Urteil des LSG Bayern vom 12.09.2006

LSG Bayern: allein erziehende mutter, stiefvater, erlass, nettoeinkommen, freibetrag, gemeinde, eigentümer, mietvertrag, hauptsache, untätigkeitsklage

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 12.09.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht München S 22 AS 984/05 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 7 B 434/06 AS ER
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 10. Mai 2006 wird zurückgewiesen. II. Die
Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegnern zu 1) und 2) die außergerichtlichen Kosten des
Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe:
I.
Die gesetzliche Vertreterin der in den Jahren 1994 und 1997 geborenen Beschwerdegegner (Bg.) beantragte im August
2004 Arbeitslosengeld II (Alg II) für sich und ihre drei Söhne, mit denen sie seinerzeit als allein erziehende Mutter
zusammenlebte. Mit Bescheid vom 20.01.2005 bewilligte die Beschwerdeführerin (Bf.) den Bg. und ihrer Mutter
Leistungen ab 01.01.2005 bis 30.06.2005. Mit weiterem Bescheid vom 23.06.2005 erfolgte eine Weiterbewilligung der
Leistungen für die Zeit ab 01.07. bis 31.12.2005, wobei für den Monat Juli 2005 1.157,58 EUR gezahlt wurden und für
die Zeit vom 01.08.2005 bis 31.12.2005 Leistungen in Höhe von 1.285,08 EUR. Berücksichtigt wurden die Bg. und
ihre Mutter als Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft. Mit Bescheid vom 04.07.2005 erfolgte eine Neufestsetzung der
Leistungen für den Monat Juli 2005 in Höhe von 1.235,08 EUR. Eine Neuberechnung sei wegen Nichtberücksichtigung
der Rückzahlung des Essensgeldes in Höhe von 77,50 EUR im Monat Juli 2005 erforderlich gewesen.
Mit Schreiben vom 26.07.2005 (Eingang bei der Bf. am 03.08.2005) teilte die Mutter der Bg. mit, dass sie am
23.07.2005 Herrn J. S. (S.) geheiratet habe. Am 01.08.2005 zog S. in die Familienwohnung ein, was der Bf. ebenfalls
mitgeteilt wurde. Am 08.09.2005 teilte die Mutter der Bg. der Bf. mit, sie ziehe ihren Antrag auf die Bewilligung von
Alg II ab dem 01.08.2005 zurück, da sie nunmehr verheiratet sei. Selbstverständlich sei sie bereit, zwischenzeitlich
überzahlte Beträge zurückzuerstatten. Sie legte weiterhin einen Kontoauszug von S. für den Monat August 2005 vor,
wonach dieser im August 2.328,27 EUR netto verdient hat. Mit Schreiben vom 09.09.2005 forderte die Bf. die Mutter
der Bg. auf, Unterlagen beizubringen.
Mit dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 26.10.2005 hob die Bf. den Bescheid vom 04.07.2005 mit
Wirkung für die Vergangenheit auf und forderte einen Betrag in Höhe von 546,60 EUR für den Monat Juli 2005 sowie
einen Betrag in Höhe von 1.285,08 EUR für August/September 2005 von der Mutter der Bg. zurück. Über den dagegen
erhobenen Widerspruch ist bislang keine Entscheidung ergangen.
Am 12.12.2005 hat die Mutter der Bg. beim Sozialgericht München (SG) den Erlass einer einstweiligen Anordnung
beantragt. Die Bf. sei zu verpflichten, an die Bg. über den 31.07.2005 hinaus Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts zu gewähren.
Die Bf. hat beantragt, den Antrag abzulehnen. Rechtsgrundlage für ihre Position, wonach den Bg. ab dem 01.08.2005
keine Leistungen mehr zustehen, sei § 9 Abs.5 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Danach müsse der
Stiefvater, soweit seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse bislang von den Bg. beurteilt werden könnten, für
diese einstehen.
Mit Beschluss vom 10.05.2006 hat das SG die Bf. im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, an die Bg. zu 1)
und 2) ab dem 01.05.2006, vorläufig bis 31.10.2006, jeweils Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe
von 204,71 EUR monatlich zu zahlen. Im Übrigen hat das SG den Antrag abgelehnt.
Die Bg. zu 1) und 2) hätten nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes anzustellenden summarischen
Prüfung der Sach- und Rechtslage Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.
Die Bf. sei somit im teno-rierten Umfang zur vorläufigen Leistung verpflichtet, um ansonsten drohende wesentliche
Nachteile für die Bg. abzuwenden. Zur Begründung hat das SG unter anderem ausgeführt, dass, würden
Hilfebedürftige in Haushaltsgemeinschaft mit Verwandten oder Verschwägerten leben, gemäß § 9 Abs.5 SGB II
vermutet werde, dass sie von ihnen Leistungen erhalten, soweit dies nach deren Einkommen und Vermögen erwartet
werden könne. In diesem Zusammenhang sei auf § 1 Abs.2 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie
zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Alg II/Sozialgeld (Alg II-V) zu verweisen. Unter
Anwendung dieser Grundsätze stehe den Bg. zu 1) und 2) gegen die Bf. ein Anspruch auf Alg II zu, weil sie selbst
minderjährig und somit nicht erwerbsfähig sowie hilfebedürftig seien und mit einer erwerbsfähigen Hilfebedürftigen
(ihrer Mutter) in Bedarfsgemeinschaft leben. Dem stehe insbesondere nicht entgegen, dass die Mutter ihren Bedarf
seit dem 01.08.2005 durch Zuwendungen ihres Ehegatten decken könne. Ungeachtet dessen, sei sie aber nach wie
vor nicht in der Lage, den Lebensunterhalt der Bg. zu 1) und 2) als mit ihr in einer Bedarfsgemeinschaft lebender
Personen zu decken. Die Bg. zu 1) und 2) seien hilfebedürftig. Insbesondere könne nicht gemäß § 9 Abs.5 SGB II
vermutet werden, dass ihr notwendiger Bedarf in vollem Umfang durch Zuwendungen seitens ihres Stiefvaters
gedeckt sei, da von diesem - nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen
Prüfung - nach seinem Einkommen nicht erwartet werden könne, für die Bg. zu 1) und 2) im notwendigen Umfang
einzustehen.
Dagegen habe ein Anordnungsanspruch bezogen auf den Bg. zu 3) mangels Bedürftigkeit nicht glaubhaft gemacht
werden können. Denn für diesen habe sich bereits ausweislich des Bescheides der Bf. vom 04.07.2005 kein Anspruch
errechnet, da sein Bedarf durch das für ihn gezahlte Kindergeld und Unterhaltszahlungen seines Vaters gedeckt sei.
Eine Einstandspflicht des Stiefvaters für die Bg. zu 1) und 2) folge entgegen der Auffassung der Bf. nicht aus § 9
Abs.5 SGB II. Zwar sei der Stiefvater mit den Bg. "verschwägert". Die Bg. zu 1) und 2) hätten aber hinreichend
glaubhaft gemacht, dass von ihm nach seinem Einkommen und Vermögen nur in einem geringen Umfang erwartet
werden könne, für sie einzustehen. Dass Nettoeinkommen des Stiefvaters betrage nach der vorgelegten
Gehaltsbescheinigung für August 2005 2.018,27 EUR. Dem stehe zunächst gemäß § 1 Abs.2 Satz 1 Alg II-V ein
Freibetrag in Höhe von 1.443,81 EUR gegenüber. Dieser setze sich aus der doppelten Regelleistung im Sinne von §
20 Abs.2 SGB II (= 690,00 EUR), den anteiligen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung (898,08 EUR: 5 = 179,62
EUR) sowie einer Summe in Höhe von 50 % des Unterschiedsbetrages zwischen den bereinigten Einnahmen
einerseits und der doppelten Regelleistung zuzüglich des genannten Wohnanteils in Höhe von 574,19 EUR (2.018,27
EUR - 869,62 EUR x 50 %) zusammen. Addiere man zu diesem Freibetrag den Regelbedarf der Ehefrau (345,00 EUR)
sowie deren Wohnanteil (179,62 EUR), so ergebe sich ein Betrag von 1.968,43 EUR. Die Differenz zwischen diesem
Betrag und dem bereinigten Nettoeinkommen des Stiefvaters betrage 49,84 EUR und reiche nicht aus, den Bedarf der
Bg. zu 1) und 2) zu decken. Dieser belaufe sich jeweils auf 229,62 EUR (207,00 EUR Sozialgeld + 179,62 EUR
Wohnanteil - 157,00 Kindergeld). Unter Berücksichtigung einer Einstandspflicht des Stiefvaters in einem Umfang von
49,84 EUR betrage somit der Leistungsanspruch der Bg. zu 1) und 2) jeweils 204,71 EUR. Dieser Betrag sei ihnen ab
dem 01.05.2006 vorläufig zu zahlen, da sie darüber hinaus hinreichend glaubhaft gemacht hätten, dass der Stiefvater
nicht über ein Vermögen verfüge, dessen Einsatz zur Deckung des (Rest-)Bedarfs der Bg. zu 1) und 2) ihm möglich
und zumutbar wäre.
Dagegen richtet sich die Beschwerde. Der Stiefvater gehöre mit zur Bedarfsgemeinschaft, weshalb sein Einkommen
und sein Vermögen zu berücksichtigen seien. Nachdem er mit den Bg. zu 1) und 2) verschwägert sei, sei zu
vermuten, dass er auch Leistungen erbringe. Insofern habe er alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung
erheblich seien. Beim Stiefvater sei bekannt, dass er Eigentümer eines bebauten Grundstücks sei. Es sei
anzunehmen, dass daraus Mieteinnahmen erzielt werden. Als Stiefvater sei er zwar in einem geringeren Umfang wie
ein leiblicher Vater für die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft einstands-pflichtig, allerdings müssten von ihm
im gleichen Umfang die Angaben zu seinem Einkommen und Vermögen gemacht werden, wie von allen anderen auch.
Deshalb seien die Bg. um Angaben gebeten worden, die bis heute nicht eingegangen seien. Im Übrigen sei
anzunehmen, dass das Einkommen des Stiefvaters aus einer Tätigkeit bei der Gemeinde Allershausen nicht
monatlich gleichbleibend sei. Zur Berechnung eines brauchbaren Durchschnittseinkommens seien die letzten Monate
aussagekräftig. Die berücksichtigten Kosten der Unterkunft seien aus dem Mietvertrag für die Wohnung in der V.-
Straße, M. gefolgt. Die Bg. seien allerdings am 15.04.2006 in die E.straße in M. umgezogen. Es sei anzunehmen,
dass sich dadurch auch ein anderer Betrag bei den in der Berechnung einzusetzenden Kosten der Unterkunft ergebe.
Mit Schreiben vom 10.07.2006 wandte sich die Berichterstatterin mit der Anfrage an die Bf., ob sie die Beschwerde
aufrechterhalte, da das SG zu Recht davon ausgegangen sei - wenn auch erst im Nachhinein - dass die Bg. mit der
Antragstellung vom 12.12.2005 auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gleichzeitig auch eine Untätigkeitsklage
erhoben hat (vgl. das Schreiben des SG vom 23.05.2006 an die Bg.). Zudem möge bedacht werden, dass es sich bei
dem Beschluss vom 10.05.2006 lediglich um eine vorläufige Bewilligung von Leistungen bis zum 31.10.2006 handele,
wobei die endgültige Entscheidung dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleibe.
Die Bf. hielt ihre Beschwerde aufrecht, da davon auszugehen sei, dass die Bg. unter Berufung auf den Beschluss des
SG München vom 10.05.2006 auch gerichtlich gegen den zu erlassenen Widerspruchsbescheid vorgehen würden. Wie
lange ein sich daran anschließendes Hauptsacheverfahren andauere, sei unklar. Gleichzeitig stehe für die Zeit ab
01.11.2006 eine Weiterbewilligung an. Sollte diese verweigert werden, sei naheliegend, dass auch diese Entscheidung
unter Berufung auf den Beschluss des SG wieder in ein Eilverfahren münde, da mit einer Entscheidung in der
Hauptsache bis dahin nicht zu rechnen sei. Von daher habe sie ein großes Interesse an der Aufhebung des
Beschlusses des SG München vom 10.05.2006.
Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Der Beschluss vom 10.05.2006 gründe auf den zum Zeitpunkt seines
Erlasses bekannten Tatsachen. Eine endgültige Prüfung bleibe dem Hauptsacheverfahren vorbehalten (Beschluss
vom 07.06.2006).
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Verwaltungsunterlagen der Bf. und die Akten des Antrags- und
Beschwerdeverfahrens verwiesen.
II.
Die eingelegte Beschwerde ist zulässig, sachlich ist das Rechtsmittel aber nicht begründet.
Zu Recht hat das SG München mit Beschluss vom 10.05.2006 die Bf. im Wege der einstweiligen Anordnung
verpflichtet, an die Bg. zu 1) und 2) ab dem 01.05.2006, vorläufig bis 31.10.2006, jeweils Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts in Höhe von 2.004,71 EUR monatlich zu zahlen.
Die Bf. ist darauf hinzuweisen, dass sie offenbar verkennt, dass das SG nicht darüber entschieden hat, ob den Bg. zu
1) und 2) ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II zusteht, sondern nur darüber, ob die Voraussetzungen für
den Erlass einer einstweiligen Anordnung vorliegen. Es liegt allein im Verantwortungsbereich der Bf., über den
Widerspruch der Bg. zu entscheiden. Im Rahmen dieser Entscheidung wären weitere Ermittlungen durchzuführen.
Eine Veranlassung, derartige Ermittlungen im Rahmen eines Verfahrens auf die Gewährung einstweiligen
Rechtsschutzes durchzuführen, besteht nicht, da in diesem Verfahren lediglich eine summarische Prüfung
vorzunehmen ist. Im Übrigen schließt sich der Senat zum jetzigen Zeitpunkt der Entscheidung den Gründen des
angefochtenen Beschlusses an und sieht gemäß § 142 Abs.2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von einer weiteren
Darstellung der Gründe ab.
Somit war die Beschwerde gegen den Beschluss des SG München vom 10.05.2006 zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht weiter anfechtbar (§ 177 SGG).