Urteil des LSG Bayern vom 16.04.2002

LSG Bayern: blindheit, beweislast, wahrscheinlichkeit, beweisgrad, gewissheit, augenzittern, nystagmus, fehlbildung, gespräch, auflage

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 16.04.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 16 BL 13/97
Bayerisches Landessozialgericht L 15 BL 1/00
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 11.11.1999 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die am 1976 geborene Klägerin beantragte im Oktober 1994 beim Beklagten die Gewährung von
Zivilblindenpflegegeld.
Der Beklagte zog Berichte der Universitäts-Augenklinik E. vom 03.04.1992/03.06.1994 sowie einen Befundbericht des
Augenarztes Dr.S. vom 26.11.1994 bei und holte ein von dem Augenarzt Dr.H. am 04.10.1995 erstattetes
versorgungsärztliches Gutachten ein. Der Sachverständige äußerte Zweifel, ob die Voraussetzungen für die Annahme
von Blindheit vorlägen; die Versorgungsärztin Dr.L. hielt in ihrer Stellungnahme vom 24.11.1995 Blindheit nicht für
gegeben.
Mit Bescheid vom 30.11.1995 lehnte es der Beklagte daraufhin ab, der Klägerin Blindengeld zu gewähren.
Auf den Widerspruch der Klägerin zog der Beklagte weitere Berichte der Universitäts-Augenklinik E. vom 28.04.1993/
20.04.1994 bei und holte eine versorgungsärztliche Stellungnahme der Dr.L. vom 03.07.1996 ein, die zu einer weiteren
Abklärung der von der Klägerin angegebenen Gesichtsfeldeinengungen riet. In einer daraufhin vom Beklagten
veranlassten Stellungnahme äußerte Prof.Dr.K. (Leitender Oberarzt der Universitäts-Augenklinik E.) nach
entsprechender Untersuchung der Klägerin die Auffassung, die vom Beklagten vorgebrachten Zweifel am Vorliegen
der von der Klägerin angegebenen Gesichtsfeldeinschränkung seien nicht nachvollziehbar; die Gesichtsfeldeinengung
sei durchaus glaubwürdig, Blindheit sei anzunehmen. Dr.H. (versorgungsärztliche Stellungnahme vom 24.06.1997)
vertrat demgegenüber - nach Rücksprache mit Prof.Dr.K. , der die Klägerin selbst nicht untersucht habe - die
Auffassung, an der von der Klägerin angegebenen Verschlechterung des Visus und der Gesichtsfeldeinengung
bestünden weiter Zweifel. Mit Widerspruchsbescheid vom 11.07.1997 wies der Beklagte daraufhin den Widerspruch
der Klägerin zurück.
Dagegen hat die Klägerin beim Sozialgericht Nürnberg Klage erhoben und beantragt, den Beklagten zur Gewährung
von Zivilblindenpflegegeld bzw. Blindengeld zu verurteilen.
Das Sozialgericht hat von Amts wegen ein Gutachten von dem Augenarzt Dr.L. eingeholt. In seinem Gutachten vom
02.03.1998 hat der Sachverständige nach ambulanter Untersuchung der Klägerin die Auffassung vertreten, deren
Angaben zu Visus und Gesichtsfeld seien unglaubwürdig; die angegebene diesbezügliche Verschlechterung sei nicht
wahrscheinlich; es sei zweifelhaft, ob bei der Klägerin Blindheit im Sinne des einschlägigen Gesetzes vorläge.
Mit Urteil vom 11.11.1999 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen, weil das Vorliegen einer der Blindheit
gleichzuachtenden Sehstörung bei der Klägerin nicht mit dem erforderlichen Beweisgrad der "an Sicherheit
grenzenden Wahrscheinlichkeit" nachgewiesen sei.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin - im Wesentlichen unter Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens - Berufung
eingelegt. Sie hat ein Attest des Dr.S. vom 26.04.2001 sowie einen Bericht der Universitäts-Augenklinik E.
(Privatdozent Dr.S.) vom 04.12.2000 vorgelegt.
Der Senat hat neben der Klageakte des Sozialgerichts Nürnberg die die Klägerin betreffende Blindengeld-Akte sowie
die Behindertenakte des Beklagten beigezogen, eine Auskunft des Prof. Dr.K. vom 15.03.2001 eingeholt und den
Augenarzt Prof. Dr.K. (Augenklinik-I. der Universität M.) mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Der
Sachverständige ist im Gutachten vom 26.11.2001 nach entsprechender Untersuchung der Klägerin zu der
Auffassung gelangt, dass deren Angaben - insbesondere was die Gesichtsfeldeinschränkung beträfe - in Zweifel zu
ziehen seien, neben den angeborenen Defekten keine weitere morphologische Veränderung oder Erkrankung der
Augen feststellbar sei, welche die von der Klägerin geschilderte weitere Sehverschlechterung erklären könne, und
deshalb das Vorliegen von Blindheit nicht gesichert sei. Die Klägerin hat sich hierzu unter Vorlage eines Schreibens
des "Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbundes e.V." vom 25.03. 2002 geäußert.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Nürnberg vom 11.11.1999 und des Bescheides vom
30.11.1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.07.1997 zu verurteilen, ihr ab 01.10.1994
Zivilblindenpflegegeld und ab 01.04.1995 Blindengeld zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen, weil das angefochtene Urteil der Sach- und Rechtslage entspreche.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der Gerichtsakten und auf den Inhalt der zu
Beweiszwecken beigezogenen Akten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (Art.7 Abs.2 Bayerisches Blindengeldgesetz - BayBlindG -
i.V.m. §§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -); sie ist jedoch nicht begründet.
Wie der Beklagte und das Sozialgericht zutreffend entschieden haben, fehlt der Klägerin weder das Augenlicht
vollständig (Art.1 Abs.2 Satz 1 BayBlindG) noch kann sie im Sinne des Art.1 Abs.2 Satz 2 Nrn.1 oder 2 BayBlindG
als blind gelten. Denn es ist nicht mit der erforderlichen "an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" (Vollbeweis)
bewiesen, dass die Sehschärfe auf dem besseren Auge der Klägerin nicht mehr als 1/50 beträgt (Nr.1) oder bei ihr
neben der Visusminderung Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie einer
Beeinträchtigung der Sehschärfe von maximal 1/50 auf dem besseren Auge gleichzuachten sind (Nr.2).
Dies ergibt sich aus den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Dr.L. (Gutachten vom
02.03.1998) und Prof.Dr.K. (Gutachten vom 26.11.2001). Die Angaben der Klägerin, nach denen sowohl eine
Verschlechterung der Sehschärfe als auch eine Einengung des Gesichtsfeldes eingetreten seien, sind nach den
Ausführungen der beiden Sachverständigen in Anbetracht des Typs des angeborenen Augendefektes der Klägerin
(Aniridie = angeborenes Fehlen der Iris, Nystagmus = Augenzittern und Makuladysplasie = Fehlbildung der Stelle des
schärfsten Sehens), des Fehlens sonstiger morphologischer Augenveränderungen und verschiedener inkongruenter
Untersuchungsergebnisse nicht glaubhaft.
Hinzu kommt, dass Prof.Dr.K. auf Anfrage des Senats mitgeteilt hat, er habe seinerzeit (August 1996) die Klägerin
nicht selbst untersucht und es sei zutreffend, dass er nach Durchsicht aller in der Klinik vorliegenden Unterlagen in
einem fernmündlichen Gespräch mit Dr.H. dessen Zweifel an dem sicheren Vorliegen von Blindheit bei der Klägerin
geteilt habe.
Ein den Anspruch auf Zivilblindenpflegegeld bzw. Blindengeld begründender reduzierter Visus (maximal 1/50 auf dem
besseren Auge) oder eine entsprechend starke Gesichtsfeldeinengung (Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner
Richtung mehr als 5 Grad vom Zentrum entfernt) ist ebenso wenig mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit
bewiesen wie eine anspruchsbegründende Kombination von verschiedenen Störungen des Sehvermögens (vgl.
"Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertengesetz" 1996 und die dort unter Rdnr.23 aufgenommenen Richtlinien der Deutschen
Ophthalmologischen Gesellschaft). Dabei ist darauf hinzuweisen, dass im sozialgerichtlichen Verfahren jeder die
Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen. Lässt sich nach
Ausschöpfung der Ermittlungsmöglichkeiten eine bestimmte anspruchsbegründende Tatsache nicht mit dem
erforderlichen Beweisgrad feststellen, so geht dies zu Lasten des Beteiligten - hier somit der Klägerin -, der sich auf
diese Tatsache beruft (so genannte "objektive Beweislast"; vgl. Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz mit
Erläuterungen, 6. Auflage, Rdnr.19a zu § 103 mwN).
Das von der Klägerin vorgelegte Schreiben des "Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbundes e.V." vom
25.03.2002 konnte zu keiner anderen Beurteilung führen, da es angesichts der von beiden gerichtlichen
Sachverständigen geäußerten Zweifel am Vorliegen der von der Klägerin angegebenen anspruchsbegründenden
Sehstörungen den o.a. Grundsätzen zur Beweislast nicht Rechnung trägt. Für eine Einschaltung des in dem
vorgenannten Schreiben angesprochenen, beim Beklagten eingerichteten Ausschusses bestand keine Veranlassung.
Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird im Übrigen unter Verweisung auf die Gründe der
angefochtenen Entscheidung des Sozialgerichts Nürnberg, denen sich der Senat voll umfänglich anschließt,
abgesehen (§ 153 Abs.2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Zur Zulassung der Revision bestand kein Anlass, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs.2 Nrn.1 bis 2 SGG nicht
vorliegen.