Urteil des LSG Bayern vom 20.04.1999

LSG Bayern: wiedereinsetzung in den vorigen stand, blindheit, form, akte, anwendungsbereich, kontrolle, kollision, gleichbehandlung, fristversäumnis, rechtssicherheit

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 20.04.1999 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 16 BL 3/96
Bayerisches Landessozialgericht L 15 BL 6/98
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 27.01.1998 wird zurückgewiesen. II.
Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. III.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist es streitbefangen, ob der Klägerin ab 01.07.1996 Blindengeld nach dem Bayerischen
Blindengeldgesetz (BayBlindG) zusteht.
Am 27./28.11.1995 beantragte die am 1971 geborene Klägerin die Gewährung von Blindengeld wegen einer
Retinopathia pigmentosa, wobei sie zur Begründung auf ihren behandelnden Augenarzt Dr. verwies. Nach Einholung
eines Befundberichts von diesem und einer Untersuchung durch den Augenarzt Dr. lehnte der Beklagte den Antrag mit
Bescheid vom 22.02.1996 ab, weil die Sehschärfe der Klägerin auf beiden Augen noch 0,5 betrage und keine
hochgradige Gesichtsfeldeinschränkung vorliege. In ihrem Widerspruch hiergegen machte die Klägerin geltend, ihr
Gesichtsfeld habe sich auf 5¬ verengt und es liege deshalb Blindheit vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 20.03.1996
führte der Beklagte aus, die Gesichtsfeldprüfung durch Dr. habe ergeben, daß eine Einengung des Gesichtsfeldes auf
6¬ vorliege und damit eine der Blindheit gleichzuachtende Sehstörung nicht vorliege.
In ihrer hiergegen zum Sozialgericht Nürnberg erhobenen Klage (Az.: S 16/BL 3/96) hat die Klägerin vorgebracht, eine
Gesichtsfeldmessung mit der Genauigkeit von einem Grad mehr oder weniger sei nicht möglich, weshalb eine erneute
Untersuchung ihre Anspruchsberechtigung ergeben werde. Das Sozialgericht hat ebenfalls einen Befundbericht von
Dr. beigezogen und die Klägerin von Amts wegen von Prof.Dr. untersuchen lassen. In seinem Gutachten vom
20.01.1997 ist der Sachverständige zu dem Ergebnis gekommen, bei der Klägerin liege eine Sehschärfe von 0,5 vor
und zugleich ein weit fortgeschrittenes Stadium einer Retinopathia pigmentosa mit erheblichen
Gesichtsfeldeinschränkungen. Es lägen winzige zentrale Restgesichtsfeldinseln vor, die sich nur links nasal in einem
winzigen Areal bis auf 10¬ erstreckten, ansonsten jedoch beidseits nur 5¬ oder weniger betragen würden. Die mit
konstanter Geschwindigkeit ablaufende Verschlechterung des Gesichtsfelds lasse die Schätzung zu, daß etwa seit
Juli 1996 eine der Blindheit gleichzuachtende Sehstörung infolge der Gesichtsfeldeinschränkung vorliege und daher
Blindheit im Sinne des Gesetzes anzunehmen sei. Hiergegen hat der Beklagte eingewandt, daß dies den Richtlinien
der deutschen Ophtalmologischen Gesellschaft (DOG) für die Annahme von Blindheit nicht entspreche, weil das
Restgesichtsfeld auf dem linken Auge noch zu groß sei.
In einer ergänzenden Stellungnahme hierzu hat Prof.Dr. unter dem 01.08.1997 darauf hingewiesen, daß die Klägerin
sehr wohl an einer funktionell bedeutsamen hochgradigen Gesichtsfeldeinengung leide und ihre Sehkraft durch
Linsentrübungen in Form von Veränderungen an der Stelle des schärfsten Sehens der Netzhaut zusätzlich
beeinträchtigt sei.
Mit Urteil vom 27. Januar 1998 hat das Sozialgericht den Beklagten verpflichtet, der Klägerin unter Abänderung seiner
Bescheide ab 01.07.1996 Blindengeld zu gewähren. In den Urteilsgründen hat es im wesentlichen darauf abgestellt,
daß bei der Klägerin Blindheit im Sinne des Art.1 Abs.2 Satz 2 Nr.2 Bay/BlindG vorliege, wie der Sachverständige
Prof.Dr. zutreffend festgestellt habe. Dabei sei es unerheblich, daß die Klägerin die Voraussetzungen in den
Richtlinien der DOG nicht voll erfülle, da diese - wie der Beklagte selbst einräume - keine abschließende Regelung
träfen. Wenn bei der Klägerin das Restgesichtsfeld auf dem besseren Auge nur in einem kleineren umschriebenen
Bereich geringfügig mehr als 5¬ betrage, daneben aber noch weitere, das Sehvermögen beeinträchtigende
Gesundheitsstörungen (Linsentrübung, Veränderungen der Stelle des schärfsten Sehens) vorlägen, sei auch eine der
Blindheit gleichzuachtende Sehstörung anzunehmen und könne dies - ebenfalls nach den Feststellungen von Prof.Dr.
- für die Zeit ab 01.07.1996 angenommen werden. Da sich die Klägerin auch hinsichtlich des Leistungsbeginns auf
das Gutachten von Prof.Dr. gestützt habe, sei der Beklagte sohin antragsgemäß zu verpflichten.
Seine dagegen beim Bayerischen Landessozialgericht eingelegte Berufung hat der Beklagte im wesentlichen damit
begründet, daß die Sehstörungen der Klägerin den Anforderungen der Fallgruppen der DOG nicht entspreche. Das
Gesichtsfeld der Klägerin dürfe nämlich in keine Richtung über 5¬ hinausreichen und das Sozialgericht habe zu
Unrecht die Beeinträchtigung ihrer Sehschärfe erschwerend gewertet.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts vom 27.01.1998 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 22.02.1996 i.d.F.
des Widerspruchsbescheides vom 20.03.1996 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 27.01.1998 zurückzuweisen.
Beigezogen und Gegenstand des Verfahrens waren die Akte des Beklagten sowie die Akte des vorangegangenen
Streitverfahrens vor dem Sozialgericht Nürnberg. Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den gesamten übrigen
Inhalt dieser Akten, insbesondere die genannten Gutachten und Stellungnahmen sowie die Schriftsätze der Beteiligten
verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Beklagten ist nach Art.7 Abs.2 BayBlindG i.V. m. § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft; einer
Zulassung der Berufung nach § 144 Abs.1 Satz 1 SGG i.d.F. des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom
11.01.1993 hat es im Hin- Rechtsmittel ist form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG), damit insgesamt zulässig,
erweist sich jedoch als unbegründet.
Hinsichtlich der Rechtzeitigkeit der Berufungseinlegung gewährt der Senat dem Beklagten nach § 67 Abs.1 SGG
antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, da die Berufungsfrist zwar mit Ablauf des 19.03.1998
abgelaufen war und die Berufung des Beklagten hier erst am 20.03.1998 eingegangen ist, der Beklagte jedoch nach
seinem schriftlichen Vorbringen, das im Ergebnis nicht anzuzweifeln ist, diejenige Sorgfalt angewandt hat, die einem
gewissenhaften Prozeßführenden nach den gesamten Umständen nach allgemeiner Verkehrsanschauung
vernünftigerweise zuzumuten ist. Ein Fristversäumnis, das zur Unzulässigkeit der Berufung führen könnte, hat daher
im Ergebnis nicht vorgelegen.
Sachlich erweist sich die Berufung jedoch als unbegründet. Nach Art.1 Abs.2 BayBlindG ist blind, wem das
Augenlicht vollständig fehlt. Als blind gelten auch Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr
als 1/50 beträgt, 2. bei denen durch Nr.1 nicht erfaßte Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad
vorliegen, daß sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr.1 gleichzuachten sind.
Sachlich zutreffend hat das Sozialgericht festgestellt, daß die Klägerin die Voraussetzungen des Art.1 Abs.2 Satz 2
Nr.2 BayBlindG jedenfalls grenzwertig erfüllt. Wann eine "gleichzuachtende Störung des Sehvermögens" im Sinne
dieser Vorschrift vorliegt, ist im BayBlindG selbst nicht ausgeführt. Nach den Richtlinien der DOG ist dies u.a. dann
der Fall, wenn eine Einengung des Gesichtsfeldes, auch bei normaler Sehschärfe, vorliegt, bei der die Grenze der
Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5¬ vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50¬
unberücksichtigt bleiben. Diese Richtlinien, die auch in die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im
sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (1996)" aufgenommen worden sind (vgl. S.44
a.a.O.), haben jedoch - ebenso wie die "Anhaltspunkte" selbst - keinen Rechtssatzcharakter und sind daher einer,
wenn auch eingeschränkten, richterlichen Kontrolle zugänglich (vgl. hierzu BSG vom 23.06.1993, 9/9a RVs 1/91).
Dem entsprechend hat der Beklagte auch in seiner materiellen Arbeitsanweisung zum BayBlindG ausdrücklich
ausgeführt, daß mit den von der DOG aufgestellten Fallgruppen der Anwendungsbereich des Art.1 Abs.2 Satz 2 Nr.2
BayBlindG nicht ausgeschöpft sei und deshalb Anträge auf Blindengeld nicht allein deshalb abgelehnt werden können,
weil die Sehstörung von diesen Fallgruppen nicht erfaßt werde. Es sei in jedem Einzelfall eingehend zu prüfen, ob die
Sehstörung nach ihrem Schweregrad nicht doch der in Nr.1 des Art.1 Abs.2 BayBlindG genannten
Sehbeeinträchtigung gleichzuachten sei. Hieraus ergibt sich jedoch auch für den Senat zwanglos, daß den
Feststellungen des Sachverständigen Prof.Dr. gefolgt werden kann. Die Gesichtsfeldeinschränkungen der Klägerin
sind nämlich so gravierender Natur, daß sie die Qualität einer der Blindheit gleichzuachtenden Sehstörung erfüllen.
Wenn Prof.Dr. in seiner Stellungnahme vom 01.08.1997 ausführt, daß das Restgesichtsfeld der Klägerin auf dem
besseren linken Auge nur nasal in einem winzigen umschriebenen Bereich geringfügig größer als 5¬ sei und
zusätzlich Linsentrübungen sowie Veränderungen an der Stelle des schärfsten Sehens der Netzhaut vorlägen, ist dies
ausreichend dafür, eine anspruchsberechtigende Störung des Sehvermögens anzunehmen. Im Gegensatz zur
Auffassung des Beklagten tritt damit auch nicht etwa eine Kollision der Rechtsgüter der subjektiven
Anspruchsverwirklichung auf der einen Seite und der Rechtssicherheit bzw. der Gleichbehandlung auf der anderen
Seite auf. Die im Text des BayBlindG nur sehr allgemein gehaltene "gleichzuachtende Störung des Sehvermögens"
ist nämlich der alleinige gesetzliche Anspruchsgrund, der einer fundierten ärztlichen Prüfung und Begründung bedarf,
nicht abschließend durch die bereits erwähnten "Anhaltspunkte" oder DOG-Richtlinien konkretisiert werden kann und
damit allein der Prüfung zugrundezulegen ist. Dies ist durch das Sozialgericht Nürnberg zutreffend erfolgt, womit die
Berufung des Beklagten mit der Kostenfolge aus den §§ 183, 193 SGG zurückzuweisen ist.
Einzuräumen ist dem Beklagten dabei, daß die "Anhaltspunkte" bzw. die DOG-Richtlinien einer sachgerechten
Anspruchsprüfung in aller Regel zugrundezulegen sind. Bei nur minimalen Abweichungen von den dort formulierten
Anspruchsvoraussetzungen liegt eine Zuerkennung des Anspruchs auf Blindengeld jedoch innerhalb desjenigen
Beurteilungsspielraums, den das BayBlindG den Behörden der Versorgungsverwaltung und den Gerichten der
Sozialgerichtsbarkeit einräumt.
Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen - soweit die
landesrechtlichen Vorschriften des BayBlindG revisionsfähig sind - nicht vor, da die Rechtssache weder
grundsätzliche Bedeutung hat noch der Senat von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen
Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht.