Urteil des LSG Bayern vom 04.06.2003
LSG Bayern: berufliche tätigkeit, arbeitsunfall, form, wahrscheinlichkeit, schmerz, begriff, distorsion, befund, arztbericht, entschädigung
Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 04.06.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 6 U 235/98
Bayerisches Landessozialgericht L 17 U 395/00
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 22.08.2000 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung und Entschädigung des Ereignisses vom 02.10.1996 als Arbeitsunfall
streitig.
Der am 1960 geborene Kläger erlitt am 02.10.1996 einen Unfall. Beim Versuch, sich mit an der Laderampe
abgestützten Händen seitlich - nach links - auf die ca. 1,3 m hohe Ladefläche eines LKWs zu schwingen, verspürte er
beim Aufsetzen der linken Fußinnenkante auf die Ladefläche einen "verhaltenen" Schmerz im linken Knie bzw. Fuß.
Wegen des Schmerzes brach er das Hinaufsteigen ab und sprang zurück auf den Boden. Beim Aufkommen mit dem
linken Fuß - in der Hocke - nahm er einen starken Stich im Knie wahr und drehte sich deshalb seitlich weg.
Anschließend konnte er das Knie nicht mehr richtig bewegen. Der Orthopäde Dr.E. stellte bei ihm eine
Innenmeniskusläsion des linken Kniegelenkes fest mit Verdacht der Ruptur des vorderen Kreuzbandes (H-Arztbericht
vom 07.10.1996). Dr.E. führte die Kniegelenkserkrankung nach Durchführung einer Arthroskopie am 15.10.1996 und
eines Kernspintomogramms am 08.10.1996 auf den Unfall vom 02.10.1996 zurück (Arztbericht vom 08.01.1997).
Die Beklagte holte ein Gutachten des Chirugen Dr.B. vom 11.04.1997 / 02.06.1997 ein. In seiner ersten
Stellungnahme ging Dr.B. von einer Distorsion des linken Kniegelenkes aus. Die festgestellte
Innenmeniskuskorbhenkelruptur sei nicht Folge des Unfallereignisses, sondern eines anlagebedingten degenerativen
Leidens. In der zweiten Stellungnahme führte er die Innenmeniskusruptur des linken Kniegelenkes auf den Unfall
zurück. Als Folgen bestünden neben der glaubhaft subjektiven Beschwerdesymptomatik eine
Bewegungseinschränkung des linken Kniegelenkes sowie eine Muskulaturverschmächtigung des linken Ober- und
Unterschenkels. Unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit sei bis 16.03.1997 anzunehmen, anschließend betrage die
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) 10 vH. Der Chirurg Dr.S. verneinte in seiner Stellungnahme für die Beklagte
vom 12.08.1997, dass durch das Unfallereignis eine Meniskusverletzung herbeigeführt werden konnte. Der
Unfallmechanismus habe allenfalls zu einer leichte Distorsion geführt.
Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26.08.1997 die Gewährung einer Entschädigung aus Anlass des
Ereignisses vom 02.10.1996 ab. Im anschließenden Widerspruchsverfahren führte der Orthopäde Prof. Dr.L. im
Gutachten vom 01.04.1998 aus, der Unfallmechanismus sei nicht geeignet gewesen, einen Korbhenkelriss des linken
Innenmeniskus zu verursachen. Im Übrigen habe ein Kreuzbandschaden vorbestanden in Form einer Lockerung des
vorderen Kreuzbandes und einer Seitbandlockerung des linken Kniegelenks. Gestützt auf dieses Gutachten wies die
Beklagte den Widerspruch zurück (Bescheid vom 08.07.1998).
Gegen den Bescheid vom 26.08.1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.07.1998 hat der Kläger
Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und beantragt, ihn wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom
02.10.1996 zu entschädigen.
Das SG hat Gutachten gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) des Orthopäden Dr.K. vom 27.09.1999 und gemäß
§ 106 SGG des Chirurgen Dr.L. vom 01.12.1999 eingeholt. Während Dr.K. von einer erheblichen Gewalteinwirkung
durch Sturz, Hockbewegung und seitlichem Wegdrehen ausging, die die Korbhenkelläsion wesentlich verursacht habe,
verwies Dr.L. auf den Schmerz des Klägers beim Aufschwingen auf die Laderampe und verneinte mangels eines
geeigneten Unfallmechanismus den ursächlichen Zusammenhang.
Mit Urteil vom 22.08.2000 hat das SG die Klage - dem Antrag der Beklagten entsprechend - abgewiesen. Zur
Begründung hat es ausgeführt, gegen die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen
Unfallereignis und Meniskusverletzung sprächen der Unfallhergang, die medizinischen Befunde und der
nachgewiesene Vorschaden.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und vorgetragen, die Gesundheitstörungen im Bereich des
linken Kniegelenks seien auf das Unfallereignis ursächlich zurückzuführen. Er habe nach dem Ereignis seine
berufliche Tätigkeit nicht fortsetzen können. Für eine vorbestehende Erkrankung des linken Knies seien keine
Anhaltspunkte vorhanden. Auch sei zu berücksichtigen, dass Dr.S. und Prof. Dr.L. ihn nicht persönlich untersucht
hätten.
Der Senat hat nach Beiziehen von Befundberichten der Orthopäden Dr.K. vom 29.01.2001, Dr.E. vom 05.03.2001,
Dr.K. vom 22.05.2001, des Allgemeinarztes Dr.A. vom 21.02.2001 sowie der einschlägigen Röntgen- und CT-
Aufnahmen Gutachten des Orthopäden Dr.W. vom 15.11.2001 / 25.02.2003 und gemäß § 109 SGG des Chirurgen
Dr.E. vom 02.01.2003 / 03.04.2003 eingeholt. Dr.W. hat den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Ereignis
vom 02.10.1996 und der Manifestation des Schadensbildes am linken Kniegelenk verneint und auch eine Distorsion
ausgeschlossen. Dr.E. hat ausgeführt, im Rahmen eines Drehsturzes sei eine partielle Ruptur des vorderen
Kreuzbandes sowie ein basisnaher Abriss des medialen Meniskus erfolgt. Die MdE betrage 10 vH.
Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des SG Nürnberg vom 22.08.2000 sowie des
Bescheides vom 26.08.1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.07.1998 zu verurteilen, das
Ereignis vom 02.10.1996 als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 22.08.2000
zurückzuweisen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird ergänzend auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster
und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), aber nicht begründet.
Zu Recht hat das SG entschieden, dass der beim Kläger am linken Kniegelenk bestehende Gesundheitsschaden
nicht Folge eines Arbeitsunfalles ist und nicht zu entschädigen ist.
Der Anspruch des Klägers ist noch nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu beurteilen, da
das Ereignis vom 02.10.1996 noch vor dem In-Kraft-Treten des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII)
am 01.01.1997 eingetreten ist (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, § 212 SGB VII).
Arbeitsunfall ist nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und
543-545 RVO genannten versicherten Tätigkeiten erleidet. Der Begriff des Unfalls ist in der RVO nicht bestimmt. Nach
der in Rechtsprechung und Schrifttum einhellig vertretenen Auffassung ist Unfall ein körperlich schädigendes, zeitlich
begrenztes Ereignis. Wesentlich für den Begriff des Unfalls sind somit ein äußeres Ereignis als Ursache und eine
Körperschädigung als Wirkung (BSG SozR 2200 § 548 Nr 56). Das äußere Ereignis verlangt einen von außen auf den
Körper einwirkenden Vorgang, wobei auch körpereigene Bewegungen wie Heben, Schieben, Laufen äußere Vorgänge
in diesem Sinne sind, selbst wenn sie gewohnt und üblich sind (BSG SozR Nr 1 zu § 838 RVO). Der ursächliche
Zusammenhang zwischen einem Ereignis, das von außen auf den Körper des Versicherten eingewirkt hat und einer
Gesundheitsstörung besteht nach der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Lehre von der rechtlich
wesentlichen Ursache dann, wenn das Ereignis mit Wahrscheinlichkeit wesentlich die Entstehung oder
Verschlimmerung eines Gesundheitsschadens bewirkt hat (BSGE 1, 72, 76; 12, 242, 245; 38, 127).
"Wahrscheinlichkeit" bedeutet, dass beim vernünftigen Abwägen aller Umstände, die auf die berufliche Verursachung
deutenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf die Entscheidung gestützt werden kann (BSG SozR Nr 20 zu §
542 RVO aF; SozR 2200 § 548 Nr 38). Daran fehlt es, wenn neben dem äußeren Ereignis bereits bestehende
Schadensanlagen mitwirken, die rechtlich die allein wesentliche Ursache des neuen Schadens sind, wenn also die
persönliche Risikosphäre allein rechtlich wesentlich ist.
Der Senat ist der Auffassung, dass das Ereignis vom 02.10.1996 in Form des Sprungs auf die Ladefläche
selbstverständlich ein geeignetes "äußeres Ereignis" darstellt, um den Begriff des "Unfalls" zu erfüllen. Es hat aber
nicht mit Wahrscheinlichkeit die Kniebandlockerung am linken Knie des Klägers und den
Innenmeniskuskorbhenkelriss verursacht. Damit liegt kein "Arbeitsunfall" vor. Für die Wahrscheinlichkeit des
ursächlichen Zusammenhangs fehlt es zum einen an einem geeigneten Unfallmechanismus. Nach der herrschenden
wissenschaftlichen Lehrmeinung (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7.Auflage S 691)
sind für die isolierte Zerreißung eines Meniskus die passive Rotation des gebeugten Kniegelenks oder die plötzliche,
passive Streckung des gebeugten und rotierten Unterschenkels ursächlich. Es ist die Verwindung des gebeugten
Kniegelenks erforderlich in Form eines Verwindungstraumas oder Drehsturzes. Die vom Kläger geschilderte
Bewegung in Form des seitlichen Aufschwingens auf die Ladefläche und das Herabspringen erfüllt diese
Anforderungen nicht. Da der Kläger bereits beim Aufschwingen auf die Ladefläche Schmerz verspürte und beim
Aufkommen auf den Boden einen Stich, also bevor das seitliche Wegdrehen erfolgte - und hiervon geht der Senat
aufgrund der wiederholten Schilderungen des Klägers aus - ist ein geeigneter Unfallmechanismus nicht gegeben. Der
Schmerz und der Stich sind eben nicht erst durch das seitliche Wegdrehen entstanden. Von einem Drehsturz, wie es
die gemäß § 109 SGG gehörten Gutachter Dr.K. und Dr.E. annehmen, ohne die Schilderungen des Klägers zu
interpretieren, kann somit nicht ausgegangen werden. Hinzu kommt, dass bei dem basisnah entstandenen
Korbhenkeldefekt auch ein frischer Bluterguss zu erwarten gewesen wäre. Hieran fehlt es jedoch - wie sich eindeutig
aus dem Operationsbericht des Dr.E. vom 17.10.1996 ergibt. Dies spricht gegen eine frische Meniskusverletzung
ebenso wie beginnende degenerative Veränderungen am Gelenkknorpel und die bestandene Elongation des vorderen
Kreuzbandes sowie oberflächliche Knorpelaufrauhungen an der inneren Kniescheibengelenkfläche. Hierauf weist Dr.W.
anhand des Operationsbefundes vom 17.10.1996 überzeugend hin. Auch ist die Form des Meniskusschadens - hier
Korbhenkel - typischerweise degenerativer Natur und entwickelt sich nach überwiegender Ansicht "mehrzeitig" bzw.
"schubweise" (Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO S 702). Auch die Tatsache, dass der Kläger erst zwei Tage nach
dem Ereignis einen Arzt aufgesucht hat, spricht gegen eine frische Meniskusverletzung, die wie Dr.W. darlegt, immer
mit einem Funktionsverlust des Kniegelenks einhergeht und daher unverzügliche ärztliche Maßnahmen nach sich
zieht.
Der Senat vermochte den Ausführungen des Dr.E. im Gutachten vom 02.01.2003 / 03.04.2003 nicht zu folgen. Dieser
geht von einem Drehsturz aus, der jedoch nicht erwiesen ist. Auch ist eine frische Kreuzbandverletzung letztlich nicht
erwiesen. Dr.E. stützt sich im Wesentlichen auf den Kernspinbefund vom 08.10.1996, wo ein "Anriss des vorderen
Kreuzbandes im proximalen femoralen Ansatzbereich" beschrieben ist. Der Senat hält aber die MRT-Diagnose allein
im Hinblick auf die übrigen Untersuchungsbefunde nicht beweisend für eine frische Kreuzbandverletzung. Aus dem
OP-Bericht vom 17.10.1996 ergibt sich vielmehr ein "parallelfaseriges vorderes Kreuzband ohne jegliche frische
Verletzungsfolgen" und "es entleerte sich kein Blut". Dieser intraoperative Befund ist vereinbar mit dem angegebenen
Ereignisverlauf, dem klinischen Erstbefund ohne schwerwiegende Funktionsstörungen, mit dem röntgenologischen
Befund und dem kernspintomografischen Befund, wie Dr.W. überzeugend darlegt.
Zusammenfassend spricht somit mehr dagegen als dafür, dass der Gesundheitsschaden des Klägers am linken Knie
durch das Ereignis vom 02.10.1996 verursacht worden ist. Dieses Ereignis ist daher nicht als Arbeitsunfall
anzuerkennen und zu entschädigen.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 22.08.2000 ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG liegen nicht vor.