Urteil des LSG Bayern vom 10.08.2004

LSG Bayern: grobe fahrlässigkeit, verfügung, arbeitsamt, merkblatt, verwaltungsakt, arbeitsvermittlung, briefpost, anschrift, erlass, anhörung

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 10.08.2004 (rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 13 AL 228/01
Bayerisches Landessozialgericht L 10 AL 224/01
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.08.2000 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
I.
In Streit steht die Aufhebung der Bewilligung sowie die Erstattung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) in Höhe von 1.067,55
DM und von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von insgesamt 378,95 DM.
Nach dem Bezug von Arbeitslosengeld beantragte die 1961 geborene Klägerin am 03.09.1998 die Gewährung von
Alhi. Auf ihrem Antrag hatte sie unterschriftlich bestätigt, dass sie das Merkblatt 1 für Arbeitslose, "Dienste und
Leistungen", erhalten und davon Kenntnis genommen habe. Die Beklagte bewilligte der Klägerin Alhi ab dem
14.10.1998 bis zum 13.10.1999 in Höhe von wöchentlich 223,79 DM (Bescheid vom 11.09.1998).
Anlässlich eines am 01.06.1999 bei der Beklagten geführten Beratungsgespräches erklärte die Klägerin, dass sie am
01.09.1999 in die Niederlande verziehen werde. Sie verzichte auf die Ausstellung einer Bescheinigung nach Vordruck
E 303. Nachdem die Klägerin einer Meldeaufforderung zum 06.07.1999 nicht nachgekommen war, stellte die Beklagte
die Zahlung der Alhi mit Wirkung vom 07.07.1999 ein. Zu einer weiteren Meldeaufforderung zum 13.07.1999 ist die
Klägerin ebenfalls nicht erschienen. Sie hat dem Arbeitsamt fernmündlich mitgeteilt, dass sie erst am 16.07.1999
vorsprechen könne.
Bei der persönlichen Vorsprache am 30.07.1999 gab die Klägerin gegenüber der Beklagten die folgende
handschriftliche und von ihr unterzeichnete Erklärung ab: "Ich habe mich vom 04.06.1999 bis 29.07.1999 in Holland
aufgehalten. Ich verzichte heute auf eine neue Antragstellung, damit ich ab dem 01.08.1999 nach Holland ziehen
kann".
Auf die Anhörung teilte die Klägerin ebenfalls unter dem 30.07.1999 mit, sie habe auf Grund ihres Umzugs in die
Niederlande und ihrer Hochzeit am 02.08.1999 viele Behördengänge machen müssen. Für diese Behördengänge habe
ihr nicht ausreichend Urlaub zur Verfügung gestanden.
Mit Bescheid vom 09.09.1999 hob die Beklagte die Bewilligung von Alhi für die Zeit vom 04.06.1999 bis 29.07.1999
auf. Die Klägerin habe sich seit dem 04.06.1999 in den Niederlanden aufgehalten und daher den
Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes nicht mehr zur Verfügung gestanden. Die eingetretene Überzahlung der
Alhi in Höhe von 1.067,55 DM und die für den genannten Zeitraum von der Beklagten gezahlten Beiträge zur Kranken-
und Pflegeversicherung in Höhe von 378,95 DM habe die Klägerin zu erstatten.
Hiergegen hat die Klägerin Widerspruch erhoben. Sie gab an, dass sie sich nicht andauernd in den Niederlanden
aufgehalten habe. Sie habe dort lediglich die Wochenenden vom 04.06. bis 06.06.1999, 18.06. bis 20.06.1999 und
09.07. bis 11.07.1999 verbracht.
Den Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 08.03.2000 zurück. Dass die Klägerin den
Vermittlungsbemühungen nicht zur Verfügung gestanden habe, ergebe sich aus ihrer Erklärung vom 30.07.1999. Ihr
Vorbringen, dass sie sich nur an Wochenenden in den Niederlanden aufgehalten habe, sei als Schutzbehauptung zu
werten.
Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Sie habe keine Erklärung unter dem
30.07.1999 mit dem Inhalt abgegeben, dass sie sich in der Zeit vom 04.06.1999 bis 29.07.1999 in den Niederlanden
aufgehalten habe. In dieser Zeit sei sie lediglich an drei Wochenenden in den Niederlanden gewesen.
Das Sozialgericht Nürnberg (SG) hat die Klage mit Urteil vom 16.08.2000 abgewiesen. Die Klägerin habe in der Zeit
vom 04.06.1999 bis 29.07.1999 der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestanden. Dies ergebe sich aus ihrer
Erklärung vom 30.07.1999. Dem späteren Vortrag, sich lediglich an Wochenenden in den Niederlanden aufgehalten zu
haben, sei nicht zu folgen. Vielmehr habe sich die Klägerin durchgehend in den Niederlanden aufgehalten. Sie sei zu
den Meldeterminen am 06.07.1999 und 13.07.1999, die nicht für das Wochenende sondern unter der Woche
vorgesehen gewesen seien, nicht erschienen. Sie habe auch mitgeteilt, erst am 16.07.1999 beim Arbeitsamt
vorsprechen zu können. Außerdem habe die Klägerin im Anhörungsschreiben darauf hingewiesen, dass sie sich in
den Niederlanden zur Erledigung von Behördengängen aufgehalten habe. Dies sei an Wochenenden nicht möglich.
Dagegen hat die Klägerin Berufung beim Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) ohne Begründung eingelegt.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.08.2000 und den Bescheid der
Beklagten vom 09.09.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.03.2000 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt sinngemäß, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hat sich auf die Berufung nicht zur Sache geäußert.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogene Akte der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und
zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Nach § 153 Abs 4 SGG kann das LSG eine Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für
unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Vorliegend wurde den Beteiligten Gelegenheit
zur Äußerung gegeben (§ 153 Abs 4 Satz 2 SGG).
Der Senat ist einstimmig der Auffassung, dass die Berufung unbegründet ist. Das SG hat zu Recht die Klage
abgewiesen. Der Bescheid vom 09.09.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.03.2000 ist
rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Rechtsgrundlage für die teilweise Aufhebung der Alhi-Bewilligung vom 11.09.1998 ist § 48 Abs 1 Zehntes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB X). Nach dieser Bestimmung ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den
tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung
eintritt, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben (Satz 1). Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der
Änderung der Verhältnisse u.a. aufgehoben werden, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift
vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder
grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (Satz 1 Nr 2).
Bei der Bewilligung von Alhi handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Die erforderliche wesentliche
Änderung in den Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, ist darin zu sehen, dass die Klägerin ab dem
04.06.1999 bis zum 29.07.1999 der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stand und sie daher keinen Anspruch auf
Alhi hatte. Wesentlich ist nämlich jede tatsächliche oder rechtliche Änderung, die sich auf Grund und Höhe der
bewilligten Leistung auswirkt.
Anspruch auf Alhi hat nur, wer u.a. arbeitslos ist (§§ 190 Abs 1 Nr 1, 198 Satz 2 Nr 1, 117 Abs 1 Nr 1, 118 Drittes
Buch Sozialgesetzbuch -SGB III-). Zu den Voraussetzungen der Arbeitslosigkeit zählt nach § 118 Abs 1 Nr 2 SGB III
die Beschäftigungssuche. Nach § 119 Abs 1 SGB III sucht eine Beschäftigung, wer alle Möglichkeiten nutzt und
nutzen will, um seine Beschäftigungslosigkeit zu beenden (Nr 1) und den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes
zur Verfügung steht (Nr 2). Merkmale der Verfügbarkeit sind die Arbeitsfähigkeit und die ihr entsprechende
Arbeitsbereitschaft (§ 119 Abs 2 SGB III). Arbeitsfähig ist ein Arbeitsloser u.a. dann, wenn er Vorschlägen des
Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten kann und darf (§ 119 Abs 3 Nr 3 SGB III);
hierzu hat der Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Arbeit (BA) auf Grund der Ermächtigung in § 152 Nr 2 SGB III
näheres in der Erreichbarkeitsanordnung (EAO) vom 23.10.1997 (ANBA 1997, 1685) bestimmt. Nach § 1 Abs 1 Satz 1
EAO muss der Arbeitslose u.a. in der Lage sein, unverzüglich Mitteilungen des Arbeitsamtes persönlich zur Kenntnis
zu nehmen, um mit einem möglichen Arbeitgeber oder Maßnahmeträger in Verbindung zu treten. Deshalb hat er nach
§ 1 Abs 1 Satz 2 EAO sicherzustellen, dass das Arbeitsamt ihn persönlich an jedem Werktag an seinem Wohnsitz
oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der von ihm benannten Anschrift (Wohnung) durch Briefpost erreichen kann.
Die Beklagte ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin in der Zeit vom 04.06.1999 bis 29.07.1999 nicht an
ihrem Wohnsitz unter der von ihr benannten Anschrift durch Briefpost erreichbar und somit in dieser Zeit nicht mehr
arbeitsfähig im Sinne des § 118 SGB III war und keinen Anspruch auf Alhi mehr hatte.
Zur Überzeugung des Senats hat sich die Klägerin in der Zeit vom 04.06.1999 bis 29.07.1999 in den Niederlanden
aufgehalten. Dies hat die Klägerin ausweislich ihrer sich in den Akten der Beklagten befindenden Erklärung vom
30.07.1999 selbst gegenüber der Beklagten angegeben. Im Rahmen der Anhörung hat die Klägerin unter demselben
Datum ausgeführt, dass sie sich zur Erledigung von Behördengängen in den Niederlanden befunden habe. Hierfür
habe ihr nicht ausreichend Urlaub zur Verfügung gestanden. Hieraus wird deutlich, dass die Klägerin sich in dieser
Zeit - und nicht nur an Wochenenden - in den Niederlanden aufgehalten hat. Sie ist auch den Meldeaufforderungen
zum 06.07.1999 und 13.07.1999 nicht nachgekommen. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Klägerin in der
Zeit vom 04.06.1999 bis 29.07.1999 nicht erreichbar war.
Diese wesentliche Änderung hat die Klägerin dem Arbeitsamt zumindest grob fahrlässig nicht mitgeteilt. Zur Mitteilung
wäre sie gem § 60 Abs 1 Nr 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) verpflichtet gewesen. Hierauf wurde sie im
Merkblatt für Arbeitslose (Dienste und Leistungen des Arbeitsamtes) hingewiesen (S 18 und 54, Stand Januar 1998).
Bei der Antragstellung am 03.09.1998 hat sie durch eigenhändige Unterschrift bestätigt, das Merkblatt erhalten sowie
von seinem Inhalt Kenntnis genommen zu haben. Die Nichtbeachtung des nachweislich ausgehändigten Merkblattes
begründet grobe Fahrlässigkeit, denn dieses ist so abgefasst, dass die Klägerin den Inhalt verstehen konnte (vgl
Wiesner in von Wulffen, SGB X, § 45 RdNr 24).
Gemäß § 330 Abs 3 SGB III hatte die Beklagte eine gebundene Entscheidung zu treffen, so dass sie kein Ermessen
auszuüben hatte.
Die Erstattungsforderung hinsichtlich der überzahlten Alhi beruht auf § 50 Abs 1 Satz 1 SGB X. Die Pflicht zur
Erstattung der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge ergibt sich aus § 335 Abs 1 und 5 SGB III.
Nach alledem war die Entscheidung des SG nicht zu beanstanden und daher die Berufung der Klägerin
zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG).