Urteil des LSG Bayern vom 19.06.2007

LSG Bayern: berufliche tätigkeit, wahrscheinlichkeit, anerkennung, form, osteochondrose, kausalzusammenhang, bandscheibenleiden, berufskrankheit, belastung, grenzwert

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 19.06.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 2 U 292/03
Bayerisches Landessozialgericht L 17 U 470/04
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.11.2004 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob die Wirbelsäulenbeschwerden des Klägers als Berufskrankheit (BK) nach Nr 2108 der Anlage zur
Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) anzuerkennen und zu entschädigen sind.
Der 1956 geborene Kläger war seit 1971 als Maurer beschäftigt. Er nahm hierbei schwere körperliche Tätigkeiten wahr
und arbeitete bis Mai 2000 (mit Unterbrechungen insgesamt 25,6 Jahre) bei 17 verschiedenen Firmen. Der Techn.
Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten sah bei ihm nach den epidemiologischen Erkenntnissen für ein erhöhtes
Erkrankungsrisiko die arbeitstechnischen Voraussetzungen i.S. der BK Nr 2108 als erfüllt an. Der festgelegte
Grenzwert von 25 x 106 Nh wurde dabei mit einer Gesamtdosis von 27,2 x 106 Nh überschritten.
Stärkere Bandscheiben-Beschwerden machte der Kläger seit 1993/ 1994 geltend. Die Beklagte zog Arztberichte des
Neurochirurgen Dr.P. vom 10.07.2000 und Dr.R. vom 16.02.2001, des Orthopäden Dr.S. vom 12.03.2001, des
Nervenarztes Dr.S. vom 16.07.2001, des Orthopäden Dr.S. vom 21.10.1997 sowie Arztberichte des
Kreiskrankenhauses G. vom 29.09.1994/07.10.1994, des Krankenhauses N. vom 02.09.1993 sowie ärztliche
Entlassungsberichte der Rentenversicherung vom März 1995 und 29.11.2000 bei. Anschließend erstellte der Chirurg
Dr.W. am 20.05.2003 für die Beklagte ein Gutachten, in dem er die Gesundheitsstörungen der Wirbelsäule als
schicksalhaft degenerativ verändert ansah. Die berufliche Belastung sei nicht als Ursache zu erkennen.
Mit Bescheid vom 02.07.2003 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen
Unfallversicherung ab (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 24.09.2003).
Gegen diese Bescheide hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und beantragt, ihm
Verletztenrente nach den BKen Nrn 2108/2109 zu gewähren.
Das SG hat ein Gutachten des Orthopäden Dr.S. vom 20.01.2004 eingeholt. Dieser hat ausgeführt, das bei dem
Kläger eine bandscheibenbedingte Erkrankung in den Segmenten L4/5 und L5/S1 vorliege. Allerdings seien verstärkte
degenerative Veränderungen in diesen Bereichen vorhanden, die nicht auf beruflich bedingte Ursachen zurückzuführen
seien, insbesondere eine spinale Enge in Höhe des Segmentes L4/5. Die festgestellten krankhaften Veränderungen
der Lendenwirbelsäule (LWS) seien als schicksalhafte Erkrankung anzusehen. Damit seien die Voraussetzungen für
eine BK nicht gegeben.
Nach Vorlage eines Attestes des Orthopäden Dr.B. vom 23.03.2004 hat das SG mit Urteil vom 16.11.2004 die Klage
abgewiesen. Es hat sich insbesondere auf das Gutachten des Dr.S. gestützt.
Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt und vorgetragen, dass sich im Bereich der gesamten Wirbelsäule
Verschleißerscheinungen befänden. Hierbei seien die Halswirbelsäule (HWS) und die LWS deutlich verstärkt betroffen.
Auch im Bereich der Brustwirbelsäule (BWS) sei ein Verschleiß wahrnehmbar. Die medizinischen Voraussetzungen
zur Anerkennung der BK Nr 2108 seien daher erfüllt.
Der Senat hat die Schwerbehindertenakte des Amtes für Versorgung und Familienförderung N. sowie die ärztlichen
Unterlagen der Landesversicherungsanstalt Oberfranken und Mittelfranken einschließlich der einschlägigen Röntgen-
und CT-Aufnahmen zum Verfahren beigezogen. Anschließend hat der Neurochirurg Dr.P. am 07.08.2006 auf
Veranlassung des Klägers ein Gutachten erstellt, in dem er vor allem Gesundheitsstörungen im Bereich der HWS und
BWS neben einer starken psychosomatischen Erkrankung bestätigte. Danach lägen im Bereich der Wirbelsäule
starke degenerative Veränderungen der LWS vor in Form von Bandscheibenerkrankungen über mindestens drei
Segmente. Im Bereich der oberen LWS zeigten sich Verschmälerungen der Zwischenwirbelräume ebenso wie im
Bereich der BWS. Dort fänden sich auch zahlreiche Verschmälerungen der Zwischenwirbelräume vom 5.BWK
abwärts. Im HWS-Bereich seien gravierende Veränderungen, die sich im Verlauf der letzten fünf Jahre eingestellt
haben mit massiver Osteochondrose, nachweisbar. Es handle sich im Bereich der LWS und der unteren BWS mit
Wahrscheinlichkeit um Erkrankungen i.S. der BK Nr 2108. Von einer MdE von 60 vH sei auszugehen.
Die Beklagte hat dem unter Vorlage einer gutachterlichen Stellungnahme des Orthopäden Dr.A. vom 02.01.2007
widersprochen. Dieser hat ausgeführt, dass vor allem die Verschleißveränderungen im BWS- und HWS-Bereich gegen
eine berufsbedingte LWS-Erkrankung sprächen. Insbesondere die gravierenden degenerativen Veränderungen im
HWS-Bereich mit einer massiven Osteochondrose HWK 5/6 und HWK 6/7 seien ein gewichtiges Argument gegen den
Kausalzusammenhang der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS mit der berufsbedingten Belastung. Auch sei
die Einschätzung der Höhe der MdE nicht überzeugend.
Abschließend hat der Senat ein Gutachten des Orthopäden Prof. Dr.S. vom 09.02.2007 eingeholt. Dieser hat
degenerative Bandscheibenleiden festgestellt, die die HWS, BWS und LWS im gleichen Ausmaß beträfen. Diese
Erkrankungen seien nicht durch die berufliche Tätigkeit verursacht worden.
Der Kläger hat weiterhin auf die Feststellungen im Gutachten des Dr.P. verwiesen.
Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des SG Nürnberg vom 16.11.2004 sowie des
Bescheides vom 02.07.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.09.2003 zu verurteilen, bei ihm
eine BK nach Nr 2108 der Anlage zur BKV anzuerkennen und Verletztenrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 16.11.2004
zurückzuweisen.
Ergänzend wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch unbegründet.
Das SG hat zutreffend entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung einer BK
nach § 9 Abs 1 SGB VII i.V.m. Nr 2108 der Anlage zur BKV hat, da die Voraussetzungen nicht erfüllt sind.
Nach § 9 Abs 1 SGB VII sind BKen die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit
Zustimmung des Bundesrates als BKen bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach
§§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Zu den vom Verordnungsgeber bezeichneten BKen gehören nach der
Nr 2108 der Anlage zur BKV "bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS durch langjähriges Heben oder Tragen
schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller
Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit
ursächlich waren oder sein können".
Die Feststellung der BK setzt also voraus, dass zum einen die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK erfüllt
sein müssen, zum anderen das typische Krankheitsbild der BK vorliegen muss und dieses i.S. der unfallrechtlichen
Kausalitätslehre mit Wahrscheinlichkeit auf die wirbelsäulenbelastende berufliche Tätigkeit zurückzuführen ist (vgl.
KassKomm, Ricke, § 9 SGB VII Rdnr 11; Brackmann/Krasney, Handbuch der Sozialversicherung, Band III - Stand
1997 - § 9 SGB VII Rdnr 21 ff). Schließlich muss die schädigende Tätigkeit aufgegeben sein.
Die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs liegt vor, wenn nach vernünftiger Abwägung aller
Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf
die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (vgl. u.a. BSG vom 18.11.1997, SGb 1999, 39). Eine Möglichkeit
verdichtet sich zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als
gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung
ausscheiden (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Unfallversicherung, § 9 SGB VII Anm 10.1 mwN). Die Beweislast dafür, dass
die Erkrankung der Wirbelsäule durch arbeitsplatzbezogene Einwirkungen verursacht worden ist, trägt der Versicherte.
Der Kläger erfüllt zweifellos die arbeitstechnischen Voraussetzungen zur Feststellung einer BK nach Nr 2108 der
Anlage zur BKV. Nach den unbestrittenen Feststellungen des TAD der Beklagten vom 24.01.2003 war er in der Zeit
von August 1971 bis Mai 2000 (effektiv insgesamt 25,6 Jahre) als Maurer mit Tätigkeiten befasst, bei denen
Belastungen durch Heben und Tragen schwerer Lasten festgestellt worden sind. Dabei konnte die Beklagte nach dem
"Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD)", auch aufgrund persönlicher Befragung des Klägers, eine Gesamtdosis Dv
von 27,2 x 106 Nh ermitteln. Der nach den epidemiologischen Erkenntnissen für ein erhöhtes Erkrankungsrisiko
festgelegte Grenzwert von 25 x 106 Nh wurde also überschritten. Der Kläger war damit über den erforderlichen
Bewertungsrahmen hinaus berufsbedingten Belastungen ausgesetzt. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen i.S. der
BK Nr 2108 sind daher erfüllt.
Der Kläger leidet auch an bandscheibenbedingten Erkrankungen. Prof. Dr.S. , Dr.S. und Dr.W. , aber auch der
Beratungsarzt der Beklagten Dr.A. , haben bei dem Kläger Gesundheitsstörungen im Bereich der Wirbelsäule
nachgewiesen. Es handelt sich aber um degenerative Bandscheibenleiden, die die HWS, BWS und LWS in gleichem
Ausmaß betreffen. Eine berufsbedingte Verursachung scheidet daher aus. Für die LWS sind dabei operative
Interventionen in Form von Entlastungsoperationen (Nukleotomie, Dekompression) erfolgt sowie eine
Versteifungsoperation (Spondylodese L4-S1).
Auf Röntgenbildern aus dem Jahr 1985 zeigen sich eindeutige Verschmälerungen der Zwischenwirbelräume zwischen
4. und 5.LWK sowie zwischen 5.LWK und Kreuzbein. In diesen Segmenten sind auch spondylotische
Randwulstbildungen nachweisbar. Insoweit vermittelt die LWS ein belastungskonformes Krankheitsbild. Dies wird
durch die Computertomografie der LWS im Jahr 1994 bestätigt, bei der in den untersten drei freien
Bewegungssegmenten der LWS Veränderungen i.S. einer Spondylarthrose gefunden wurden. Diese
belastungskonformen Veränderungen können durchaus auch typisch degenerativ bedingten Bandscheibenleiden
entsprechen, die ohne wesentliche berufsbedingte Belastungen auftreten. Die Belastungskonformität der
bandscheibenbedingten Veränderungen an der LWS kann daher nicht allein die Anerkennung der BK Nr 2108
rechtfertigen.
Von Relevanz für die aktuelle Begutachtung war insbesondere, inwieweit sich degenerative Veränderungen an anderen
WS-Abschnitten zeigten. Bei der aktuellen Röntgenaufnahme der BWS in zwei Ebenen ergaben sich insbesondere im
Bereich der Bewegungssegmente am Übergang von der mittleren zur unteren BWS deutlich fortgeschrittene
degenerative Veränderungen. Diese Veränderungen sind nicht nur bestimmt durch deutliche Erniedrigungen der
Bandscheibenräume, sondern insbesondere durch ausgeprägte spondylotische Randwulstbildungen, die teilweise
auch Umklammerungstendenz zeigen (insbes. zwischen 9. und 10.BWK). Diese degenerativen Veränderungen der
BWS entsprechen im Bezug auf spondylotische knöcherne Reaktionen unter Erniedrigung der Bandscheibenräume
den Veränderungen, die sich für die untere LWS und für die Bewegungssegmente zwischen 5. und 7.HWK zeigten.
Wenn man berücksichtigt, dass sich vergleichbare degenerative Veränderungen auch an der HWS darstellen, so
spricht dieses Verteilungsmuster degenerativer Veränderungen in Bezug auf die gesamte Wirbelsäule dafür, dass
anlagebedingt eine verminderte Belastbarkeit und vermehrte Neigung zu bandscheibenbedingten Erkrankungen
besteht. Angesichts dieses Verteilungsmusters degenerativer Bandscheibenveränderungen können die für die LWS
nachgewiesenen Bandscheibenveränderungen, auch wenn sie belastungskonform sind und die arbeitstechnischen
Voraussetzungen erfüllt sind, nicht als belastungsbedingt i.S. der BK Nr 2108 mit Wahrscheinlichkeit anerkannt
werden, wie die vorgenannten Gutachter zu Recht ausführen. Das Verteilungsmuster degenerativer Veränderungen
spricht also gegen die Anerkennung einer BK Nr 2108. Die Bandscheibenschäden im beruflich belasteten Abschnitt
der LWS heben sich nicht deutlich vom Degenerationszustand der belastungsfernen Abschnitte (HWS, BWS) ab
(Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7.Aufl S 579). Auch in dem Konsensuspapier wird
zum Ausdruck gebracht, dass ein Befall von HWS und/oder BWS grundsätzlich gegen einen
Ursachenzusammenhang spricht (U. Bolm-Audorf et al, Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten
Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Trauma Berufskrankheit 2005, 211, 216 f).
Nicht folgen kann der Senat den Ausführungen des Dr.P ... Dieser berücksichtigt vollkommen unzureichend, dass
sich bandscheibenbedingte Erkrankungen für die HWS, BWS und LWS finden und hierbei die knöchernen Reaktionen
vergleichbar sind. Insbesondere die Verschleißveränderungen im BWS- und HWS-Bereich sprechen gegen eine
berufsbedingte LWS-Erkrankung. Die gravierenden degenerativen Veränderungen im HWS-Bereich mit einer massiven
Osteochondrose HWK 5/6 und 6/7 sind ein gewichtiges Argument gegen den Kausalzusammenhang der
bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS mit der berufsbedingten Belastung, wie auch der Orthopäde Dr.A. in
seiner Stellungnahme vom 02.01.2007 ausführt. In Übereinstimmung mit den Konsensusempfehlungen sprechen
gegen einen Zusammenhang die gleichmäßige Ausbreitung von Schmerzen über weite Bereiche des Rückens
mehrerer Segmente, vom bildgebend dargestellten Bandscheibenschaden entfernt, sowie die Schilderung von
Schmerzen, die sich zugleich über die Gelenke ausbreiten. Die polysegmentale Verteilung der
Bandscheibenerkrankungen in allen drei Wirbelsäulenabschnitten spricht gegen einen Kausalzusammenhang.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung einer BK nach Nr 2108 der Anlage zur BKV. Das Urteil des SG
Nürnberg vom 16.11.2004 ist nicht zu beanstanden. Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG liegen nicht vor.