Patchwork-Kinder" werden gegenüber J bevorzugt. Wenn schon im Vergleich
eheliche/nichteheliche Kinder eine Verfassungswidrigkeit vorliegt, so muss man diese - auch wenn nicht Art. 6 Abs. 5
GG, sondern der allgemeine Gleichheitssatz einschlägig ist - hier erst recht annehmen. Denn aus der Sicht von J hat
nicht einmal der Tod des leiblichen Vaters zur Gewährung einer Erziehungsrente geführt. Bei den "Patchwork-Kindern"
kann dagegen schon der Tod eines Stiefelternteils diese Rechtsfolge auslösen, nur weil der Elternteil und der
Stiefelternteil voneinander geschieden sind. Dass Kinder in der Situation des J einen Halbwaisenrentenanspruch
haben, lässt die Benachteiligung nicht hinnehmbarer erscheinen. Unabhängig davon, dass der privilegierte Bezug
einer Halbwaisenrente von vornherein ungeeignet ist, eine Benachteiligung gerade hinsichtlich der Erziehungsrente zu
rechtfertigen - einmal geht es um Kompensation des Kindesunterhalts, das andere Mal des "Partnerunterhalts" -,
werden Stiefkinder über § 48 Abs. 3 SGB VI den eigenen Kindern des Verstorbenen recht weit gehend gleich gestellt.
8. Weiter werden auch die nicht mit dem verstorbenen Partner verheirateten Erziehungspersonen gegenüber
denjenigen benachteiligt, die mit ihm verheiratet waren: Auf der einen Seite steht die geschiedene Mutter, die ein Kind
zu erziehen hat, das aus der geschiedenen Ehe stammt. Wenn der geschiedene Ehegatte stirbt, kann sie - sofern sie
die übrigen, hier unproblematischen Voraussetzungen erfüllt - nach § 47 SGB VI einen Anspruch auf eine
Erziehungsrente erwerben. Auf der anderen Seite steht die Mutter, die, wie die Klägerin, mit dem Vater ihres Kindes
nicht verheiratet ist. Stirbt der Vater, bleibt ihr eine Erziehungsrente von vornherein vorenthalten.
Verfassungsrechtlicher Maßstab ist insoweit Art. 3 Abs. 1 GG.
Die Beklagte und das Sozialgericht verneinen a priori eine signifikante Vergleichbarkeit der Ausgangssachverhalte,
weil im vorliegenden Fall die Beziehung zwischen der Klägerin und dem F bis zu dessen Tod intakt gewesen sei, in
den Vergleich aber nur zerbrochene Beziehungen einbezogen werden dürften. Diese Ansicht teilt der Senat nicht.
Denn die entscheidende Gemeinsamkeit, welche die Vergleichbarkeit letztlich herstellt, besteht darin, dass einerseits
in beiden Fällen Mütter nicht in den Genuss einer Witwenrente kommen können, weil sie zum Zeitpunkt des Ablebens
des Partners nicht mit diesem verheiratet gewesen sind, andererseits in beiden Fällen durch dessen Tod bei
typisierender Betrachtung ein Unterhaltsgeber verloren geht. Diese Übereinstimmung wird nicht dadurch in relevanter
Weise berührt, dass im einen Fall die Beziehung zum Zeitpunkt des Todes bereits zerbrochen war, im anderen Fall
nicht. Im Übrigen setzt auch § 47 SGB VI nicht stets eine Trennung bzw. ein Scheitern der Beziehung voraus. Dies
betrifft zwangsläufig nur die Scheidung der Ehe gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI, nicht jedoch z.B. eine
Nichtigerklärung der Ehe im Sinne des § 47 Abs. 2 SGB VI mit der Folge rückwirkender Kraft (vgl. RGZ 88, 328), so
z.B. bei einer Doppelehe.
Analog zu den Ausführungen unter 3. und 4. sieht der Senat auch bezüglich der Klägerin unmittelbar eine
Grundrechtsverletzung. Denn Art. 3 Abs. 1 GG ist dann verletzt, wenn die nichteheliche Erziehungsperson gegenüber
der ehelichen hinsichtlich der Erziehung eines (mit dem verstorbenen Partner) gemeinsamen Kindes durch
Vorenthaltung einer Erziehungsrente benachteiligt wird. Auch hier spielt nach Ansicht des Senats im Ergebnis keine
Rolle, dass bei dieser Vergleichskonstellation "lediglich" der allgemeine Gleichheitssatz Anwendung findet. Denn der
strenge Rechtfertigungsmaßstab des Art. 6 Abs. 5 GG muss, damit Wertungswidersprüche vermieden werden, auf die
Schlechterstellung der Erziehungsperson selbst übertragen werden.
Aus diesem Grund ist die über Art. 6 Abs. 1 GG geschützte nacheheliche Solidarität auch insoweit ungeeignet, einen
hinreichenden Differenzierungsgrund zu liefern. Deren Bedeutung wird ohnehin dadurch relativiert, dass die
Erziehungsrente zum Einen eine Rente aus eigener Versicherung ist. Zum Anderen darf nicht übersehen werden, dass
nach der Normstruktur von § 47 SGB VI diese Rente ihr charakteristisches Gepräge nicht durch den
Geschiedenenstatus, sondern durch die Erziehung eines Kindes erhält. Dem Geschiedenenstatus kommt hingegen
eher eine leistungsbegrenzende Funktion zu.
9. Auf die Gültigkeit von § 47 Abs. 1 SGB VI kommt es im Sinn von Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG an.
a) Bereits oben ist dargestellt worden, dass der Klägerin auf der Grundlage der momentanen Fassung dieser Norm
kein Anspruch auf eine Erziehungsrente zusteht.
Für eine verfassungskonforme Auslegung von § 47 Abs. 1 SGB VI sieht der Senat keine tragfähigen Ansatzpunkte.
Allenfalls könnte in Erwägung gezogen werden, das Adjektiv "geschieden" erweiternd dahin auslegen, dass auch die
Paare, die überhaupt nicht verheiratet waren, einbezogen werden, sofern das zu erziehende Kind ein gemeinsames
ist. Eine derartige Auslegung, ja "Umdeutung" des Tatbestandsmerkmals "geschieden" steht der Recht sprechenden
Gewalt nicht zu. Eine Auslegung durch die Gerichte ist nur so lange verfassungsgemäß, als der Wortlaut der Norm die
Interpretation noch zulässt; der Wortlaut bildet die äußerste Grenze richterlicher Auslegung und Rechtsfortbildung.
Diese Grenze wäre hier nach Ansicht des Senats klar überschritten. Ein "Zurechtbiegen" von § 47 Abs. 1 SGB VI, wie
angedacht, würde massiv in den originären Kompetenzbereich des parlamentarischen Gesetzgebers eingreifen und
gegen das Gewaltenteilungsprinzip verstoßen.
Bei Gültigkeit der Regelung müsste der Senat die Berufung demnach als unbegründet zurückweisen.
b) Im Fall der Verfassungswidrigkeit darf nach mittlerweile ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
die Entscheidungserheblichkeit nicht deswegen verneint werden, weil eine gesetzliche Grundlage des geltend
gemachten Anspruchs auf eine Erziehungsrente auch im Fall der Ungültigkeit von § 47 Abs. 1 SGB VI nicht
vorhanden wäre (vgl. die Nachweise bei Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Auflage 2001, RdNr. 855).
Vielmehr muss die Entscheidungserheblichkeit bejaht werden, weil zumindest nicht ausgeschlossen werden kann,
dass die vom Gesetzgeber zu treffende Neugestaltung zu einer auch die Klägerin begünstigenden Regelung führt
(BVerfGE 93, 386 (395)).
Bis auf das Tatbestandsmerkmal der "Geschiedenheit" - das in allen vier Nummern von § 47 Abs. 1 SGB VI zum
Tragen kommt - liegen im Fall der Klägerin sämtliche Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Erziehungsrente
unproblematisch vor: Sie ist Versicherte, hatte die allgemeine Wartezeit bis zum Tod des F erfüllt, war niemals
verheiratet und damit "nicht wieder verheiratet" im Sinn von § 47 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI, sie erbringt die von § 47 Abs. 1
Nr. 2 SGB VI geforderte Erziehungsleistung für ihr Kind und ihr Lebenspartner - der im Rahmen dieser Prüfung als
"Geschiedener" zu fingieren ist - ist verstorben.
In diesem Zusammenhang darf nicht in Anlehnung an die "Geschiedenheit" als weitere Voraussetzung in § 47 SGB VI
hineingelesen werden, die Klägerin und F hätten sich zum Zeitpunkt des Todes des F bereits wieder getrennt haben
müssen. Indem § 47 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI die Scheidung verlangt, fordert er nicht eine zerbrochene Partnerschaft ein,
sondern einen Status, der einerseits eine Witwen- oder Witwerrente ausschließt, andererseits aber bei typisierender
Betrachtung einen Unterhaltsanspruch auslöst. Ein "Unterhaltsersatzanspruch" gegen die gesetzliche
Rentenversicherung darf deshalb nicht vom Scheitern der Beziehung zwischen der Klägerin und F abhängen.
c) Im Hinblick auf die Verletzung von Grundrechten des J kann die Entscheidungserheblichkeit ebenfalls nicht
verneint werden. Zwar liegt die Überlegung nicht fern, eine formal-gesetzlich Norm dürfe nur dann wegen
Verfassungswidrigkeit unangewendet bleiben, wenn durch sie der Kläger des Ausgangsverfahrens selbst in
subjektiven Verfassungsrechten verletzt ist. Auch wenn im vorliegenden Verfahren die Klägerin als Erziehende eigene
Ansprüche geltend macht, so wäre es doch falsch, die verfassungsrechtliche Betroffenheit des zu erziehenden
Kindes unberücksichtigt zu lassen. Das folgt bereits aus der Entscheidung BVerfGE 118, 45. Dort war wie hier die
Mutter des betroffenen Kindes Klägerin im Ausgangsverfahren (BVerfGE 118, 45 (55)). Allein wegen der festgestellten
Verletzung von Art. 6 Abs. 5 GG hat das Bundesverfassungsgericht den Normenkontrollantrag nicht nur für zulässig
erachtet (ohne auf Zulässigkeitserwägungen überhaupt einzugehen), sondern auch die in Frage stehende
unterhaltsrechtliche Regelung für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt.
Das erscheint auch materiell-rechtlich geboten: Zwar liegt in einer Verletzung subjektiver Verfassungsrechte des
Kindes keineswegs automatisch auch eine Verletzung subjektiver Verfassungsrechte der Klägerin. Der vorliegende
Fall zeichnet sich aber durch die Besonderheit aus, dass durch ein und denselben konkreten hoheitlichen Akt,
nämlich die Ablehnung einer Erziehungsrente der Klägerin, parallel sowohl diese als auch J rechtlich betroffen sind -
stark vereinfachend ließe sich diese Konstellation, wenn man so will, mit der strafrechtlichen "Tateinheit" vergleichen.
Dieser einzige konkrete Akt muss nicht nur bezüglich der verfassungsmäßigen Rechte der Klägerin unbedenklich
sein, sondern auch bezüglich anderer verfassungsrechtlicher Vorgaben, welche die Klägerin nicht unmittelbar
subjektiv betreffen. Würde somit die Differenzierung gegen verfassungsrechtliche Gleichheitsrechte des Kindes
verstoßen, dürfte sie auch im Verhältnis zur Klägerin nicht vorgenommen werden.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar.