Urteil des LSG Bayern vom 05.07.2000

LSG Bayern: grundsatz der prozessökonomie, gesundheitswesen, sozialmedizin, bevölkerung, verfahrensmangel, klagebegehren, anerkennung, gesundheitszustand, weiterbildung, organisation

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 05.07.2000 (rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 5 SB 1132/98
Bayerisches Landessozialgericht L 18 SB 6/00
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 25.11.1999 aufgehoben. Die
Streitsache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen. II. Die
Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) ab 1993 und
ob die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG - in der Form des gestellten Antrages - vorliegen.
Bei der am ...1937 geborenen Klägerin waren mit Bescheid vom 20.09.1988 als Behinderungen mit einem GdB von 30
anerkannt: Funktionseinschränkung der Gelenke, rezidivierende Lumbalgien bei degenerativen Veränderungen der
Wirbelsäule, Krampfaderleiden, postthrombotisches Syndrom.
Am 05.12.1997 beantragte die Klägerin unter Vorlage eines Arztbriefes des Orthopäden Dr ... die Neufeststellung ihrer
Behinderungen wegen stechender Kreuzschmerzen. Der Beklagte erhöhte daraufhin den GdB mit Bescheid vom
12.02.1998 für die Zeit ab 05.12.1997 auf 40.
Einen Antrag der Klägerin vom 20.02.1998, rückwirkend für die Jahre 1993 bis 1996 den GdB zu erhöhen, lehnte der
Beklagte mit Bescheid vom 05.03.1998 ab.
Widersprüche der Klägerin gegen die Bescheide vom 12.02.1998 und 05.03.1998 wies der Beklagte nach einer
Untersuchung der Klägerin durch Dr ... (Gutachten vom 28.10.1998) mit Widerspruchsbescheid vom 18.11.1998
zurück.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Nürnberg hat die Klägerin die Feststellung eines GdB
von 50 für die Zeit von 1993 bis 1996 und von 70 ab 1997 sowie die Zuerkennung des Merkzeichens aG begehrt und
dies mit einer Zunahme ihrer Wirbelsäulenbeschwerden und den Folgen einer Beckenvenenthrombose begründet. Der
Beklagte hat das Klagebegehren der Klägerin für unbegründet gehalten und sich auf eine Stellungnahme des
Facharztes für Chirurgie Dr ... vom 03.05.1999 gestützt. Das SG hat Befundberichte des behandelnden Arztes für
Allgemeinmedizin Dr ... vom 17.09.1999 und des Orthopäden Dr ... vom 08.10.1999 beigezogen und von dem Arzt für
öffentliches Gesundheitswesen, Sozialmedizin, Dr ... ein Terminsgutachten vom 25.11.1999 erstellen lassen, das die
GdB-Einschätzungen des Beklagten bestätigt hat. Es hat sodann die Klage mit Urteil vom 25.11.1999 abgewiesen
und sich auf das Gutachten des Dr ... gestützt.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt und an ihrem Klagebegehren festgehalten. Sie hat sinngemäß
gerügt, das SG habe den medizinischen Sachverhalt in orthopädischer, neurologischer und phlebologischer Hinsicht
nicht hinreichend aufgeklärt.
Die Klägerin beantragt, die Bescheide vom 12.02.1998 und 05.03.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides
vom 18.11.1998 sowie das Urteil des SG Nürnberg vom 25.11.1999 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den
GdB für die Zeit von 1993 - 1996 mit 50 und für die Zeit ab 1997 mit 70 festzustellen sowie das Vorliegen der
Voraussetzungen für die Ausstellung eines Berechtigungsausweises zur Benutzung von mit dem Rollstuhl-Symbol
gekennzeichneten Parkplätzen festzustellen und hilfsweise den Rechtsstreit an die 1. Instanz zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 25.11.1999
zurückzuweisen.
Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakte des Beklagten und die Gerichtsakten des ersten und
zweiten Rechtszuges Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die nach §§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung
an das SG begründet.
Das Landessozialgericht kann durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG
zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet (§ 159 Abs 1 Nr 2 SGG).
Das sozialgerichtliche Urteil leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Das SG hat gegen den Grundsatz der
Amtsermittlung (§ 103 SGG) verstoßen, indem es über den Anspruch der Klägerin befunden hat, ohne
Sachverständigengutachten auf orthopädischem, neurologischem und gefäßchirurgischem Gebiet einzuholen.
Das SG hat den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 1. Halbsatz SGG). Dieser Grundsatz gilt im
Sozialgerichtsgesetz wegen des öffentlichen Interesses an der Aufklärung des Sachverhalts und der Richtigkeit der
Entscheidung (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 6. Auflage, § 103 RdNr 1). Der Untersuchungsgrundsatz
bezieht sich auf den Sachverhalt (aaO RdNr 3). Es müssen alle Tatsachen ermittelt werden, die für die Entscheidung
in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlich und damit entscheidungserheblich sind (aaO RdNr 4a). Wenn das
Gericht davon absieht, Sachverständige zu bestellen, so verstößt es gegen § 103 SGG, wenn es eine Tatsachenfrage
selbst beurteilt, ohne selbst über besondere eigene Sachkunde zu verfügen (aaO RdNr 7b).
Das SG hat den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Zwar hat sich der vom SG mit einer Terminsbegutachtung
beauftragte Dr ... gutachtlich zu Fragen auf orthopädischem und phlebographischem Gebiet geäußert, jedoch hat ihm
hierzu die erforderliche Sachkunde gefehlt. Die Feststellung der Gesundheitsstörungen und
Funktionseinschränkungen der Klägerin auf den verschiedenen Fachgebieten ist erforderlich, um die Einzel-GdB-
Werte und den Gesamt-GdB zutreffend einzuschätzen. Die Einholung von Fachgutachten auf den verschiedenen
Fachgebieten konnte nicht durch Anhörung des Arztes für öffentliches Gesundheitswesen und Sozialmedizin Dr ...
ersetzt werden. Nach § 407a Abs 1 Zivilprozessordnung (ZPO) hätte der Sachverständige unverzüglich prüfen
müssen, ob der Auftrag in sein Fachgebiet fällt und ohne Hinzuziehung von weiteren Sachverständigen erledigt
werden kann. Dr ... hat dies unterlassen. Das SG hätte aber nach Vorliegen seines Gutachtens fachkompetente
Untersuchungen vornehmen lassen müssen.
Die Qualifikation des Dr ... als Sozialmediziner vermag nicht die erforderlichen fachkompetenten Begutachtungen zu
ersetzen. Dies ergibt sich aus den unterschiedlichen Ausbildungsanforderungen "Facharzt" und Zusatzbezeichnung
"Sozialmedizin". Danach ist für die Führung der Zusatzbezeichnung "Sozialmedizin" ua lediglich die Teilnahme an
jeweils 4-wöchigen theoretischen Grund- und Aufbaukursen vorgeschrieben, und es erfolgt die Anerkennung
grundsätzlich ohne Prüfung (§ 11 Abs 3 Weiterbildungsordnung für die Ärzte Bayerns vom 01.10.1993). Nach seiner
Definition umfasst der Begriff "Sozialmedizin" die Untersuchung der Häufigkeit und der Verteilung der
Volkskrankheiten im Zusammenhang mit der sozialen und natürlichen Umwelt sowie die Organisation des
Gesundheitswesens einschließlich der Begutachtung (aaO Abschnitt II Nr 18). Die Facharztausbildung erfordert
hingegen ua eingehende Kenntnisse und Erfahrungen in der Diagnostik (vgl aaO Abschnitt I) und die Entscheidung
über die Anerkennung einer Gebietsbezeichnung trifft die Bayer. Landesärztekammer aufgrund einer Prüfung (aaO §
11 Abs 2). Die Zulassung zur Prüfung setzt eine mehrjährige Weiterbildung voraus (aaO § 14 iVm Abschnitt I).
Auch die Führung der Gebietsbezeichnung "Arzt für öffentliches Gesundheitswesen" durch den Sachverständigen der
1. Instanz kann keine fachbezogene Begutachtung ersetzen. Diese Bezeichung kann in Bayern ein Arzt führen, wenn
er die Voraussetzungen der Weiterbildungsordnung für Ärzte im Gebiet "Öffentliches Gesundheitswesen" des Bayer.
Staatsministeriums des Innern, in Kraft seit 01.01.1980, erfüllt. Gemäß § 1 Abs 1 der Weiterbildungsordnung umfasst
das öffentliche Gesundheitswesen die ärztliche Tätigkeit in Einrichtungen des öffentlichen Dienstes, die dazu
bestimmt sind, unmittelbar den Gesundheitszustand der Bevölkerung und bestimmter Bevölkerungsteile zu ermitteln
und laufend zu überwachen, ihnen drohende Gefahren festzustellen und zu beseitigen oder auf die Beseitigung
hinzuwirken sowie die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt und besonderer Gruppen zu fördern. Die wesentlichen
Aufgaben des Arztes für öffentliches Gesundheitswesen liegen im Bereich der Beobachtung, Begutachtung und
Wahrung der gesundheitlichen Belange der Bevölkerung einschließlich Beratung der Träger öffentlicher Aufgaben in
gesundheitlichen Fragen (§ 1 Abs 2 Satz 1 Weiterbildungsordnung). Schon aus dem Aufgabenbereich des Arztes für
öffentliches Gesundheitswesen ergibt sich, dass seine Kenntnisse und Erfahrungen nicht mit denen eines Facharztes
auf den verschiedenen medizinischen Fachgebieten vergleichbar sind.
Nach Sachlage war vorliegend nicht lediglich eine sozialmedizinische Beurteilung hinreichend geklärter medizinischer
Sachverhalte gefragt - hier kann im Einzelfall eine sozialmedizinische Beurteilung ausreichend sein -, vielmehr waren
hier Art und Umfang der Behinderungen auf den verschiedenen Fachgebieten im sozialgerichtlichen Verfahren
erstmals zu klären.
Die Annahme eines Einzel-GdB von 40 auf orthopädischem Gebiet durch den Beklagten weist auf nicht unerhebliche
orthopädische Befunde hin. Der tatsächliche Schweregrad der Behinderungen kann nur aufgrund einer orthopädischen
Begutachtung zutreffend eingeschätzt werden. Hinzu kommt der von der Klägerin geklagte stechende Kreuzschmerz,
der nach ihren glaubhaften Angaben zu vorübergehenden Ausfallserscheinungen (fallen lassen von Gegenständen)
führt. Hier wird zusätzlich eine neurologische Abklärung erforderlich sein. Ebenso bedarf die durch das
postthrombotische Syndrom der Klägerin ausgelöste Funktionsbehinderung einer phlebologischen Beurteilung. Der
Sachverständige Dr ... stellt für die Beurteilung dieser Funktionseinschränkung auf ein internistisches Gutachten aus
dem Jahr 1990 ab. Für eine sachgerechte Beurteilung sind jedoch neue Befunderhebungen erforderlich. Dabei ist zu
berücksichtigen, dass die Klägerin neben Funktionseinschränkungen durch eine Beinvenenthrombose auch
Beschwerden wegen einer Beckenvenenthrombose geltend macht.
Nach alledem lässt die bisherige Beweiserhebung des SG die Feststellung des GdB und der gesundheitlichen
Voraussetzungen für das Merkzeichen aG nicht zu. Ein wesentlicher Verfahrensmangel berechtigt zur
Zurückverweisung (Meyer-Ladewig, aaO RdNr 3 und 3a). Der Verfahrensmangel stellt sich als Verstoß gegen eine das
Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift dar. Er ist auch wesentlich, da das Urteil auf der mangelnden Sachaufklärung
beruhen kann. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass das SG nach ausreichender Amtsermittlung anders
entschieden hätte.
Es liegt im Ermessen des LSG, ob es in der Sache selbst entscheiden oder zurückverweisen will. Die
Zurückverweisung soll die Ausnahme sein (aaO § 159 Anm 5). In Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten
an einer Sachentscheidung sowie dem Grundsatz der Prozessökonomie und dem Verlust einer Instanz hält der Senat
wegen der noch notwendigen und umfangreichen Beweisaufnahme (Einholung von Gutachten auf orthopädischem,
neurologischem und phlebologischem Gebiet) die Zurückverweisung für geboten.
Die Kostenentscheidung bleibt dem SG vorbehalten.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG).