Urteil des LSG Bayern vom 22.06.2006

LSG Bayern: somatoforme schmerzstörungen, erwerbsunfähigkeit, belastung, verdacht, berufsunfähigkeit, suchterkrankung, rentenanspruch, alkoholmissbrauch, zustand, zurechnungsfähigkeit

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 22.06.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 17 RA 410/98
Bayerisches Landessozialgericht L 14 R 4143/04
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 6. Mai 2004 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist zwischen den Beteiligten die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Die 1956 geborene Klägerin erlernte keinen Beruf und war zuletzt bei einer Versicherung 30 Wochenstunden als
kaufmännische Angestellte bis September 1996 erwerbstätig. Bis zu ihrer betrieblich bedingten Kündigung zum
30.06.1998 war sie seit März 1996 arbeitsunfähig krank, nach Auslaufen des Krankengeldes bezog sie Sozialhilfe.
Ihrem am 27.05.1997 gestellten Antrag auf Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit waren zahlreiche
Klinikaufenthalte (Klinikum N. , Fachklinik H.) vorausgegangen mit dem Ziel, von der anhaltenden Alkoholabhängigkeit
loszukommen. Die Klägerin brach die Behandlungen jedoch jeweils selbst ab.
Im Verwaltungsverfahren blieb das Rentenbegehren nach Untersuchungen durch den Neurologen und Psychiater Dr.N.
(vom 12.08.1997 - Verdacht auf neurotische Depression bei sekundärem Alkoholmissbrauch) und den Orthopäden
Dr.S. (vom 04.05.1998) erfolglos, da die Klägerin noch in der Lage sei, in ihrem bisherigen Beruf vollschichtig tätig zu
sein (ablehnender Bescheid der Beklagten vom 04.09.1997, zurückweisender Widerspruchsbescheid vom
06.07.1998).
Im Klageverfahren veranlasste das Sozialgericht nach Beiziehung von Befundberichten der behandelnden Ärzte
erneut Begutachtungen auf orthopädischem (Dr.M. vom 25.10.1999), nervenärztlichem (Prof.Dr.G. vom 08.03.2000)
und auch internistischem Fachgebiet (Dr.G. vom 06.04.2000). Übereinstimmend kamen die Sachverständigen zur
Leistungsbewertung, dass die Klägerin trotz der festgestellten Gesundheitsstörungen (chronische Alkoholkrankheit,
chronischer Schmerzzustand) unter Beachtung sachlicher Einschränkungen jedenfalls noch leichte Tätigkeiten, auch
die einer sachbearbeitenden kaufmännischen Angestellten, zeitlich uneingeschränkt verrichten könne.
Entgegen dem Gutachten durch den Arzt des Vertrauens Dr.G. vom 17.11.2000, der die Leistungsfähigkeit der
Klägerin vor allem im Hinblick auf somatoforme Schmerzstörungen mit depressiven Zustandsbildern als unter
halbschichtig bewertete, ersahen die von Amts wegen in ergänzender Stellungnahme (Prof.Dr.G. vom 02.02.2001)
bzw. erneuter Begutachtung (Dr.G. vom 23.07.2002 und Dr.M. vom 13.01.2003) aufgerufenen Sachverständigen ein
zeitlich uneingeschränktes Leistungsvermögen seit Antragstellung für gegeben.
Der weiterhin auf Antrag nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) begutachtende Orthopäde Dr.S. kam im
Gutachten vom 04.06.2003 und in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 05.02.2004 unter Bezugnahme auf die
Ausführungen des Dr.G. zu dem Ergebnis, die Klägerin sei seit Antrag nurmehr zeitlich eingeschränkt leistungsfähig.
Mit Urteil vom 06.05.2004 wies das Sozialgericht die Klage ab. Nach ausführlicher Darstellung der gesetzlichen
Anforderungen an eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 44 Abs.2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch
(SGB VI) a.F., wegen Berufsunfähigkeit gemäß § 43 Abs.2 SGB VI a.F. sowie der seit 01.01.2001 geltenden
Vorschrift über die teilweise bzw. volle Erwerbsminderung gemäß § 43 Abs.1 und 2 SGB VI (n.F.) ersah es in
Würdigung des Beweisergebnisses zwar ein eingeschränktes qualitatives Leistungsvermögen, dem durch die
sachlichen Einschränkungen bei nurmehr leichten Tätigkeiten in geschlossenen Räumen, aus wechselnder
Ausgangslage ohne besondere nervliche Belastung, ohne erhöhte Unfallgefährdung sowie ohne stärkere Belastung
des Bewegungsapparates Rechnung getragen sei, jedoch keinen Anhalt für eine auch quantitative Leistungseinbuße.
Ausführlich legte es dar, dass die Leistungsbewertungen der Ärzte des Vertrauens (Dres.G. und S.) im Vergleich zu
den von Amts wegen gehörten Ärzten nicht nachvollziehbar seien.
Mit dem Rechtsmittel der Berufung beharrt die Klägerin auf ihrem Rentenbegehren, zumal die "positiven" Gutachten
der Dres.G. und S. unerklärlicherweise abgelehnt worden seien.
Nach Beiziehung eines Behandlungsberichtes des Klinikums N. über eine Behandlung vom 29.04. bis 07.05.2004
vordergründig wegen Gallenblasenbeschwerden und eines Befundberichts des behandelnden Hausarztes Dr.D.
veranlasste der Senat eine neurologisch-psychiatrische Begutachtung durch den Facharzt Dr.H ... In der
Untersuchung stellte der Sachverständige einen deutlichen Foetor alcoholicus fest, der nach Abschluss der
Untersuchung im Alcomat einen Promillewert von 2,61 ergab. Im Gutachten vom 14.12.2005 arbeitete Dr.H. heraus,
dass im Mittelpunkt der Gesundheitsstörungen der Klägerin die seit 1997 aktenkundige Alkoholabhängigkeit stehe mit
typischen Folgeerkrankungen, die aber von der Klägerin erheblich bagatellisiert werde, allerdings auch von Behandlern
und Gutachtern. Er diagnostizierte eine Alkoholabhängigkeit, einen Verdacht auf Persönlichkeitsstörung, eine
beginnende alkoholtoxische Poly-neuropathie, einen Zustand nach cerebralen Gelegenheitsanfällen, einen Verdacht
auf Schmerzsyndrom bei Zustand nach Lendenwirbelkörper-2-Fraktur (1997) sowie eine alkoholtoxische Hepatopathie.
Die Klägerin könne noch leichte Tätigkeiten, insbesondere die Tätigkeiten einer Sekretärin/Sachbearbeiterin sowie des
allgemeinen Arbeitsmarktes vollschichtig verrichten ohne besondere Verantwortung oder nervliche Belastung bei
Schutz vor Eigen- und Fremdgefährdung. Abschließend hielt er weitere Fachgutachten nicht für erforderlich und
empfahl dringend eine Heilbehandlung in einer Suchtfachklinik.
In Kenntnis des Gutachtens bot die Beklagte an, nach Abschluss des Verfahrens einen Antrag auf eine
Entziehungskur zu prüfen.
Auf die Einwände der Kläger-Seite, es sei keine gründliche funktionsbezogene Untersuchung der Klägerin
vorgenommen worden, die sich mit ihrer Schmerzsymptomatik auseinandersetzte, erwiderte Dr.H. in seiner
ergänzenden Stellungnahme vom 08.04.2006: Der Alkoholisierungsgrad, dessen Überprüfung erst am Schluss der
Untersuchung durchgeführt worden sei, ohne sonstige klinische Zeichen, habe durchaus eine aussagekräftige
Untersuchung ermöglicht. Im Übrigen habe der gemessene Medikamentenspiegel eindeutig eine fehlende
längerfristige Medikamenteneinnahme bewiesen.
In der mündlichen Verhandlung, die unterbrochen war, um der Klägerin auf den ernsten Hinweis des Senats
Gelegenheit zu geben, die im Vordergrund stehende Entziehung sofort gezielt anzugehen, beantragt die Klägerin, das
Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 06.05.2004 und den Bescheid der Beklagten vom 04.09.1997 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 06.07.1998 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Versichertenrente
wegen Erwerbsunfähigkeit ab Antrag zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Dem Senat lagen zur Entscheidung die Rentenakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge vor. Zur
Ergänzung des Tatbestandes wird wegen der Einzelheiten, insbesondere des Vorbringens der Kläger-Seite, hierauf
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige (§§ 143 ff., 152 SGG) Berufung ist unbegründet.
Zu Recht haben die Beklagte und das Sozialgericht einen Rentenanspruch der Klägerin verneint.
Auch der Senat vertritt die Auffassung, dass die Klägerin weder die Anspruchsvoraussetzungen der Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit noch die einer teilweisen, geschweige denn vollen Erwerbsminderung erfüllt, deren gesetzliche
Anforderungen das Sozialgericht umfassend zutreffend dargestellt hat.
In Auswertung und Würdigung des gesamten Akteninhalts ist der Senat der Überzeugung, dass im Mittelpunkt der
Gesundheitsstörungen der Klägerin ihre seit Jahren gut dokumentierte Alkoholabhängigkeit steht. Die zwischenzeitlich
eingetretene Kritik- und Disziplinlosigkeit dokumentiert sich signifikant, dass sie in Kenntnis eines
Begutachtungstermins am Vortag, am Abend oder in der Nacht derartige Mengen Alkohol konsumierte, dass noch am
nächsten (jedenfalls) Mittag 2,61 (!) Promille im Alcomat objektiviert werden konnten, wobei normalerweise bereits bei
1,4 Promille die Grenze der Zurechnungsfähigkeit erreicht ist (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 255. Auflage,
S.44). Dabei ist die Klägerin trotz objektiv rechnerisch schwerer Intoxikation keineswegs beeinträchtigt, vielmehr
berichtete der Sachverständige Dr.H. für den Senat glaubhaft nur geringe Intoxikationszeichen und eine geringe
klinische Symptomatik mit der auch den Senat überzeugenden Schlussfolgerung, dass ein deutlicher
Gewöhnungseffekt an Alkohol besteht und das erhebliche Anpassungsvermögen auf einen regelmäßigen
Alkoholgebrauch hinweist. Ebenso nachvollziehbar ist für den Senat die Wertung des Sachverständigen, dass die
Alkoholproblematik von der Klägerin erheblich bagatellisiert wird. In Kenntnis des schlüssigen, nachvollziehbaren und
überzeugenden Gutachtens des Sachverständigen und seiner ergänzenden Stellungnahme und auch in Wahrnehmung
einer richtig verstandenen Fürsorgepflicht hat der Senat in der mündlichen Verhandlung versucht, der Klägerin
ernsthaft den Weg in die sofortige und nachhaltige Entziehung aufzuzeigen. Allerdings ist es nicht Aufgabe eines
anhängigen Rentenverfahrens, Gesundheitsstörungen auf den Weg der Heilung zu bringen, und dies bei absoluter
Uneinsichtigkeit auf Kosten der Versichertengemeinschaft. Vielmehr hat der Senat darüber zu entscheiden, ob
vorliegende Gesundheitsstörungen das Leistungsvermögen der Versicherten derart beeinträchtigen, dass die Grenze
zur Berentung erreicht ist. Dies ist vorliegend zu verneinen.
Stellt den Schwerpunkt der gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei der Klägerin eindeutig ihre Suchterkrankung dar,
so hat diese auch schon zu typischen Folgeerkrankungen internistischer Art, Pankreatitis, Oesophagitis, Gastritis,
Trombozytopenie und neurologisch-psychiatrisch zu fehlenden Achillessehnen-Reflexen und cerebraler Atrophie
geführt. Gravierendere Gesundheitsschäden sind jedoch bisher ausgeblieben. Der Sachverständige Dr.H. hebt
ausdrücklich hervor, dass die aus der Sucht resultierende seelische Erkrankung bei zumutbarer Willensanspannung
aus eigener Kraft überwunden werden kann. Im Übrigen ist aus Sicht des Senats fremde Hilfe bisher unzureichend
geleistet worden. So beurteilt auch der Senat die von Dr.H. kritisch abgehandelten bisher eingeleiteten
Behandlungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Suchtproblematik als ungenügend. Lediglich kurzdauernde und von der
Klägerin immer wieder eigenständig abgebrochene Entgiftungsbehandlungen vor über fünf Jahren sind unzureichend
und können eine Therapieresistenz bzw. ein prospektives Therapieversagen nicht belegen. Nachweislich ist eine
qualifizierte, unbedingt stationäre Langzeittherapie bzw. Entwöhnungsbehandlung in einer Suchtfachklinik mit
anschließender qualifizierter Nachsorge nie ernsthaft versucht worden.
Im Negieren irgendeines Alkoholproblems sind die von der Klägerin in den Vordergrund gestellten Beschwerden in
Form körperlicher Schmerzen, insbesondere Rückenschmerzen, und seelischer Probleme wie Angst und
Depressivität nicht nachvollziehbar. Plausibel arbeitete Dr.H. heraus, dass die angeblich hiergegen regelmäßig
eingenommenen Medikamente (Psychopharmaka/Schmerzmittel) einerseits in ihrer Kombination keiner rationalen
Verordnung entsprechen, andererseits wegen der unzureichenden, teilweise sogar irrelevanten Serumwerte die
behauptete regelmäßige Einnahme widerlegen, weil sich keine der gemessenen Substanzklassen in einem klinisch
ausreichenden wirksamen Dosisbereich nachweisen ließ. Im Übrigen bezeichnete der Sachverständige die verordnete
Medikation bei fortgesetztem Alkoholmissbrauch als kaum nachvollziehbar und im Belieben der Klägerin stehend
wenig verantwortbar.
Übereinstimmend haben alle von Amts wegen aufgerufenen Sachverständigen der Klägerin ein
Restleistungsvermögen für jedenfalls leichte Arbeiten zeitlich uneingeschränkt bescheinigt. Diese Beurteilung steht
auch zur Überzeugung des Senats fest. Die abweichenden Meinungen der Ärzte des Vertrauens können
demgegenüber schon deswegen nicht hinreichend Berücksichtigung finden, weil sie sich mit der aktenkundigen
Suchterkrankung lediglich auf der Basis der bagatellisierenden Schilderungen der Klägerin auseinandergesetzt haben.
Ist aber ein wenigstens sechsstündiges verbliebenes Leistungsvermögen unter den üblichen Bedingungen des
allgemeinen Arbeitsmarktes nachgewiesen, verbietet schon das Gesetz einen Rentenanspruch, wobei die jeweilige
Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist (§ 43 Abs.3 SGB VI n.F.).
Eine Berentung wegen Berufsunfähigkeit war weder nach altem noch nach neuem Recht zu prüfen, da die Klägerin
ungelernt ist und damit keinen Berufsschutz genießen kann, vielmehr breit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt
verweisbar ist, der ohnehin den Prüfungsmaßstab der Erwerbsunfähigkeit bzw. der teilweisen oder vollen
Erwerbsminderung darstellt.
Nach alldem war die Berufung mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.